Warum die Rentnerwelle die Robotisierung vorantreibt
Die Zeit, als sich in der Schweiz fast alle Männer mit 65 und Frauen mit 64 Jahren pensionieren liessen, ist vorbei. Einerseits arbeiten immer mehr Menschen "freiwillig" über das gesetzliche Rentenalter hinaus. Andererseits gehen immer mehr Arbeitnehmende schon vorher in Pension – trotz Fachkräftemangels. Letzteres fördert die Robotisierung, sagt ein Arbeitsmarkt-Experte.
In der Schweiz kommen die Geburtenstarken Jahrgänge (Babyboomer) ins Rentenalter. Solange sie im Arbeitsprozess bleiben, sorgen sie in manchen Betrieben für eine überalterte Belegschaft. Aber wenn sie in den kommenden Jahren zu Hundertausenden – und oft sogar vorzeitig – in Pension gehen, hinterlassen sie einen Fachkräftemangel. Laut Marco SalviExterner Link, Arbeitsmarktexperte beim Think-Tank Avenir Suisse, wird diese volkswirtschaftliche Herausforderung unterschätzt,
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«Wir müssen über neue Massnahmen zum Arbeitsmarktschutz nachdenken»
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Die Schweizer Ökonomie ist stark globalisiert. Ist auch die Schweizer Baubranche ein globaler Player?
swissinfo.ch: Eine renommierte Schweizer Zeitung schrieb kürzlich: ‹Die Firma […] hat ein Problem: Ihre Belegschaft ist überaltert!› Sind ältere Arbeitnehmende ein Problem für eine Firma?
Marco Salvi: Das würde ich nicht sagen, eher im Gegenteil: Sie sind produktiver….
swissinfo.ch: …aber…?
M.S.: …aber es gibt Studien, die zeigen, dass ältere Arbeitnehmende etwas weniger innovationsfreudig sind. Andererseits steigt das Alter der Start-up-Gründer: In den USA liegt es nun bei 45 Jahren. Die Frage bleibt also offen.
swissinfo.ch: Welche anderen Defizite haben ältere Arbeitskräfte sonst noch?
M.S.: Ich würde nicht von Defiziten sprechen. Wer während langer Zeit in der gleichen Firma tätig ist, hat einerseits den Vorteil der Spezialisierung – firmenspezifische Fähigkeiten, Kenntnisse und Erfahrungen. Auch deshalb wird diese Spezialisierung vom Arbeitsmarkt finanziell entschädigt.
Andererseits birgt dies das Risiko einer zu hohen Spezialisierung, nämlich dann, wenn diese spezifische Erfahrung nicht mehr so nachgefragt ist.
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swissinfo.ch: Salopper ausgedrückt: Alte Arbeitnehmende haben immer alles schon erlebt, wissen alles besser, sind betriebsblind und erst noch teurer. Also lohnt es sich für den Betrieb, diese Leute lieber früher als später loszuwerden.
M.S.: Die hohen Löhne sind nicht einfach ein Altersgeschenk, sondern spiegeln in der Regel die Folge einer höheren Produktivität. Unternehmen sorgen sich auch für ihre Reputation auf dem Arbeitsmarkt, weil sie gute Mitarbeiter langfristig an sich binden wollen. Auch deshalb kommt es selten vor, dass Unternehmen ältere Arbeitnehmende entlassen, um jüngere einzustellen. Aber es ist klar, dass auch junge Arbeitnehmende Stärken haben, meistens andere.
swissinfo.ch: Nämlich?
M.S.: Sie kommen mit neuerem Wissen, sind weniger spezialisiert und dadurch leichter formbar. Im IT-Bereich zum Beispiel ist die Abschreibungsrate des Wissens sehr hoch. Aus der Sicht eines älteren Arbeitnehmenden scheint es vielleicht manchmal nicht mehr lohnend zu sein, sich neues Wissen anzueignen.
swissinfo.ch: Fazit: Im Idealfall ist die Belegschaft gut durchmischt?
M.S.: Auf jeden Fall: eine Durchmischung nicht nur bezüglich des Geschlechts, sondern auch der Fähigkeiten und Erfahrungen, die sich ergänzen.
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swissinfo.ch: Angesichts der demografischen Entwicklung – die Babyboomer kommen ins Rentenalter – wird eine überalterte Belegschaft in den Betrieben künftig eher die Regel als die Ausnahme sein, oder nicht?
M.S.: In den kommenden Jahren werden mehrere 100’000 Personen in Pension gehen. Damit wird zwar die Altersdurchmischung zuerst etwas steigen, aber es wird nicht einfach sein, diese Arbeitnehmenden zu ersetzen. Das ist vor allem volkswirtschaftlich ein Problem – nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für die Sozialwerke. Diese Herausforderung wird immer noch unterschätzt.
swissinfo.ch: Was soll man dagegen tun?
M.S.: Die Unternehmen können reagieren, einige tun es auch, indem sie zum Beispiel digitalisieren und automatisieren. In Ländern wie Japan oder Deutschland, die eine ungünstige demografische Entwicklung haben, werden sehr viele Roboter eingesetzt, nicht zuletzt, weil das Angebot an Arbeitskräften knapper wird.
swissinfo.ch: Steht die Schweiz demografisch besser da als Japan oder Deutschland?
M.S.: Japan ist ein extremes Beispiel. Die Bevölkerung altert dort sehr rasch. Die Geburtenrate ist tief. Und es gibt kaum Zuwanderung. Das galt in geringerem Ausmass auch für Deutschland, wobei sich die Situation dort in den letzten Jahren geändert hat. Dass die Schweiz demografisch besser dasteht, liegt vor allem an der Zuwanderung. Es sind meistens junge Leute, die mobil sind. Sie gründen dann eine Familie und bekommen Kinder.
swissinfo.ch: Zurück zu den Alten: Ist es volkswirtschaftlich sinnvoll, die Arbeitnehmenden über das gesetzliche Pensionsalter hinaus an der Stange zu halten?
M.S.: Bestimmt. Avenir Suisse plädiert schon lange für eine Flexibilisierung des Pensionsalters und Anpassung an die steigende Lebenserwartung. Es sollte keine Obergrenze in Bezug auf das Pensionierungsalter geben. Wer länger arbeiten will, soll auch länger in die Sozialwerke einzahlen können. Es braucht jedoch eine Untergrenze sowie einen automatischen Anpassungsmechanismus an die steigende Lebenserwartung.
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swissinfo.ch: Es gibt einerseits zwar immer mehr ältere Arbeitnehmende, die bereit sind, über das gesetzliche Pensionsalter hinaus zu arbeiten, vielleicht für weniger Lohn. Setzen sie damit nicht die Jungen unter Druck?
M.S.: Ich glaube nicht. Es gibt keine negativen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt für die Jungen. Wer länger arbeitet, konsumiert mehr, was eine zusätzliche Nachfrage nach Arbeit auslöst. In ganz Europa kann man beobachten, dass mehr Leute nach dem gesetzlichen Pensionsalter weiterarbeiten wollen, vor allem Teilzeit.
swissinfo.ch: Andererseits hat fast die Hälfte der Arbeitenden schon vor dem gesetzlichen Rentenalter keine Lust mehr zu arbeiten. Wäre es nicht einfacher zu versuchen, diese Leute an der Stange zu halten, anstatt das gesetzliche Rentenalter zu erhöhen?
M.S.: Eine schrittweise Anhebung des Referenz-Rentenalters schliesst eine höhere Flexibilität nicht aus. Es darf aber keine Umverteilung zulasten derjenigen geben, die später in Rente gehen.
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Für Yvonne Gilli von der Grünen Partei der Schweiz sind die grössten Probleme im Zusammenhang mit der alternden Gesellschaft "ganz klar die Kosten". Ihrer Meinung nach braucht es eine Reform des Rentensystems. "Wir müssen dafür sorgen, dass ältere Menschen ein anständiges Einkommen haben."
Gleichzeitig müssten die hohen Krankheitskosten für ältere Leute vom Gesundheitssystem getragen werden, sagt Gilli, die sowohl Pflegefachfrau wie auch Medizin studiert hat und als Ärztin im Kanton St. Gallen arbeitet.
Aber das föderalistische System der Schweiz, das den Kantonen viele Kompetenzen gibt, "erschwert die Koordination der Renten sowie der Kosten und Investitionen im Gesundheitswesen", sagt sie.
Laut Gilli sollte das Rentensystem flexibler gestaltet werden. Man müsste zwischen Leuten, die manuell arbeiten und solchen, die im Büro sitzen, unterscheiden, meint sie. "Körperliche Arbeit ist hart, die Menschen altern schneller und verdienen weniger."
Der Arbeitsmarkt müsste bei der Bewertung und Anstellung älterer Angestellter auch flexibler sein, sagt sie. "Wenn es auf dem Arbeitsmarkt so weitergeht, wird es auch für gut ausgebildete Leute immer schwieriger zu arbeiten, denn Erfahrung wird zu wenig geschätzt."
Gilli ist der Meinung, dass die "Finanzierung nur mit Solidarität in der Gesellschaft gewährleistet werden kann, dabei sind unterschiedliche Leute und Gruppen gefordert".
Die Alterung der Gesellschaft betreffe alle in der Schweiz und erfordere Zugeständnisse und Kompromisse. "In 20 Jahren wird die Situation für uns alle anders sein, und wir müssen dies finanzieren", sagt Gilli. "Die Frage ist nur wie."
"Wo sehen Sie sich im Alter von 75?"
Yvonne Gilli: "Sicher nicht in einem Altersheim. Das ist wohl eine typische Antwort meiner Generation. Würde ich aber zum Beispiel an Demenz leiden, dann müsste ich in einer Institution betreut werden. In den meisten Fällen jedoch wird eine 75-jährige Frau selbständig zu Hause leben und diese Autonomie auch schätzen. Wahrscheinlich in einer gemischten Umgebung mit jungen, mittelalterlichen und betagten Leuten."
Und dennoch: "Meine Schwiegermutter ist über 90 und noch immer zu Hause. Das ist exakt das, was sich alle wünschen. So alt zu sein, ist jedoch nicht so toll. Man ist völlig alleine, alle Freunde sind gestorben, und die Kinder und Grosskinder sind mit ihrem eigenen Leben beschäftigt. Die Verluste, die man infolge eines sehr langen Lebens erfährt, sind dramatisch."
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