An der Realität Zyperns zerschellten die Schweizer Ideale
Vor sechzig Jahren erlangte Zypern seine Unabhängigkeit. Die Schweiz war an diesem Prozess massgeblich beteiligt – und spielte für den kleinen Inselstaat auch in den nächsten Jahrzehnten eine wichtige Rolle. Die Bilanz fällt jedoch nüchtern aus.
Am 16. August 1960 wurde Zypern unabhängig. Nach einem Jahrzehnt des bewaffneten Kampfes entliess Grossbritannien seine Kolonie am Mittelmeer in die Eigenständigkeit.
Als eines der ersten Länder anerkannte die Schweiz die Republik Zypern noch an ihrem Gründungstag. Diese frühe Anerkennung hatte einen spezifischen Hintergrund: Die Schweiz war bei der Staatswerdung der britischen Kronkolonie massgeblich beteiligt – gemeinsam mit Grossbritannien, Griechenland und der Türkei. Als einzige neutrale Partei in diesem komplexen Konflikt konnte sie glaubwürdig ihre «Guten Dienste» anbieten.
Im Grand Hotel Dolder über Zürich kamen die Ministerpräsidenten Griechenlands und der Türkei im Februar 1958 überein, den Bürgerkrieg in Zypern zu beenden – und ebneten damit den Weg in die Unabhängigkeit. Das Vertragswerk wurde danach in England unterschrieben und ging unter dem Namen «Zürcher und Londoner Abkommen» in die Geschichte ein. Es war die eigentliche Geburtsurkunde der Inselrepublik Zypern.
Aus der Schweizer Film Wochenschau von 1959: Ein Bericht über die Zyperngespräche, die im Grand Hotel Dolder in Zürich stattfanden. (Schweizerisches Bundesarchiv)
Der Schweizer Professor
Damit waren die schweizerischen Bemühungen jedoch nicht vorbei. Denn die eigentliche Bewährungsprobe stand noch bevor: Die Zyperngriechen verfolgten seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die Idee der «Enosis», der Vereinigung mit Griechenland, während die Zyperntürken sich für die «Taksim», die Teilung der Insel, aussprachen. Die zwei gegensätzlichen Strömungen sollten mit einer möglichst ausgleichenden Verfassung gebändigt werden. Eine Kommission begann bereits einen Monat nach den Gesprächen in Zürich mit der Ausarbeitung einer Verfassung, unter der Führung des Schweizers Marcel Bridel.
Marcel Bridel war Professor für Verfassungsrecht und für vergleichende Institutionenlehre an der Universität Lausanne und sollte die schweizerische Komponente in die Verhandlungen einbringen: Das künftige politische System Zyperns sollte eine föderale Struktur haben, mit Anleihen bei demjenigen der Schweiz. Der Romand wurde als neutraler juristischer Berater einberufen und scheute sich nicht, sich aktiv in die komplizierten Verhandlungen einzubringen. Das Ziel war, den politischen Kompromiss zwischen der Kolonialmacht, den beiden «Mutterländer» und den Zyprioten selbst in ein allgemein akzeptables Regelwerk unterzubringen.
Der Gründungsvertrag sah eine progressive Verfassung vor, die sich an der Europäischen Menschenrechtskonvention orientierte, die ein knappes Jahrzehnt zuvor verabschiedet worden war. Aufgrund der blutigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Volksgruppen wurde eine umfassende Grundrechtecharta formuliert, die auf Veranlassung von Bridel nicht nur politische und bürgerliche Rechte umfasste, sondern auch soziale – damit war die künftige Verfassung Zyperns fortschrittlicher, als es die diejenigen der meisten europäischer Länder waren. Zudem waren für die Minderheit der Zyperntürken weitreichende Mitbestimmungsrechte vorgesehen. Dieser Punkt barg viel Konfliktpotential, wie sich später zeigen sollte.
In der Schweiz jedenfalls nahm man die vermittelnde Rolle der Eidgenossenschaften mit Genugtuung auf. Die Neue Zürcher Zeitung schrieb am 23. April 1959: «Indem die Regierungen Athens und Ankaras einen schweizerischen Juristen gewählt haben, bezeugen sie ihren Respekt vor unseren Institutionen und geben gleichzeitig der Überzeugung Ausdruck, dass der künftige cypriotische Staat aus ihnen Nutzen ziehen kann.»
Unbekannt waren die Schweiz und ihre Institutionen in der Region nicht: So übernahm beispielsweise die Türkei bereits 1912 das schweizerische Zivilgesetzbuch praktisch eins zu eins. Und der Führer der Zyperntürken bei den Zürcher Gesprächen, Fazıl Küçük, kannte die Schweiz aus eigener Anschauung, hatte er doch in Lausanne Medizin studiert.
«Kein guter Klang»
Die von den Juristen vorgesehene Balance zwischen den Volksgruppen klang auf dem Papier zwar gut, hatte in der Realität aber geringe Überlebenschancen. Die Differenzen zwischen den Zyperngriechen und den Zyperntürken schienen unüberwindbar, und der stete Einfluss von ausserhalb hatte komplizierte politische Verflechtungen zur Folge. Der erste zyprische Präsident Makarios III. sprach denn auch wiederholt davon, dass die Verfassung den Zyprioten aufgezwungen worden war.
So liest sich aus einer diplomatischen Depesche von 1961Externer Link, dass auch innerhalb des Eidgenössischen Politischen Departements (dem Vorgänger des heutigen Aussendepartements) der Verfassungsentwurf letztlich nicht als gelungen galt: «Mag vereinzelt auch anerkannt werden, dass unser Landsmann ein ausgezeichneter Experte für Staatsrechtsfragen ist, so sind mit der Inkraftsetzung der cypriotischen Verfassung derzeit so viele Schwierigkeiten, nationale Ressentiments und enttäuschte Hoffnungen verbunden, dass es einer späteren Generation vorbehalten bleiben mag, der Arbeit Prof. Bridels gerecht zu werden.» Insofern habe das Wort «Zürich» auf der Insel «derzeit keinen guten Klang.»
Gerade einmal drei Jahre hatte die Verfassung in ihrer ursprünglichen Fassung Geltung. Als die Zyperngriechen 1963 eine Verfassungsreform durchbringen wollten, entluden sich die angestauten Spannungen zwischen den zwei Gemeinschaften und mündeten in einen neuerlichen Bürgerkrieg. Formalrechtlich wurde die Verfassung, die unter der Leitung von Bridel entstand, nie geändert. Seither ist die Verfassung jedoch faktisch dahingehend abgeändert, dass nur noch die Zyperngriechen teilnehmen. Und seit der Invasion durch die Türkei 1974 sind die beiden Gemeinschaften auch physisch grösstenteils getrennt.
Gescheiterte Anläufe
Die Schweiz sollte für Zypern später noch einmal als Vorbild gelten, kurz vor der Aufnahme des Landes in die EU: Der vom ehemaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan vorgelegte Plan sah eine Konföderation vor, die aus zwei weitgehend selbstständigen Teilstaaten – zwei «Kantonen» – bestehen sollte. Die Schweiz war auch hier wieder am Entwurf beteiligt, lud zudem im Bürgenstock zu Verhandlungen ein. Der Plan scheiterte jedoch 2004 an der Urne, da die Zyperngriechen ihn grösstenteils ablehnten.
Ihre traditionellen «Guten Dienste» bot die Schweiz auch später wieder an. Im Jahr 2017 wurde ein neuer Anlauf zur Wiedervereinigung genommen, die Parteien trafen sich in Mont-Pèlerin, in Genf und in Crans-Montana – jedoch wiederum ohne Erfolg.
60 Jahre nach ihrer Unabhängigkeit ist die Republik Zypern also noch immer nicht zur Ruhe gekommen. Dass es bereits beim Start nicht funktionierte, kann dem Schweizer Professor Bridel letztlich nicht vorgeworfen werden: Zu komplex war der Konflikt, zu viele Parteien mit gegensätzlichen Absichten mischten mit, zu bescheiden war auch seine Rolle letztlich. Die Pläne, politische Ideale aus der Schweiz ans Mittelmeer zu exportieren: Sie gingen in der stürmischen Realität um die geteilte Insel unter.
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