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Wie die Schweiz die WTO austrickst

Ruedi Widmer

Die Schweiz verdient mehr als jeden zweiten Franken im Ausland. Deshalb setzt sie sich international für den Abbau von Handelsschranken ein. Ihre eigene Landwirtschaft schützt sie aber mit Zöllen und Subventionen in Rekordhöhe. Die Anforderungen der Freihandelsorganisation WTO setzt sie so geschickt um, dass ihr noch nie eine Klage angehängt wurde. Auch für ihre neue "Schlaumeierei" hat sie nicht viel zu befürchten.

Der Schweizer Staat unterstützt seine Landwirtschaft so stark wie kaum ein anderes Land. Deswegen gibt es ab und zu Kritik von der Welthandelsorganisation WTO. Jüngstes Beispiel ist das sogenannte Schoggigesetz (Bundesgesetz über die Ein- und Ausfuhr von Erzeugnissen aus LandwirtschaftsproduktenExterner Link). Weil das WTO-Agrarabkommen künftig alle Arten von Exportförderung verbietet, muss die Schweiz dieses Gesetz, das Subventionen für die exportierende Nahrungsmittelindustrie regelt, revidieren. Gestützt darauf zahlte der Bund bisher Beiträge von fast 100 Millionen Franken pro Jahr, um den Schweizer Nahrungsmittel-Exporteuren die Differenz zwischen Schweizer- und Weltmarktpreisen für Milch und Getreide auszugleichen.

Offiziell zeigt die Landesregierung guten Willen, die neuen WTO-Regeln umzusetzen und die Exportbeiträge gemäss SchoggigesetzExterner Link [Schweizer Deutsch für Schokolade-Gesetz] aufzuheben. Aber wenn diese Staatsbeiträge ausfallen, besteht die Gefahr, dass die Nahrungsmittel-Exporteure ins Ausland abwandern. Um dies zu verhindern, hat Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann, der sich sonst immer für Freihandel ins Zeug legt, bereits eine Ersatzlösung zur Hand.

Mit dieser Lösung versucht die Landesregierung gleichzeitig verschiedene Bedürfnisse abzudecken: das Agrarabkommen der WTO nicht zu verletzen, aber trotzdem die eigene Landwirtschaft und die Nahrungsmittel-Exporteure zu stützen: Den Exporteuren kommt die Regierung entgegen, indem sie die Einfuhr zollfreier Milch und Getreide für die Nahrungsmittelproduktion erleichtert. Und die Subventionen von 100 Millionen Franken, die bisher den Exporteuren bezahlt wurden, sollen in etwas kleinerem Umfang (knapp 70 Millionen) die hiesigen Bauern erhalten in Form einer Zulage von rund 3 Rappen pro Kilo Milch und Brotgetreide. Aber damit die Exporteure die Rohstoffe trotzdem weiterhin zu wettbewerbsfähigen Preisen auch von den Bauern im Inland beziehen können, sollen die betroffenen Branchen auf «privater Basis» selber regeln, wie sie die Differenz zwischen Inland- und Weltmarktpreisen finanzieren wollen.

WTO-konform oder WTO-widrig?

Markus Ritter, Präsident des Schweizer Bauernverbands, Nationalrat CVP und Bio-Bauer, fordert zwar für die Produzenten statt nur 70 Millionen den bisherigen Budgetrahmen von fast 100 Millionen Franken, begrüsst aber die Ersatzlösung grundsätzlich.

Kritiker sagen hingegen, dass die alten Subventionen einfach unter neuem Namen durch andere Kanäle fliessen würden: Eine «Schweizer Schlaumeierei», sei das, schreibt die Neue Zürcher Zeitung (NZZ). Zum gleichen Schluss kommt Christian Häberli, Forscher am World Trade Institute der Universität Bern. Laut dem nebenamtlichen Richter für WTO-Schiedsverfahren ist auch die Ersatzlösung nicht WTO-konform.

Ruedi Widmer

Bauernpräsident Ritter widerspricht: «Ich weiss nicht, was dabei WTO-widrig sein soll. Professor Häberli hat die Lösung nicht verstanden.»

Uneinig sind sich die beiden in der Frage, wie privat die erwähnte Branchenregelung zur Stützung der Exporteure tatsächlich ist. Müssen die Bauern die 3 Subventionsrappen den Exporteuren abtreten, wie Branchenvertreter sagen?

«Die Branche wird bei den Bauern kein Geld einziehen. Um die Deckungslücken zu füllen, werden die Milchkäufer aus ihren eigenen Erträgen einen Fonds finanzieren, damit die Märkte für die Produkte weiterhin gesichert werden können», sagt Ritter und folgert:  «Es gibt keine staatlichen Exportsubventionen mehr und auch keine Allgemeinverbindlichkeit für eine privatwirtschaftliche Lösung.» Will heissen: Die Finanzierung innerhalb der Branche geschehe auf privater und freiwilliger Basis.

Die Branchenorganisation BO-MilchExterner Link, an dem Produzenten, Milchverarbeiter und Detaillisten beteiligt sind, hält auf ihrer Website allerdings fest, dass der Fonds «durch den Einzug der neuen Milchzulage finanziert werden soll, welche der Bund den Milchproduzenten auszahlen will».

Angesprochen auf den Widerspruch zu Ritters Aussage sagt Stefan Kohler von BO-Milch: Es gebe zwar keinen Automatismus zwischen Bundesbeitrag und Fondsfinanzierung. Aber angesichts des Milchüberangebots gehe er davon aus, dass die Branche eine Lösung aushandeln werde, bei welcher die Bauern durch einen Abzug am Milchgeld dafür aufkommen werden, aber maximal im Rahmen der neuen Bundeszulage von 3 bis 4 Rappen.

In der Theorie wird es den Bauern zwar freigestellt sein, ob sie die Bundessubventionen den Exporteuren weitergeben wollen oder nicht. Aber in der Praxis werden sie wohl keine realistische Alternative haben. Rund 80% der Milchbauern sind nämlich durch ihre Mitgliedschaft in den Milchproduzentenverbänden an die Abmachungen der Branche gebunden.

WTO-Richter Häberli kommt zum Schluss, dass auch die Ersatzlösung zum Schoggigesetz WTO-widrig sei, weil «das Agrarabkommen ab 2021 alle Arten von Exportförderung mit staatlicher Billigung verbietet – auch ohne Steuergelder.»

Weshalb niemand klagen wird

Ob die WTO die neue Lösung schluckt, wird sich zeigen. Die Schweiz habe aber wenig zu befürchten, sagt Häberli. Denn, «wo kein Kläger, da kein WTO-Richter».

Aber weshalb klagt niemand? «Manche klageberechtigten Länder können ihre Produkte trotzdem liefern, denn die Schweiz importiert fast die Hälfte ihres Konsums landwirtschaftlicher Produkte.» Auch sei der Aufwand zu gross, ein Klageverfahren gegen ein kleines Land anzustrengen.

«Somit kann weiterhin fröhlich Ausfuhrförderung à la ‹Schoggigesetz› betrieben werden», kommentiert Häberli und bringt ein weiteres Beispiel:

«Überschussverwertung etwa mit Butterausfuhren ist immer noch vorgesehen». Hauptproduzent von Butter ist die Milchverarbeitungsfirma Cremo im freiburgischen Villars-sur-Glâne. Ihren Überschuss versuchte die Firma schon früher im Ausland abzusetzen. Weil dies zu Schweizer Milchpreisen auf dem Weltmarkt nicht möglich wäre, wurde die Überschussbutter mit diesem Mechanismus verbilligt.

Die Leidtragenden dieser «Marktentlastung» sind laut Häberli neben den Schweizer Konsumentinnen und Steuerzahlern auch Milchbauern in Entwicklungsländern. «Weil die EU solche Dumpinggeschenke ablehnt, suchte die Schweiz Absatzmärkte in der Türkei und Ägypten.» Die Städter dort seien zwar froh, billige Butter zu bekommen, aber das Nachsehen hätten die dortigen Butterproduzenten, weil sie zu diesem Preis nicht konkurrenzfähig seien. «Das ist nur ein Beispiel für den virulenten Gegensatz zwischen Agrar- und Entwicklungspolitik der Schweiz», sagt der WTO-Richter.

Bauernpräsident Ritter widerspricht auch in diesem Punkt mit der gleichen Begründung: «Das finanziert bei uns ebenfalls die Branche. Wir Bauern haben in den letzten Jahren freiwillig Geld in einen Fond einbezahlt, damit Butter exportiert werden konnte. Es ist weltweit nicht verboten, etwas günstig abzugeben, wenn jemand bereit ist, dies auf privatwirtschaftlicher Basis zu finanzieren.»

Zwangsmitgliedschaft?

Scharf ins Gericht mit der Ersatzlösung zum Schoggigesetz geht Felix Schläpfer, Dozent an der Fachhochschule KalaidosExterner Link und Vorstandsmitglied von «Vision LandwirtschaftExterner Link«. Der Verein lässt an der Schweizer Agrarpolitik selten ein gutes Haar stehen. Die Aufhebung des Schoggigesetzes wäre laut Schläpfer eigentlich eine positive Entwicklung, denn «Amerikaner, Chinesen und Russen sollen für Schweizer Produkte so viel zahlen, wie diese kosten. Es ist nicht Aufgabe der Schweizer Steuerzahler, die ausländischen Konsumenten zu subventionieren.»

Erstaunt ist der Ökonom aber, dass die Landesregierung Hand biete zu einer Ersatzlösung, «die auf einen autoritären Korporatismus hinausläuft». Gemeint ist ein immer engeres Zusammenrücken des Staats und der Landwirtschaftsverbände, was für die Bauern de facto zu einer Zwangsmitgliedschaft führe. Weil die neuen Bundesbeiträge für die Bauern privat wieder eingesammelt werden sollen, um Exportprodukte und Milchüberschüsse weiterhin zu verbilligen, müsse «die Milchbranche die Bauern ja irgendwie zwingen, die drei Rappen pro Liter abzuliefern», konkretisiert Schläpfer seine Kritik.

Diese Lösung sei für die Schweiz schädlich – «für die Steuerzahler, für das Image der Schweizer Landwirtschaft und für die Umwelt».

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