Als der Weltfrieden in Lausanne ausgehandelt wurde
Vor genau hundert Jahren fand der Erste Weltkrieg am Genfersee sein Ende. Am 24. Juli 1923 unterzeichneten die Vertreter der alliierten Mächte und der Türkei den Vertrag von Lausanne, der den Frieden mit dem ehemaligen Osmanischen Reich regelte. Warum ein solch wichtiges Ereignis ausgerechnet in Lausanne stattfand, beantwortet Laurent Golay, Direktor des Historischen Museums von Lausanne.
Obwohl der Vertrag von Lausanne heute weit weniger bekannt ist als der berühmte Vertrag von Versailles, war er doch ein bedeutendes diplomatisches Ereignis – das erste seiner Art, das je in der Schweiz stattgefunden hat. Acht Monate lang waren Diplomaten und Journalisten aus aller Welt am Genfersee versammelt.
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Im Rahmen seiner Ausstellung «Frontières. Der Vertrag von Lausanne, 1923-2023Externer Link«, die bis zum 8. Oktober zu sehen ist, geht das Historische Museum von Lausanne auf dieses Ereignis ein, das den Alltag der beschaulichen Kleinstadt, die damals etwa 70’000 Seelen zählte, auf den Kopf stellte, wie Museumsdirektor Laurent Golay herausstreicht.
swissinfo.ch: Wie ist es zu erklären, dass ein so wichtiges Ereignis in Lausanne stattgefunden hat?
Laurent Golay: Es gab politische Gründe, wobei die Schweizer Neutralität natürlich ein entscheidender Faktor war. Die Türken hätten es gerne gesehen, wenn die Friedenskonferenz auf ihrem Boden stattgefunden hätte, was die Alliierten natürlich ablehnten.
In der Region Lausanne lebten ausserdem einige türkische Emigranten, die gegen den Sultan opponierten. Sie hatten in den 1910er-Jahren sogenannte «türkische Foyers» gegründet, die den Brückenkopf für die nationalistische Propaganda der Jungtürken in Europa bildeten. Eine Reihe der Leiter dieser türkischen Heime wurden später zu Ministern der neuen türkischen Republik.
In materieller Hinsicht verfügte Lausanne über eine grosse Hotelkapazität mit neueren Luxushotels. Die Stadt war seit der Eröffnung des Simplontunnels im Jahr 1906 sehr gut an das internationale Eisenbahnnetz angeschlossen. Es war möglich, mit dem Orient-Express direkt nach Konstantinopel zu reisen. Auf dem Luftweg bot der Lausanner Flughafen La Blécherette tägliche Verbindungen nach London und Paris. All diese Infrastruktureinrichtungen gaben auch den Ausschlag für Lausanne.
Heutzutage würde ein solches diplomatisches Ereignis die Begehrlichkeiten vieler Städte wecken. Gab es damals Konkurrenz?
Nein, nicht wirklich. Es dauerte nicht lange, bis sich die Engländer, Franzosen, Italiener und in geringerem Masse auch die Griechen für Lausanne entschieden. Aber es standen ohnehin nur wenige Städte in den Startlöchern. Damals gab es noch nicht diesen Reflex, ein internationales Ereignis zu nutzen, um für eine Stadt zu werben.
War die Konferenz wirklich ein «aussergewöhnliches» Ereignis für Lausanne?
Ja, es gab eine sehr intensive Berichterstattung in den Medien, mit vielen Artikeln in der schweizerischen und ausländischen Presse. Die Bevölkerung verfolgte das Ganze sehr genau und es herrschte eine grosse Neugierde. Das sieht man auf zeitgenössischen Fotografien, auf denen sich Menschenmassen vor Hotels oder dem Schloss Ouchy, dem Tagungsort der Konferenz, versammelt haben, um die Grossen der Welt kommen zu sehen. Es war auch ein Volksanlass.
Kann man die Friedenskonferenz von Lausanne als das erste wichtige diplomatische Treffen für die Schweiz und so gesehen als den Beginn einer Tradition betrachten?
Es ist tatsächlich das erste grosse diplomatische Treffen, das auf Schweizer Boden stattfindet. Zuvor hatte es nicht viel gegeben, ausser 1912 den ersten Vertrag von Lausanne – auch Vertrag von Ouchy genannt –, der den Krieg zwischen dem Königreich Italien und dem Osmanischen Reich in Libyen beendete. Dies war jedoch ein viel kleineres Ereignis.
Man kann die Konferenz von Lausanne jedoch nicht wirklich als Ausgangspunkt für die Tradition der grossen diplomatischen Treffen in der Schweiz betrachten. Diese Tradition nahm erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Ernennung Genfs zum europäischen Sitz der Vereinten Nationen Gestalt an. Das ist eine andere Zeit und eine andere Tradition.
Dennoch hatte sich die Konferenz von Lausanne wahrscheinlich in die Erinnerung eingebrannt. Sie hatte bewiesen, dass die Schweiz in der Lage ist, ein grosses diplomatisches Ereignis auszurichten, zu organisieren und dessen Sicherheit zu gewährleisten.
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Weshalb ist das internationale Genf so wichtig für die Schweiz?
Wobei zum Thema Sicherheit zu erwähnen ist, dass auf der Konferenz in Lausanne immerhin ein sowjetischer Delegierter ermordet wurde!
Es stimmt, der Delegierte Vatzlav Vorowsky wurde in einem Hotel erschossen, und zwar von Moritz Conradi, einem Russlandschweizer, der nach der bolschewistischen Revolution aus dem Land geflohen war. Die sowjetische Delegation genoss jedoch keinen Polizeischutz.
Ich denke, man kann sagen, dass die Schweiz beim Schutz der sowjetischen Delegation keineswegs proaktiv war, da in der Schweiz zu jener Zeit eine ziemlich starke antibolschewistische Stimmung herrschte.
Der Prozess gegen den Attentäter entwickelte sich zu einem Prozess gegen den Bolschewismus und das Lausanner Polizeigericht sprach Conradi schliesslich frei, was zu einer langen Eiszeit in den diplomatischen Beziehungen zwischen der Schweiz und der UdSSR führte.
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