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Annemarie und Lucius Burckhardt: Städte machen die, die sie benutzen 

Landschaft mit Menschen die Spazieren, in Kassel 1987
Spaziergangwissenschaftler:innen begehen Tahiti in Kassel, 1987. Martin Schmitz Verlag

Die Burckhardts erhoben den Spaziergang zu einer Wissenschaft. Dahinter steckt kein Jux, sondern die Forderung, dass Städte auch durch die geplant werden sollten, die sie benutzen.

1987 unternahmen Lucius und Annemarie Burckhardt anlässlich der Kunstausstellung documenta 8 mit einigen Studierenden eine Fahrt nach Tahiti. Doch sie kamen nie dort an. Denn sie durchschritten mit ihrer kleinen Reisegruppe bloss einen renaturierten, ehemaligen Truppenübungsplatz in Kassel. Während des Spaziergangs durch das Naturschutzgebiet wurden Texte über die erste Tahitifahrt von James Cook im Jahr 1773 vorgelesen und Schauspieler:innen beschrieben tahitianische Pflanzen und Stimmungen.

Tahiti in den Ohren, deutsche Bäume im Blick – was geschieht da mit der Wahrnehmung? Erscheint das Kasseler Naturschutzgebiet plötzlich exotisch und neu – oder wirken die Beschreibungen der Landschaften Tahitis plötzlich banal und bekannt? Was sie da machten, tauften Lucius und Annemarie Burckhardt Promenadologie – oder Spaziergangswissenschaft.

Lucius Burckhardt: Die Landschaftsfalle
Was wir eine schöne Landschaft nennen, hängt von gesellschaftlichen Konventionen ab. Kunstobjekt von Lucius Burckhardt «Landschaftsfalle», 1986. Martin Schmitz Verlag

Das klingt verspielt, fast schon etwas absurd, doch es ging ihnen ganz grundsätzlich um unseren Umgang mit Raum: Was wir Stadt oder Landschaft nennen, kann nie unmittelbar wahrgenommen werden. Innere, kulturelle Bilder bestimmen, was wir sehen.

Ein weitläufig bewandertes Paar 

Auch wenn Lucius Burckhardt mehr Aufmerksamkeit erhalten hat und die Publikationen seinen Autorennamen tragen: Sein Schaffen war immer eine gemeinsame Arbeit mit Annemarie Burckhardt, mit der er seit 1955 verheiratet war.

Die beiden bloss als Spaziergänger:innen zu beschreiben wäre verkürzt: Sie interessierten sich für Ökonomie, Soziologie, Stadtplanung und vieles mehr. Ab den späten 1940er-Jahren bis zu seinem Tod 2003 erschienen unter Burckhardts Namen hunderte Artikel, Glossen, Buchbeiträge, Referate über Stadtplanung, Design, Landschaftsgestaltung und Gartenkunst.

Die Burckhardts entstammen dem Basler Patriziat, der traditionsreichen städtischen Oberschicht, sie mussten sich zeitlebens keine materiellen Sorgen machen. Das erlaubte ihnen eine intellektuelle Weitläufigkeit. Sie tauschten sich mit einem weitverzweigten Netz europäischer Intellektueller und Künstler:innen aus, wie dem Design-Denker Horst Rittel, den Architekten Oswald Mathias Ungers, Giancarlo de Carlo und dem Architekturkritiker Ulrich Conrads.

Porträt Annemarie und Lucius Burckhardt
Annemarie und Lucius Burckhardt im Jahre 1993. Martin Schmitz Verlag/VG Bild-Kunst

Die Burckhardts waren selbst auch künstlerisch tätig. 1990 produzierte Annemarie Burckhardt beispielsweise einen falschen Katalog für die documenta IX. Er bestand aus einem Schaumstoffkissen mit Umschlag, er sollte den ermüdeten Besucher:innen der grossen Ausstellung bei der Rückfahrt als Kissen dienen.

Eine neue Stadt bauen – ein Skandal

Einer weiten Öffentlichkeit wird Lucius Burckhardt Mitte 1950er-Jahre bekannt, als er gemeinsam mit seinem Jugendfreund, dem Werber Markus Kutter, und Max Frisch das Provokationsbuch «achtung: Die Schweiz» veröffentlichte.

Der Aufruf an die Schweiz keine Landesausstellung durchzuführen, sondern den Bau einer neuen Stadt zu planen, löste heftige Diskussionen aus – aber nicht unbedingt in die Richtung, die Burckhardt erhofft hatte. Die bürgerliche Seite warf den Autoren in starrem Antikommunismus planwirtschaftliche Fantasien vor. Jegliche Planung erschien im Licht der geistigen Landesverteidigung als Angriff auf die hiesige Eigentumsordnung.

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Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Der Nonkonformismus, der Bruch mit der Etikette und dem kulturellen Mainstream, war eine der gesellschaftlichen Veränderungen nach 1945 und vor 1968.

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Ein Missverständnis: Denn Burckhardt, Kutter und Frisch wollten nicht tatsächlich eine neue Stadt bauen, sondern die Frage aufwerfen, ob sich die Schweiz nicht als urbane und moderne Nation verstehen soll, die die Zukunft gestaltet, statt sie abzuwehren.

Auch die Burckhardts glaubten nicht an Kopfgeburten am Reissbrett, an Lösungen, die «irgendwie möglichst einfach, möglichst in einem Objekt zu finden sein» müssten. Sie kritisierten monodimensionale Lösungen, die man einer Institution aufbürdete: Sie glaubten beispielsweise nicht, dass das Problem des Alterns mit einem isolierten Altersheim gelöst werden konnte, sondern dachten eher in breiteren Strukturen.

Die Burckhardts forderten, dass konkrete Stadterfahrung die Planung aus der Vogelperspektive ersetzen sollte. Ein reiner Expert:innenblick ging ihrer Meinung nach an der Lebensrealität der Stadtbewohner:innen vorbei.

Menschen; Spaziergang
Autospaziergang: Den Fussgänger:innen die Stadt durch die Augen von Autofahrer:innen näherbringen. Martin Schmitz Verlag

Wer nach dem Weg zum Hauptbahnhof gefragt wird, beschreibt keinen Slalom durch die Häuser von Stararchitekt:innnen: «Ach, da müssen sie bis zu dem wunderbaren Gebäude von Mies van der Rohe, und dann müssen sie rechts, da kommt eines von Le Corbusier, dann müssen sie wieder links, und dann sind sie beim Bahnhof.»  Vielmehr erklärt man die Stadt aus der Sicht der Nutzung, am Bäcker vorbei, beim Tabakladen rechts bis zum Stopschild.

Die Burckhardts plädierten dafür, die Sicht der Stadtbewohner:innen gleichberechtigt in die Umweltgestaltung einzubringen. Denn ein Haus ist nicht fertig, wenn die Bauleute abziehen. Gebäude leben auch nach ihrer Erstellung weiter und zwar weil «Gebäude und Bewohnerschaft ein neues System ergeben, aus dem sich neue Bedürfnisse entwickeln».  Also selbst dann, wenn alle Bedürfnisse an ein Gebäude erfasst und mit ihm verwirklicht werden könnten, verändert es sich durch das Wohnen, das Benutzen und das Leben in ihm.

Damit haben die Burckhardts die Gestaltung der Umwelt zum Gegenstand öffentlicher Debatten gemacht. Es sollen sich eben nicht nur Fachleute mit den Problemen beschäftigen, sondern auch jene Menschen, die sich tagtäglich durch die geplante und gestaltete Umwelt bewegen müssen und die ihr zunehmend mit Unverständnis begegnen.

Die Burckhardts haben gezeigt: Das Bauen und die Wahrnehmung der Umwelt ist immer bereits verwoben mit der Art und Weise, wie wir sie im gesellschaftlichen Alltag nutzen. Das öffnet auch neue Perspektiven: Abriss und Totalersatz des Bestehenden sind keine gangbaren Optionen mehr, wenn man die Nutzung als Teil des Bauens begreift. Klimaerhitzung und die Endlichkeit der Ressourcen zwingen uns, die Lösungen in bereits bestehenden Gebäuden zu suchen, sie zu verändern, statt sie in Bauschutt zu verwandeln. Die Burckhardts bieten hier einen frischen Blick auf neue Probleme.

Philippe Koch ist Dozent mit Schwerpunkt Stadtpolitik und urbane Prozesse am Institut Urban Landscape der ZHAW.

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