«Als Franzose denkt man, man kommt aus dem besten Land der Welt»
Er hatte davon geträumt, an einer französischen Universität zu unterrichten, machte aber schliesslich Karriere in einem grossen Industrieunternehmen in der Region Basel. Grenzgänger wurde der 49-jährige Alain Chomik eher, weil es sich so ergab, nicht aus einem bewussten Entscheid heraus. In der Schweizer Arbeitswelt fühlt er sich heute wie ein Fisch im Wasser.
Im Verlauf eines Lebens gibt es Jahre, die mehr Bedeutung haben, als andere: Für Chomik, einen Liebhaber guter Weissweine aus dem Elsass, gehört 1997 zu den besonderen Jahrgängen. «Am 1. Oktober trat ich meine erste Stelle in der Schweiz an, am 11. November wurde meine älteste Tochter geboren», erinnert sich der 49 Jahre alte Franzose, der verheiratet und Vater von zwei Kindern ist.
Wer sind Grenzgänger in der Schweiz?
swissinfo.ch trifft Leute, die tagtäglich die Grenze überqueren, um in verschiedenen Teilen der Schweiz zu arbeiten. Innert 15 Jahren hat sich die Zahl der Grenzgänger von 160’000 auf über 320’000 verdoppelt. Wir widmen ihnen eine Reihe von Porträts, um ihre Motivation, die Herausforderungen und ihre Beziehung zur Schweiz besser verstehen zu können.
Zwei Ereignisse, die auf den ersten Blick keinen unmittelbaren Zusammenhang haben, in Wirklichkeit aber eng miteinander verbunden sind. Chomik, ein grosser, schüchterner Mann aus dem Oberelsass, einer Region, wo er immer gelebt hat, war 29 Jahre alt, als er im Sommer 1997 seine Doktorarbeit an der Universität Mulhouse-Colmar abschloss.
Der Experte für 3D-BildverarbeitungExterner Link merkte bald, dass es für ihn sehr schwierig sein würde, einen Platz im französischen Hochschulsystem zu finden. «In Frankreich können nur 10% der Doktoranden damit rechnen, eine akademische Laufbahn zu machen. Dabei wäre ich gerne in die Forschung gegangen oder hätte gerne unterrichtet.»
Jeden Samstag die «Basler Zeitung»
Seine Frau, die das Paar damals mit ihrer Arbeit im Spital Mulhouse (Mülhausen) unterstützte, wurde schwanger. Chomik versuchte, eine Stelle zu finden. Die Ernüchterung liess nicht lange auf sich warten. «Es gab im Elsass keine Stellenangebote, die meinem Ausbildungsniveau entsprachen. Die Personalverantwortlichen wollten nur einen Teil meiner Diplome anerkennen, oder mich ans andere Ende Frankreichs schicken.»
Dann sagte ihm ein ehemaliger Armeekamerad, in einer Filiale des amerikanischen Paketdienstes UPS sei gerade eine Stelle für einen Informatikingenieur frei geworden. Nachteile: Es war eine Firma in Basel, auf der anderen Seite der Grenze, und die Hauptarbeitssprache war Deutsch. «Im Elsass wird Deutsch zwar an der Schule unterrichtet, aber ich konnte am Ende meiner Schulzeit nicht einmal drei Wörter korrekt auf die Reihe bringen.»
Chomik liess sich davon aber nicht entmutigen und stürzte sich ohne lange nachzudenken in das Abenteuer. «Mit meinem ersten Lohn habe ich mir einen Computer gekauft. Jeden Abend verbrachte ich dann zwei Stunden damit, mit Hilfe einer Sprachsoftware Deutsch zu büffeln.»
«In der Schweiz sucht man immer nach einer Lösung, die wenn möglich für alle angemessen ist. «
Es war zwar noch nicht sein Traumberuf, ermöglichte ihm aber, seinen Fuss in die Tür zu bekommen und Zugang zum Schweizer Arbeitsmarkt zu erhalten. Jeden Samstag kaufte Chomik im Kiosk in seinem Dorf die «Basler Zeitung» mit ihrer dicken Beilage mit Stellenangeboten. Und er lernte, einen Lebenslauf in der Sprache Goethes zu schreiben.
Das Glück liegt in Basel-Landschaft
Auf drei Bewerbungen erhielt Chomik zwei positive Antworten. Seine Wahl fiel schliesslich auf die IT-Forschungs- und Entwicklungsabteilung von Endress+Hauser Flowtec AGExterner Link. Das Unternehmen ist ein weltweit anerkannter Hersteller von industriellen Durchfluss-Messgeräten mit Sitz in Reinach, im Halbkanton Basel-Landschaft.
Zwanzig Jahr später bereut Alain Chomik die etwas unerwartete Wende nicht, die seine Laufbahn nahm. «Von Anfang an habe ich verstanden, dass man in der Schweiz viel Wert auf Humankapital legt. Man wird dazu ermuntert, Ideen zu entwickeln, Lösungen vorzuschlagen und sogar Patente anzumelden. In Frankreich beneiden mich all meine Freunde um die Freiheit, die mir in meinem Unternehmen gewährt wird.»
Was den Familienvater aus dem Elsass besonders reizt, ist der Pragmatismus und das präzise Gespür für einen Konsens helvetischer Ausprägung. «Als ich in der Schweiz landete, dachte ich, dass ich aus dem besten Land der Welt komme. Aber ich habe meine Meinung rasch geändert. Hier sucht man immer nach einer Lösung, die wenn möglich für alle angemessen ist. Es ist das Gegenteil von jeder für sich und den Machtverhältnissen nach französischer Art.»
Flexible Arbeitszeiten
Auf die Frage, ob sein Grenzgängerstatus nicht auch negative Seiten habe, zerbricht Chomik sich eine Weile den Kopf, findet aber nichts. Ausser dem Arbeitsweg. Je nach Verkehrslage braucht er zwischen 35 Minuten und einer Stunde, um aus seinem Wohnort Pulversheim in der Agglomeration Mulhouse nach Reinach zu fahren. «Da ich flexible Arbeitszeiten habe, ist das für mich jedoch nicht wirklich ein Problem.»
Trotz der Sprachbarriere, die auch 20 Jahre nach seiner Ankunft in der Schweiz noch nicht ganz verschwunden ist, fühlt Chomik sich an seinem Arbeitsplatz perfekt integriert. «Auf sozialen Netzwerken habe ich Fremdenfeindlichkeit gegen Grenzgänger zwar schon wahrgenommen, persönlich bin ich aber noch nie ein Opfer davon geworden.»
Im Gegenteil, unser Gesprächspartner schätzt den Respekt der Schweizer vor regionalen Besonderheiten und unterschiedlichen Akzenten. «Kulturell fühle ich mich den Baslern näher als den Parisern», fügt er hinzu.
Mangelnde Achtung
Dennoch fühlt der Elsässer Ingenieur etwas Bitterkeit, aber eher gegenüber einigen seiner Landsleute. «In meinem Dorf werden die Grenzgänger wegen ihrer Saläre beneidet. Auch meine Frau kriegt manchmal an ihrem Arbeitsplatz unangenehme Bemerkungen zu hören.»
Chomik bedauert auch die mangelnde Achtung der französischen Behörden für die Grenzgängerinnen und Grenzgänger. «Die Regierung behandelt uns im besten Fall wie Reiche, im schlimmsten Fall wie Geldkühe.»
Ein Beispiel in dem Zusammenhang ist der aktuelle Rechtsstreit zwischen Tausenden von Elsässer Grenzgängern mit dem französischen Sozialversicherungssystem, dem vorgeworfen wird, ungerechtfertigt Millionen Euro für Prämien von Arbeitern und Arbeiterinnen eintreiben zu wollen, die bei einer Krankenkasse in der Schweiz versichert sind – und gemäss einem Abkommen zwischen Bern und Paris befreit sein sollten von der Zwangsmitgliedschaft im französischen Krankenversicherungs-System.
«Der Pianist»
Einmal pro Woche geht Chomik in der Mittagspause mit Kollegen entlang der Birs joggen. Wenn sich der Ingenieur aber unter den rund 1000 Angestellten am Basler Sitz von Endress+Hauser Flowtec einen Namen machte, ist es viel mehr für sein musikalisches Talent als für seine sportlichen Fähigkeiten. Allein oder mit einer Gruppe spielt er auf dem Keyboard seines elektrischen Klaviers mit viel Talent Klassiker aus der Pop-Rock- und der Schlager-Szene.
Zur Jahresabschlussfeier des Unternehmens, die in einem grossen Saal der Stadt Basel stattfindet, gibt Chomik, der auf seinem YouTube-KanalExterner Link mehr als 3500 Abonnenten hat, jeweils ein Konzert, das zu einem unverzichtbaren Bestandteil des Abends geworden ist. «In der Caféteria oder in den Gängen nennen sie mich den ‹Pianisten'», erklärt Chomik mit einem Lächeln – und einer Mischung aus Verlegenheit und Stolz in der Stimme.
Wenn Deutsche die Elsässer ablösen
Offiziell arbeiten in Basel gegen 18’500 Grenzgänger, die in Frankreich leben. Die Zahl hat sich im Lauf der letzten 15 Jahre kaum verändert. Gleichzeitig wuchs die Zahl der Grenzgänger, die in Deutschland leben, um 65%.
«Viele Junge sprechen den Elsässer Dialekt nicht mehr und finden es daher schwierig, sich in die deutschsprachige Arbeitswelt zu integrieren. So werden zum Beispiel im Verkauf und im Gastgewerbe Franzosen mehr und mehr durch Ausländer der zweiten und dritten Generation verdrängt, die in der Schweiz leben», erklärt CDTF-Präsident Johaneck.
Zum Teil geht dies auch auf Veränderungen auf dem Basler Arbeitsmarkt zurück. Der Untergang ganzer Industriezweige (Metallurgie, Druckindustrie etc.) führte dazu, dass viele französische Grenzgänger auf die Strasse gesetzt wurden. Umgekehrt kam der rasante Aufschwung der Pharma- und Chemieindustrie vor allem den äusserst mobilen deutschen Führungskräften zu Gute, und ihren Mitarbeitern, die sie natürlicherweise oft in ihrem Heimatland rekrutierten.
Dennoch werden die Elsässer Grenzgänger in der reichen Rheinstadt nach wie vor sehr geschätzt. Das gilt vor allem für jene Sektoren der Bauindustrie (wie Gipser, Elektriker oder Heizungsmonteure), in denen es an einheimischen Arbeitskräften fehlt.
All dies spielt sich in einem Klima friedlichen Zusammenlebens ab, das im Gegensatz zu den Spannungen steht, die manchmal in der Region Genf oder im Tessin zu beobachten sind.
«Die Basler Politiker waren intelligent und nutzten die Grenzgänger nicht als Sündenböcke. Sie haben verstanden, dass dies ideale Arbeitskräfte sind: Man muss keine neuen Wohnungen bauen für sie, sie verursachen keine Sozialkosten, und man kann sie auf die Strasse stellen, wenn die Konjunktur schwächer wird, ohne dass die Arbeitslosenstatistik der Schweiz in die Höhe getrieben wird», sagt CDTF-Präsident Johaneck.
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
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