«Es war ein pragmatisches Ja zur AHV-Vorlage»
Nach zwei Niederlagen an der Urne haben die Schweizer:innen diesen Sonntag der Erhöhung des Rentenalters für Frauen zugestimmt. Das Ergebnis ist jedoch knapper ausgefallen als vorhergesagt. Gfs.bern-Politologin Cloé Jans über eine Abstimmung, die eine Kluft zwischen Frauen und Männern offenbart.
Die Spannung hielt bis zum späten Nachmittag an. Schliesslich aber haben die Schweizer:innen die Rentenreform AHV 21 mit 50,6 % der Stimmen angenommen. Frauen werden also ab 2024 wie Männer bis 65 Jahre arbeiten. Ebenfalls angenommen wurde die mit der Vorlage verbundene Erhöhung der Mehrwertsteuer.
Nach jahrelangen Misserfolgen an der Urne hat die Schweiz nun doch noch eine Vorlage angenommen, die die Finanzierung der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), der ersten Säule des schweizerischen Vorsorgesystems, für zehn Jahre stabilisieren soll.
swissinfo.ch: Die Ergebnisse sind knapper herausgekommen als die Umfragen vorhergesagt hatten. Wie erklären Sie sich das?
Cloé Jans: Wir haben darauf hingewiesen, dass sich der Trend in Richtung Ja bewegt, und das ist den ganzen Sonntagnachmittag über korrekt geblieben. Der in unseren Umfragen abgebildete Meinungsumschwung hatte zudem bereits angedeutet, dass das Ergebnis knapp ausfallen könnte. Wie immer bei solchen Fragen ist die Mobilisierung der Wählerschaft das Element, das sich nur schwer präzise vorhersagen lässt. Letztendlich lag die Mobilisierung in den letzten 20 Tagen etwas über Durchschnitt, was das knappe Ergebnis erklärt.
Nach mehreren Niederlagen an der Urne hat die Stimmbevölkerung eine AHV-Reform angenommen. Welche Elemente haben dieses Mal den Ausschlag für ein Ja gegeben?
Letztendlich ist es ein pragmatisches Ja, das beim Urnengang herausgekommen ist. In den letzten Jahren sind alle Versuche, das System der Altersvorsorge in der Schweiz zu reformieren, gescheitert. Dennoch herrscht in der Bevölkerung ein breiter Konsens darüber, dass Handlungsbedarf besteht. Die Wähler:innen haben wahrscheinlich erkannt, dass es an der Zeit ist, Kompromisse einzugehen. Vielleicht hat das Volk auch für mehr Sicherheit in diesen besonders unsicheren Zeiten gestimmt.
Die Erhöhung der Mehrwertsteuer erhielt mehr Zustimmung als die Änderung des Bundesgesetzes über die AHV. Wie erklärt sich dieser Unterschied zwischen den beiden Vorlagen, die doch miteinander verbunden waren?
Die Feststellung ist in der Tat interessant. Die Menschen erkennen das Ausmass des Problems, mit dem das Rentensystem konfrontiert ist. Sie sind daher bereit, für die Zukunft der Altersvorsorge zu zahlen. Aus diesem Grund wurde die Erhöhung der Mehrwertsteuer deutlicher angenommen. Auf der anderen Seite ist ein grosser Teil der Bevölkerung der Meinung, dass dies nicht auf dem Rücken bestimmter Bevölkerungsgruppen, insbesondere der Frauen, passieren darf. Deshalb wurde das Reformprojekt selbst, das die Harmonisierung des Rentenalters vorsieht, weniger unterstützt.
Wir stellen auch in anderen Bereichen, insbesondere im Gesundheitssektor, fest, dass die Schweizer:innen gegenüber Kostensteigerungen offener sind als gegenüber Leistungskürzungen. Auch das würde den Unterschied zwischen den beiden Vorlagen erklären.
An diesem 25. September haben Frauen und Männer unterschiedlich abgestimmt. Bei der Abstimmung über AHV 21 könnte der Unterschied zwischen den Geschlechtern laut Umfragen der grösste sein, der je gemessen wurde. Welche Faktoren erklären diese Kluft?
Grosse Gräben zwischen Bevölkerungsgruppen und insbesondere den Geschlechtern sind selten, aber es gibt sie. In diesem Fall ist es eine Mischung aus verschiedenen Faktoren, die den Unterschied erklärt. Erstens sind Frauen eindeutig stärker von der Reform betroffen als Männer, da sie länger arbeiten müssen. Und zweitens hat sich die Kampagne natürlich auch sehr gezielt an Frauen gewandt und den Schwerpunkt auf das gelegt, was sie verlieren.
Wie so oft bei sozialpolitischen Themen ist auch diese Abstimmung stark vom Röstigraben geprägt: Das Nein zur AHV 21 war im Tessin und in der Romandie viel stärker. Wie deuten Sie diese regionalen Unterschiede?
Ja, wir haben in der Vergangenheit immer wieder festgestellt, dass die Westschweiz und das Tessin in der Sozialpolitik vorsichtiger sind. Die lateinischen Regionen sind weniger geneigt, einem Abbau zuzustimmen, das beobachten wir auch bei dieser Abstimmung. In der Deutschschweiz war die Kampagne nicht erfolgreich darin, die Argumente der Gewerkschaften zu vermitteln. In der Romandie war das völlig anders. Die Debatte war im französischsprachigen Teil des Landes auch viel emotionaler, weil die Sensibilität für diese Fragen dort grösser ist als in der Deutschschweiz.
Die Umfragen haben auch eine Kluft zwischen Personen mit einem komfortablen Einkommen und solchen mit einem bescheidenen Einkommen aufgezeigt.
Die Umfragen haben diesen Unterschied tatsächlich, gezeigt, auch wenn er in den Analysen nach den Abstimmungen noch bestätigt werden muss. Menschen mit niedrigeren Einkommen haben auch eine geringere finanzielle Sicherheit. Sie können sich vielleicht weniger auf andere finanzielle Unterstützung zur Finanzierung ihres Ruhestands verlassen, z. B. eine dritte Säule. Daher sind sie viel vorsichtiger, wenn es um Leistungskürzungen geht. Auch sind es häufig Frauen, die das niedrigste Einkommen haben und somit doppelt von der Vorlage betroffen sind.
>> Die Resultate der Abstimmungen im Detail:
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