AHV 21: Die Schweiz sagt hauchdünn Ja zur Rentenrefom
Nach über 20 Jahren beschliesst die Schweiz eine AHV-Reform, aber denkbar knapp, mit 50,6 Prozent Ja-Stimmen. Die unterlegene Linke spricht von einer "Ohrfeige für die Frauen".
Es war eine Zitterpartie, aber am Ende aber steht das Resultat: 50.6 Prozent der Stimmbevölkerung haben diesen Sonntag der Reform der AHV sowie 55,1 Prozent der damit verknüpften Erhöhung der Mehrwertsteuer zugestimmt.
Damit gelingt es der Schweiz zum ersten Mal seit über zwei Jahrzehnten, ihre Altersvorsorge der steigenden Lebenserwartung anzupassen. 2004 wie auch 2017 waren Reformpakete an der Wahlurne noch gescheitert.
Die Altersvorsorge galt bereits als Sinnbild für die Reformmüdigkeit der Schweiz – ein Nebenprodukt des direktdemokratischen Systems. Gegen ihren Widerstand sei keine Reform der Sozialwerke möglich, waren die linken Parteien überzeugt.
In der ersten Säule der Schweizer Altersvorsorge kommt es zu folgenden Änderungen:
- Das Rentenalter der Frauen wird von 2025 bis 2028 schrittweise von 64 auf 65 Jahre angehoben und damit jenem der Männer angeglichen.
- Die Übergangsgeneration wird entschädigt: Frauen mit Jahrgängen von 1961 bis 1969 bekommen Kompensationsleistungen.
- Das Rentenalter wird weiter flexibilisiert. Zwischen 63 und 70 ist nicht nur ein Bezug, sondern auch ein Teilbezug- oder Teilaufschub der Rente möglich. Nach 65 bezahlte Beiträge werden neu angerechnet, wobei die Rente bis auf die Maximalrente aufgestockt werden kann – ein Anreiz, über das Pensionsalter hinaus zu arbeiten
- Die Mehrwertsteuer steigt per 2024 um 0,4 Prozentpunkte von 7,7 auf 8,1 Prozent. Der reduzierte Satz für lebensnotwendige Güter und der Satz für die Hotellerie steigen je um 0,1 Prozentpunkte auf 2,5 respektive 3,8 Prozent. Das bringt der AHV laut Bundesamt für Sozialversicherungen bis 2032 zusätzliche 12,4 Milliarden Franken ein. Bisher ist ein Prozentpunkt der Mehrwertsteuer für die AHV-Finanzierung reserviert.
Nun ist es doch anders gekommen. Allerdings haben die Gegner:innen der Vorlage in den letzten Wochen ständig Boden gut gemacht. Von den grossen Parteien lehnten nur Grüne und SP die Reform ab. Dass sie fast die Hälfte der Stimmbürger:innen überzeugen konnten, dokumentiert, dass die emotionale Kampagne vergangen hat.
Im Abstimmungskampf war die Angleichung des Frauenrentenalters der umstrittenste Punkt, obschon diese in den meisten OECD-Ländern lange eine Tatsache ist.
>> Die Reaktionen auf das knappe Resultat:
Die Gewerkschafen und linken Parteien, die das Referendum ergriffen hatten, argumentierten, die Altersreform werde auf dem Buckel der Frauen ausgetragen, deren Gesamtrentenbezüge (inklusive Pensionskasse und gebundener privater Vorsorge) über 30 Prozent tiefer ausfielen als die der Männer.
Bürgerliche Kreise argumentierten, diese Zahlen seien irreführend, weil sie ausblendeten, dass Ehepaare – auch rechtlich – als wirtschaftliche Gemeinschaft funktionierten. Betrachte man die AHV isoliert, seien die Männer benachteiligt, da ihre Lebenserwartung und damit die durchschnittliche Bezugsdauer geringer ausfalle.
>> Lesen Sie hier unser Interview zum Abstimmungskrimi mit Gfs.bern-Politologin Cloé Jans:
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«Es war ein pragmatisches Ja zur AHV-Vorlage»
Es geht um 18,5 Milliarden Franken
Die befürwortenden Parteien wie auch der Bundesrat hatten in der Debatte um die Reform die finanzielle Dringlichkeit hervorgehoben. Die Lebenserwartung in der Schweiz steigt seit Jahren an, viele geburtenintensive Jahrgänge erreichen das Pensionsalter, was die als Umlagekasse konstruierte AHV, bei der die arbeitende Generation jene im Ruhestand direkt finanziert, stark belastet.
Laut Prognosen des Bundes würde das Jahresergebnis der AHV ohne Reform ab 2025 negativ ausfallen, während zur Aufrechterhaltung stabiler Reserven wegen der steigenden Gesamtausgaben eigentlich sogar Überschüsse nötig wären. Bis 2032 entstünde demnach ohne die Reformmassnahmen eine Finanzierungslücke von geschätzten 18,5 Milliarden Franken.
Eine Finanzspritze gab es schon
Zuletzt wurde die Finanzierung der AHV im Jahr 2019 verbessert, damals war die Vorlage mit der Unternehmenssteuerreform verknüpft: Die sogenannte STAF, Steuerreform und AHV-Finanzierung, bediente linke und rechte Anliegen und erwies sich – obschon als «Kuhhandel» kritisiert – als mehrheitsfähig. Mit der Vorlage war es gelungen, die AHV nach einer seit 2014 andauernden Defizitphase vorübergehend zu stabilisieren.
Man müsse davon ausgehen, dass die Frauen tendenziell ja und die Männer nein gesagt hätten, kommentierte Balthasar Glättli, Nationalrat der Grünen, den Ausgang der AHV-Abstimmungen in einer Diskussionsrunde im Schweizer Fernsehen SRF. Das Abstimmungsresultat sei damit also eine «Ohrfeige der Männer an die Frauen im Elektorat».
SP-Nationalrätin Barbara Gysi, auch sie eine Gegnerin, sprach in derselben Runde von einer «bitteren Niederlage», vor allem für Frauen mit kleinen Löhnen, die nicht frei entscheiden könnten, wann sie in Rente gehen. Aus dem knappen Resultat folgerte sie, dass eine generelle Erhöhung des Rentenalters in der Schweiz keine Chance hätte.
Andri Silberschmidt von er liberalen FDP gehört zu jenen, die sich schon jetzt für eine ebensolche Erhöhung des Referenzalters einsetzen. Aber nicht für alle Berufsgruppen, wie er in der Runde klar machte. Er wolle sich für eine Lösung einsetzen, die für körperlich sehr anstrengende Berufe frühere Pensionsalter vorsehe. Den Abstimmungssonntag nannte er «einen guten Tag für die Jungen». Die AHV-Finanzierung sei für zehn Jahre gesichert.
Kathrin Bärtschy von den Grünliberalen sagte: «Mir fällt auf, dass, wenn man sich Reformen so teuer erkaufen muss, wir eine Reformblockade haben». Auch sie stehe einer Erhöhung des Rentenalters offen gegenüber, aber nur, wenn sie Akademiker:innen betreffe, die spät ins Berufsleben einträten.
Die Debatte um faire Renten müsse nun im Kontext der Revision der beruflichen Vorsorge geführt werden, die im Parlament hängig ist, darin waren sich alle in der Runde einig. Frauen sind in der Schweiz häufiger Teilzeit und häufiger in Tieflohnberufen tätig – ausserdem gibt es noch immer Lohndiskriminierung, also ungleiche Bezahlung gleicher Tätigkeiten nach Geschlecht.
Glättli sagte, man müsse auf allen Ebenen ansetzen, bei der Ausgestaltung der Kinderbetreuung, den Löhnen, der Rollenteilung daheim. «Man muss es attraktiver machen für Frauen, zu arbeiten.» Gysi betonte insbesondere die Bedeutung besserer Frauenlöhne, Bärtschi die heutige Kleiner Einkommen durch den sogenannten Koordinationsabzug, dieser solle – hier gebe es ein Einvernehmen der Parteien – proportional ausgestaltet werden.
Wie weit der Konsens im Parlament reicht, darüber stritten die beiden Lager. Glättli sagte: «Der Ständerat hat die Vorlage noch einmal in die Kommission geschickt, das zeigt doch, dass man nicht in der Lage ist, ein tragfähiges System zu finden.»
Auch die Tonalität unterschied sich. Während Glättli mit der strukturellen Benachteiligung von Frauen auch gesellschaftliche Muster mitmeinte, redete Silberschmidt davon, dass es keine «strukturelle Benachteiligung im Gesetz» geben dürfe und warb für das Anliegen der Individualbesteuerung.
Mit der AHV 21 Reform soll die finanzielle Gesundheit der ersten Säule nun bis 2032 gewährleistet sein. Reformbedarf besteht aber weiterhin in der zweiten Säule. War die einlagefinanzierte Berufliche Vorsorge 2017 noch Teil des gescheiterten Altersreformpaketes, soll auch über ihre Reform nun separat entschieden werden. Im Parlament ist die Ausgestaltung wiederum heftig umstritten.
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