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Grenzgänger: In der Schweiz ungeliebt, in Luxemburg allgemein geschätzt

Rund 180'000 europäische Arbeitnehmende pendeln täglich zwischen ihrem Land und Luxemburg - zehnmal mehr als vor dreissig Jahren. Reuters

In Luxemburg ist fast jeder zweite Arbeitnehmer ein Grenzgänger. In der lokalen Bevölkerung löst die massive Präsenz jedoch nur wenig Widerstand aus. Könnte dies ein Beispiel für die Schweiz sein? Erklärungen der Forscherin Isabelle Pigeron.

Mit fast 320’000 Menschen, die täglich die Schweizer Grenze überqueren, um hier ihren Lebensunterhalt zu verdienen, ist das Land ein Eldorado für Grenzgängerinnen und Grenzgänger. Zumindest in absoluten Zahlen betrachtet. Doch sieht man genauer hin, zieht ein Land proportional noch mehr Grenzgänger an: Luxemburg.

Isabelle Pigeron ist Forscherin an der Université du Luxembourg. Michel Brumat

Im kleinsten der Gründerstaaten der Europäischen Union, eingenistet zwischen Deutschland, Belgien und Frankreich, machen Grenzgänger und Grenzgängerinnen – rund 180’000 Menschen – 45% der gesamten Arbeitskräfte im Lande aus.

Isabelle PigeronExterner Link, Spezialistin für Grenzgänger-Fragen an der Universität Luxemburg, gehört selber zum Strom dieser Migranten, die Tag für Tag zur Arbeit in das Grossherzogtum kommen, und entscheidend zu der spektakulären wirtschaftlichen Expansion Luxemburgs beitragen.

In Zusammenarbeit mit der Universität Basel, der Hochschule für Sozialarbeit in Genf, der Fachhochschule der italienischen Schweiz sowie der Universität Lothringen (Frankreich), arbeitet die französische Forscherin zurzeit an einer vergleichenden Studie über die Situation der Grenzgänger in der Schweiz und in Luxemburg. Ein Gespräch.

swissinfo.ch: Warum braucht Luxemburg so viele Grenzgänger?

Isabelle Pigeron: In Luxemburg belegt die nationale Bevölkerung weniger als 28% der Arbeitsplätze. Um das starke Wirtschaftswachstum weiter voranzutreiben, greift das Land sowohl auf Einwanderung, als auch auf Arbeit von Grenzgängern zurück. Letzteres hat viele Vorteile, nicht zuletzt, um die noch unbebauten Flächen auf dem kleinen Territorium zu erhalten.

Luxemburg ist von seinen drei grossen Nachbarn, Deutschland, Belgien und vor allem Frankreich, umgeben, wo sich viele Arbeitskräfte finden lassen. In gewissen Wirtschaftszweigen wie der Industrie, dem Handel oder dem Finanzwesen machen Grenzgänger in Luxemburg heute sogar die Mehrheit der Arbeitskräfte aus.

swissinfo.ch: War die Geschichte Luxemburgs schon immer mit Grenzgängern verbunden oder ist dies ein eher neues Phänomen?

I.P.: Der Arbeitsmarkt für Grenzgänger war schon im 19. Jahrhundert von Bedeutung. Zur Zeit der industriellen Revolution hatten Luxemburg und seine benachbarten Regionen das selbe Wirtschaftsgefüge, das vor allem auf die Stahlindustrie ausgerichtet war.

Zu einem wahren Arbeitsboom für Grenzgänger kam es jedoch in den 1980er-Jahren, als Luxemburg nicht mehr länger nur auf eine einzelne Industriesparte setzte, die kontinuierlich an Bedeutung verlor, und begann, den Dienstleistungssektor zu entwickeln, vor allem im Bereich Finanzwesen.

1985 hatte es in Luxemburg weniger als 20’000 Grenzgänger gegeben. Heute sind es praktisch zehn Mal so viele.

Die Stahlkrise, die in den 1960er-Jahren begann, hat die luxemburgische Wirtschaft erschüttert. visitluxembourg.com

swissinfo.ch: Die meisten Grenzgänger in Luxemburg kommen aus Frankreich. Aus welchem Grund?

I.P.: Der Aufschwung der luxemburgischen Wirtschaft fiel zusammen mit dem Niedergang der lothringischen Stahlindustrie. Viele französische Arbeiter, die damals auf die Strasse gesetzt wurden, nutzten daher die Möglichkeiten auf der anderen Seite der Grenze.

Eine weitere Erklärung hat einen demographischen Hintergrund: Das Departement Moselle, das an Luxemburg grenzt, hat mit seiner Million Einwohnerinnen und Einwohnern das grösste Einzugsgebiet in der Grossregion (neben Luxemburg Lothringen, Saarland, Rheinland-Pfalz und Wallonien, N.d.R.).

Grafik Grenzgänger
Kai Reusser / swissinfo.ch

swissinfo.ch: Spielt auch die Sprache eine Rolle?

I.P.: Ja, Französisch ist heute die in Luxemburg am meisten gesprochene Sprache, die für die Kommunikation im Alltag unerlässlich ist. Das ist vor allem darauf zurückzuführen, dass viele französische Grenzgängerinnen und Grenzgänger im Handel und im Gastgewerbe eine Stelle haben. Sie arbeiten in einem für sie günstigen sprachlichen Umfeld.

swissinfo.ch: Heisst das, dass Luxemburgisch und Deutsch, die beiden anderen offiziellen Landessprachen, aufgrund der vielen französischen Grenzgänger bedroht sind?

I.P.: Es ist komplizierter als das. In Luxemburg gibt es eine sehr starke sprachliche Segmentierung. Im Bankensektor und bei multinationalen Unternehmen hat sich das Englische durchgesetzt. Luxemburgisch ist seinerseits in der öffentlichen Verwaltung sehr verbreitet, einem sehr abgeschotteten Sektor, in dem praktisch nur Einheimische arbeiten.

swissinfo.ch: Man liest oder hört manchmal, die französischen Grenzgänger seien die kleinen Angestellten, die Hilfskräfte oder «Araber» der Luxemburger. Sagen die Statistiken das Gleiche?

I.P.: Das war in der Vergangenheit zwar tatsächlich weitgehend der Fall, aber heute sieht man im Profil der Grenzgänger-Arbeitskräfte eine sehr grosse Diversifizierung. Einerseits gibt es jene Grenzgänger, die vor allem im Handel, auf dem Bau oder in der Industrie tätig sind, und in der Regel über ein relativ niedriges Qualifikationsniveau verfügen.

Andererseits brauchen grosse internationale Unternehmen und Banken zunehmend qualifizierte oder gar hoch qualifizierte Arbeitskräfte. Es gibt daher immer mehr Grenzgänger, die Informatiker, Juristen, Forscher oder Finanzexperten sind. Sie kommen teilweise aus Paris oder gar von noch weiter her, angezogen von den hervorragenden Möglichkeiten, die sich in Luxemburg bieten.

Das gleiche Phänomen ist übrigens auch in Basel und in Genf zu beobachten, und damit verbunden ist ein tiefgreifender Wandel im Grenzgänger-Arbeitsmarkt.

Der luxemburgische Finanzplatz zieht qualifizierte Arbeitskräfte aus ganz Europa an. Reuters

swissinfo.ch: Wie nimmt die Bevölkerung Luxemburgs die Grenzgänger wahr?

I.P.: Die Luxemburger haben einen eher wohlwollenden Blick, was die Grenzgänger angeht, die sie als «vertraute Ausländer» betrachten, wie mein Kollege Christian Wille von der Universität Luxemburg unterstreicht. Die Bevölkerung und die politischen Führungskräfte sind sich bewusst, dass die Wirtschaft Luxemburgs ohne die Grenzgänger nicht das wäre, was sie ist. Es wird auf allen Ebenen alles getan, um die Mobilität und die Anstellung von Grenzgängern zu fördern.

«Es wird auf allen Ebenen alles getan, um die Mobilität und die Anstellung von Grenzgängern zu fördern.» 

swissinfo.ch: In der Schweiz, und insbesondere in den Kantonen Genf und Tessin, haben sich einige politische Parteien die Ablehnung der Grenzgänger auf die Fahne geschrieben. Das ist also in Luxemburg nicht der Fall?

I.P.: Ich habe noch nie einen gegen Grenzgänger gerichteten Diskurs aus dem Mund eines luxemburgischen Politikers gehört, auch nicht von den Populisten der Alternativ Demokratesch Reformpartei (ADR).

Natürlich kommt es hin und wieder zu kleineren Spannungen oder Reibungen. Wird zum Beispiel eine ältere Person, die praktisch nur Luxemburgisch spricht, in einem Supermarkt von einem Angestellten mit Französisch konfrontiert, kann sie sich an den Rand gedrängt fühlen. Das gleiche Phänomen kann auch auftreten, wenn ein Grenzgänger nicht versteht, was seine Kollegen auf Luxemburgisch zueinander sagen.

Aber wird sind meilenweit entfernt von diesem Phänomen der massiven Ablehnung, das sich in Genf oder im Tessin abspielt. Persönlich habe ich als Grenzgängerin, die seit 20 Jahren in Luxemburg tätig ist, nie den geringsten Groll der lokalen Bevölkerung mir gegenüber wahrgenommen.

swissinfo.ch: Diese grosse Präsenz von Grenzgängern in Luxemburg ist aber sicher auch mit einigen Herausforderungen verbunden, oder?

I.P.: Der grosse wunde Punkt ist der Verkehr. Die Autobahnen sind zu den Stosszeiten völlig überlastet, und viele Grenzgänger haben Mühe, pünktlich zur Arbeit zu kommen. Trotz den Anstrengungen, die unternommen wurden – grenzüberschreitende Busverbindungen, verdichtete Zugfahrpläne, Suche nach Alternativen zum Auto – hielten die Mobilitätsinfrastrukturen nicht Schritt mit dem ausserordentlichen Wachstum der Personenströme in den vergangenen Jahren. Wenn man weiss, dass Luxemburg bis ins Jahr 2035 zwischen 72’000 bis 132’000 weitere Grenzgänger benötigen könnte, gibt das schon Anlass zur Sorge um die Zukunft.

swissinfo.ch: Wie sehen die benachbarten Regionen und Gemeinden Luxemburgs diesen Grenzgänger-Beschäftigungsboom?

«Die in Luxemburg arbeitenden Grenzgänger werden manchmal für ihren Lebensstandard benieden und hören Vorwürfe, sie würden die lokalen Immobilienpreise in die Höhe treiben.»

I.P.: Es gibt viele positive Auswirkungen: Begrenzung der Arbeitslosigkeit, demographisches Wachstum nach einer langen Periode des Rückgangs, höhere Löhne, die wieder in die lokale Wirtschaft eingespeist werden. Aber von einigen Gemeinden hört man auch Kritik. Dabei geht es vor allem um die Nicht-Rückgabe der von Luxemburg bei den Grenzgängern erhobenen Einkommenssteuern. Der Anstieg der Wohnbevölkerung zieht in der Tat bedeutende Kosten für die lokalen Gemeinden nach sich, die mehr und mehr Mühe haben, diese Entwicklung zu bewältigen.

swissinfo.ch: Da gibt es Ähnlichkeiten mit der Schweiz.

I.P.: Ja, aber in geringerem Masse. Wie es auch in Departementen, die an den Kanton Genf grenzen, der Fall ist, werfen einige französische Gemeindepräsidenten Luxemburg vor, von der Arbeit der Grenzgänger zu profitieren, ohne aber die Kosten zu tragen, sei es für die Infrastruktur, für den Bau neuer Wohnungen oder für die Ausbildung der importierten Arbeitskräfte.

In diesen Nachbargemeinden kann es auch zu Spannungen zwischen Grenzgängern und Nicht-Grenzgängern kommen: Die in Luxemburg arbeitenden Grenzgänger werden manchmal für ihren Lebensstandard benieden und hören Vorwürfe, sie würden die lokalen Immobilienpreise in die Höhe treiben.

Grafik Grenzgänger
Kai Reusser / swissinfo.ch


(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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