Als minimalistische Häuser in der Schweiz als «sowjetisch» galten
In den 1920er-Jahren bauten Architekten der Bewegung "Neues Bauen" günstige Kleinhäuser für die Arbeiterschicht. Diese Bauweise war in der Schweiz umstritten, sie galt als kommunistisch. Dabei haben sich manche ihrer Ideen heute durchgesetzt.
Nach dem Ersten Weltkrieg herrschte in der Schweiz Wohnungsnot. Die Architekten der Bewegung «Neues Bauen» wollten mit einer effizienten Bauweise billigen Wohnraum für die untere Gesellschaftsschicht schaffen.
Sie zeichneten Kleinsthäuser mit Flachdächern ohne Unterkellerung, um Material und Baukosten zu sparen (Bodenpreise hingegen spielten damals noch keine so grosse Rolle wie heute). Die Architekten «industrialisierten» den Bauprozess mit vorgefertigten Teilen und standardisierten Prototypen für den massenhaften Nachbau. Manche Häuser hatten nur auf einer Seite Fenster, was langfristig Heiz- und Reparaturkosten sparte.
1930 stellten die Architekten des Neuen Bauens ihre Ideen an der ersten Schweizerischen Wohnungsausstellung (WOBA) in Basel vor. Zur Ausstellung gehörte auch eine reale Siedlung.
«Die Siedlungen des Neuen Bauens waren als eine Art Freilichtausstellung gedacht», sagt Martino Stierli, Chefkurator für Architektur und Design am Museum of Modern Art (MoMA) in New York, der sich unter anderem auf Architektur- und Städtebaugeschichte spezialisiert hat. «Sie dienten gewissermassen als Marketinginstrument für die Ideen der Architekten.»
Ein Häuschen bot 45 m2 Wohnraum und hatte ein eigenes Gärtchen. Eine Familie, die am Existenzminimum lebte, konnte darin günstig, aber komfortabel wohnen. Die Häuschen verfügten über ein eigenes Bad und Küche. Damals keine Selbstverständlichkeit.
Als «Bau-Bolschewismus» verschrien
Doch diese neue Bauweise stiess in der Schweiz auf Widerstand. «Viele Protagonisten des Neuen Bauens verbanden utopische Gesellschaftsentwürfe und sozialpolitische Anliegen mit ihrer Architektur», erklärt Stierli. «Weil diese Ideen mit der politischen Linken assoziiert wurden, gab es Anfeindungen von rechts.»
Die Historikerin Rhea Rieben von der Universität Basel untersucht für ihre Doktorarbeit die Reaktionen in damaligen Zeitungsartikeln. «Von rechts wurde Neues Bauen mit dem Kommunismus in Verbindung gebracht. Man sagte, alles sehe gleich aus und biete keinen Raum für Individualität. Das öffne Kommunisten Tür und Tor», erklärt Rieben. «Auch die staatliche Förderung war den Bürgerlichen ein Dorn im Auge, weil sie fanden, dass dies den Wohnungsmarkt schwäche.»
In damaligen Zeitungen fielen Worte wie «marxistische Wohnkultur» und «Kommunistenzüchtereien». Tatsächlich seien manche Architekten des Neuen Bauens Sozialisten gewesen, die später in die Sowjetunion ausgewandert seien, erzählt Rieben. «Doch die Debatte war politisch aufgeladen und hatte mit der Architektur nur indirekt zu tun.»
Was bleibt vom Neuen Bauen?
Das Neue Bauen war keine Erfolgsgeschichte. Ende der 1930er-Jahre kam man von der Bauweise in dieser Form wieder ab. Die Mini-Reiheneinfamilienhäuser mit eigenem Garten verbrauchten pro Person mehr Platz als Mehrfamilienhäuser. Zudem war die Bauweise nicht so billig wie erhofft.
«Das Neue Bauen geriet keineswegs in Vergessenheit «, sagt Stierli. Zwar habe es in den 1930er-Jahren aufgrund der politischen Entwicklungen einen Bruch gegeben, und das Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg führte zu einem nie dagewesenen Bauboom. «Obschon das Existenzminimum nicht mehr im Zentrum stand, kann die Architektur der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart hinein als ein Siegeszug des Neuen Bauens verstanden werden, das sich hierzulande geradezu als Paradigma etablierte.»
Als Beispiel nennt Stierli den Genossenschaftsgedanke, der bezahlbaren Wohnraum für alle schaffen will. Aber auch andere Ansätze des Neuen Bauens sind heute Realität: Vorgefertigte Bauteile, System- und Modulbau und Fertighäuser sparen durch Effizienz Kosten. Auch die Idee, am Raum zu sparen, wurde mit der Tiny House-Bewegung gewissermassen neugeboren.
Und der Geist des Neuen Bauens lebt konkret weiter: Ein Verein in Basel will ein Haus der Siedlung originalgetreu renovieren – inklusive Möbel und Innenausstattung – und an Studierende vermieten sowie mittels Führungen der Öffentlichkeit zugänglich machen.
Auch andere Siedlungen des Neuen Bauens sind heute noch fast unverändert bewohnt, so die Neubühl-Siedlung oder die Bernoulli-Häuser in Zürich. Die Weissenhof-Siedlung in Stuttgart hingegen wurde teilweise im Krieg zerstört, abgerissen oder verfremdet; in einem verbleibenden Haus ist ein Museum einquartiert.
Nach dem Ersten Weltkrieg herrschte Rezession, Wohnungsnot und Obdachlosigkeit. Vor allem Deutschland war als Kriegsverliererin wegen der Reparationszahlungen stark angeschlagen, dazu kam die Inflation. Für Bauen war nicht viel Geld vorhanden.
Erst in den goldenen Zwanzigerjahren, zwischen 1924 und 1929, stabilisierte sich die Wirtschaft. Das war die Blütezeit der grossen Experimente des Neuen Bauens, vor allem im deutschsprachigen Raum.
1929 kam es zum Börsencrash. Die anschliessende Grosse Depression ermöglichte den Aufstieg der Nationalsozialisten. Diese stiessen zwar Investitionspakete an und förderten den Bau, doch würgten sie Architektur-Experimente ab. Die entsprechende politische Grosswetterlage wirkte sich auch auf die Schweiz aus.
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