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«Nichts ist köstlicher als die Liebe»

Anna Reinhart in einer zeitgenössischen Radierung. zvg

Am 1. Januar 1519 tritt der neue Priester zum ersten Mal vor seine Gemeinde. Dicht an dicht sitzen die Gläubigen in den Bänken des Zürcher Grossmünsters, denn Huldrych Zwingli eilt der Ruf voraus, er sei ein begnadeter, wenn auch höchst eigenwilliger Prediger. Obwohl durch keine Quelle belegt, dürfen wir annehmen, dass auch Anna Reinhart seiner Predigt lauscht, denn sie wohnt in unmittelbarer Nähe der Kirche.

Anna, die Tochter des Rössli-Wirtes, galt in ihrer Jugend als «überaus schön Menschenkind». Das erklärt wohl, warum Hans Meyer von Knonau, immerhin ein Spross aus bestem Haus, sich hoffnungslos in sie verliebte und sie heiraten wollte. Der Vater tobte, drohte, ihn zu enterben, und schickte ihn schliesslich nach Konstanz. Vergebens. Kaum war Hans zurück, heiratete er die schöne Anna hinter dem Rücken des Vaters.

«Die Reinhartin hatte diesen ihren Ehegemahl und er sie wiederum lieb», wunderte sich ein zeitgenössischer Chronist, denn Liebesheiraten waren damals die Ausnahme. Nach drei Kindern und dreizehn Ehejahren starb Hans, wahrscheinlich an den Folgen einer Syphilis, die er als Söldner aus Italien mitgebracht hatte. Das war 1517, und Anna war gerade einmal dreiunddreissig Jahre alt.

Regula Bochsler
Regula Bochsler hat an der Universität Zürich Geschichte und Publizistik studiert. Von 2004 bis 2011 leitete sie die TV-Sendung Kulturplatz des Schweizer Fernsehens und realisierte diverse Ausstellungen. Bochsler verfasste auch diverse Publikationen, darunter: «The Rendering Eye. Urban America Revisited» (2013), «Ich folgte meinem Stern. Das kämpferische Leben der Margarethe Hardegger» (2004), «Leaving Reality Behind. etoy vs eToys.com & other battles to control cyberspace» (2002). zvg

Das nächste, was wir von der Witwe wissen, ist, dass sie ihren Sohn zu Zwingli in den Lateinunterricht schickt und sie den Priester pflegt, als er im Herbst 1519 an der Pest erkrankt. Das ist gefährlich, denn sie riskiert, sich selber anzustecken. Vielleicht tut sie es aus christlicher Nächstenliebe, doch die Vermutung liegt nahe, dass sich Anna in den neuen Nachbarn verguckt hat. Denn zwei Jahre später, am 21. Juli 1522, gibt sie ihm das Jawort.

Allerdings hält das Paar die Ehe geheim, denn noch dürfen Priester nicht heiraten. Zwar hat Zwingli kurz vorher die Priesterehe gefordert, weil damit den «Priestern, die Brunst leiden», die Sünde der Unzucht erspart werde. Doch das ist die Theorie. In der Praxis will er weder seine Position noch die Reformation durch eine Ehe gefährden, die für die meisten Zeitgenossen eine Ungeheuerlichkeit ist.

Ehe als Signal

Zürich ist zu klein für sein Geheimnis. Bald tauchen erste Gerüchte auf, es heisst, Zwingli sei ein «unsauberer Geselle». Sogar in Basel erzählt man, er habe «einem Biedermann sein Weib entführt». Als sich Annas Bauch unter der Schürze rundet, tritt das Paar gezwungenermassen die Flucht nach vorn an und lässt sich am 2. April 1524, in Anwesenheit von «manch ehrlich redlich Mann», im Grossmünster trauen.

Zwinglis Freunde sind begeistert, im Kampf gegen die Kirche ist diese Ehe ist ein starkes Signal. Der Strassburger Reformator Martin Bucer ist gar «beinahe ausser sich vor Freude». Die Bürger Zürichs wollen hingegen verhindern, dass die hochschwangere Braut ins Pfarrhaus zieht. Zwingli muss mit Hilfe eines obrigkeitlichen Entscheids erzwingen, dass Anna und seine Stiefkinder bei ihm einziehen können. Fünf Tage später kommt mit Regula das erste der vier gemeinsamen Kinder zur Welt. Die Verleumdungen hören damit nicht auf. Man wirft Zwingli vor, er habe die Witwe nur geheiratet, um sich zu bereichern. Sie besitze keinen Rappen mehr als «400 Gulden, ohne ihren Schmuck und Kleider», rechtfertigt sich dieser. Zudem habe sie seit der Heirat «weder Seidengewand noch Ringe» getragen, sondern kleide sich «wie andere Frauen von einfachen Handwerkern».

Ein verliebter Zwingli

Zwingli hat sich nie schriftlich zu seiner Ehe geäussert, doch man darf getrost annehmen, das seine Behauptung, nichts sei «köstlicher als die Liebe», auch für seine Liebe zu Anna gilt. Er ist sowohl den Stiefkindern wie den eigenen Kindern ein liebevoller Vater. Als ihm ein katholischer Würdenträger seine Freude an der Musik vorwirft, entrüstet er sich: «Was ich auf der Laute und Geige und andern Instrumenten gelernt habe, hilft mir jetzt, die Kinder zu geschweigen! Aber du bist für solche Torheiten zu heilig.»

Für Anna ist auch die zweite Ehe nicht nur Zuckerschlecken. Während er für die Reformation streitet, führt sie den pfarrherrlichen Haushalt mit den vielen Gästen, besucht Arme und Kranke und hört abends geduldig zu, wenn Zwingli ihr seine neusten Bibelübersetzungen vorliest. Als sie mit dem vierten Kind niederkommt, verhilft er gerade der Reformation in Bern zum Durchbruch. «Liebste Hausfrau», schreibt er nachhause, «ich danke Gott, dass er dir eine fröhliche Geburt ermöglicht hat». Und verlangt, sie solle so schnell als möglich seinen «Tolggenrock» nachschicken.

Ein trauriges Ende

Vor allem aber muss Anna damit zurechtkommen, dass ihr Mann angefeindet und bedroht wird. Nachts werfen seine Feinde die Scheiben des Pfarrhauses ein, sie versuchen, ihn zu entführen und schmieden gar Mordpläne. Zwingli versucht, sie so gut als möglich zu schonen und verschweigt ihr vieles. Ob das die Sache für sie einfacher macht, ist zweifelhaft. Als er ins 400 Kilometer entfernte Marburg aufbricht, um sich mit Martin Luther zu treffen, schwindelt er ihr vor, er «wolle gen Basel, da habe ich Geschäfte». Erst von dort aus schreibt er nach Zürich, der Schwager solle ihr reinen Wein einschenken, zumindest «so viel einem Weib zu sagen ist».

Luther’s Gespräch mit Zwingli über die Sakramentsfrage 1529. Radierung von Gustav König aus dem Jahr 1847. akg-images

Am 11. Oktober 1531 nimmt Zwingli wieder einmal Abschied. Die Urkantone haben dem reformatorischen Zürich den Krieg erklärt. Einem seiner besten Freunde hat er geschrieben, er werde tun, «was die Pflicht eines treuen Wächters ist». Noch am selben Tag wird er in der Schlacht bei Kappel gefangengenommen und getötet. Seine Leiche wird gevierteilt, verbrannt und die Asche in den Wind gestreut. Für Anna Reinhart ist es der schwärzeste Tag ihres Lebens. Zusammen mit dem Ehemann verliert sie ihren ältesten Sohn, ihren Bruder, einen Schwager und einen Schwiegersohn. «Meine herzallerliebste Frau, mir ist an eurem Kummer und Leid sehr gelegen […] wer wollte nicht Mitleid mit euch haben?», versucht ein Freund von Zwingli sie zu trösten. «Aber Gott sei Lob, der euch einen solchen Gemahl gegeben hat, der nach seinem Tod wegen seiner Ehrbarkeit geehrt ist und bleibt, dessen Name euern Kindern zu Nutzen sein wird.»

Schlacht zwischen Zürich und den fünf katholischen Ortschaften. Kupferstich von M. Merian d. Ä. (1593–1650). akg-images

Heinrich Bullinger, der Nachfolger Zwinglis am Grossmünster, nimmt die Witwe und ihre Kinder bei sich im Pfarrhaus auf. Anna Reinhart stirbt sieben Jahre später, an Weihnachten 1538, an der Pest.

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