Grenzgänger träumen noch immer von der Schweiz
Trotz Attacken populistischer Parteien gegen Grenzgänger in Genf ziehen die Schweizer Löhne nach wie vor Franzosen an. Manchmal kommen sie auf der Suche nach einer Stelle in der Schweiz von weit her. Der Traum entspricht aber nicht immer der Realität auf dem Arbeitsmarkt.
«In Montpellier haben wir zwar Sonne, aber keine Arbeit», sagt Thibault Torres. Der Wartungstechniker hatte in der Produktion medizinischer Analysegeräte gearbeitet. Nachdem er aus wirtschaftlichen Gründen entlassen worden war, konnte er keine Stelle mehr finden. In seiner Verzweiflung entschied er sich, das milde Klima im Süden Frankreichs zu verlassen, um sein Glück auf dem Schweizer Arbeitsmarkt zu versuchen.
Seit zwei Wochen lebt er nun bei einer Freundin in Saint-Julien-en-Genevois, einer französischen Grenzgemeinde, und verschickt seine Bewerbungsunterlagen – bisher vergeblich. «Ich würde gerne in der Uhrenbranche arbeiten, denn ich liebe die schöne Mechanik. Aber alle Arbeitgeber verlangen entsprechende vorherige berufliche Erfahrungen», erklärt er.
Er gibt sich noch etwas Zeit, doch wenn es nicht klappen sollte, will er in den sonnigeren Süden zurückkehren. «Eine meiner Freundinnen hatte schliesslich eine Stelle gefunden, aber auf der französischen Seite der Grenze. Da ihre Situation hier aber nicht besser war als in Montpellier, kehrte sie letztlich wieder dorthin zurück.»
Heute ist Torres unterwegs am Grenzgänger-Salon. Diese Veranstaltung wird einmal pro Jahr von der Vereinigung der europäischen Grenzgänger (Groupement transfrontalier européen, GTE) in Annemasse organisiert, einer französischen Stadt in der Nähe Genfs.
«Ich hatte gehofft, hier Schweizer Personalverantwortliche zu treffen, aber es sind keine da», sagt er enttäuscht. An rund 30 Ständen kann man Informationen zu einer Palette von Fragen finden, die Grenzgänger betreffen: Von Stellen über Renten, Versicherungen, Gewerkschaften bis hin zu Freizeitaktivitäten.
Schweiz absorbiert das Pflegepersonal
Thibault Torres wird den Salon unverrichteter Dinge wieder verlassen, denn im dem für Personalverantwortliche reservierten Bereich findet sich nicht auch nur ein Schatten eines Schweizer Unternehmens. Dafür sind die französische Eisenbahngesellschaft SNCF (Société nationale des chemins de fer français) und das Spitalzentrum (Centre Hospitalier, CH) Annecy Genevois auf der Suche nach Personal.
Das Spitalzentrum hat sogar zwei Stände, einen für seinen Standort in Annecy, den anderen für den Standort Saint-Julien. Es ist ein Versuch, gegen den im benachbarten Frankreich herrschenden Mangel an Krankenschwestern und Pflegehelfern vorzugehen, der zum Teil auf die hohe Attraktivität der Löhne in Genf zurückzuführen ist. In der Tat sind mehr als zwei Drittel des Pflegepersonals der Universitätsspitäler in Genf (Hôpitaux Universitaires de Genève, HUG) französischer Herkunft.
Der Grenzgänger-Salon
Der Salon des transfrontaliersExterner Link fand vom 22. bis 24. März in der grenznahen französischen Stadt Annemasse statt. Die Veranstaltung wird jedes Jahr von der Vereinigung der europäischen GrenzgängerExterner Link (Groupement transfrontalier européen, GTE) organisiert.
An rund 30 Ständen informieren Fachleute für Fragen zum Thema Grenzgänger die Besucher und Besucherinnen des Salons über Bereiche, die sie mit Blick auf eine Anstellung in der Schweiz besonders betreffen, wie Fragen zur Sozialversicherungen, Steuern oder auf Grenzgänger ausgerichtete Dienstleistungen.
Die GTE setzt sich für die Interessen der mehr als 100’000 französischen Grenzgängerinnen und Grenzgänger im Raum Genf ein.
«Bei einem Angebot mit einem Monatslohn von 1450 Euro ist es schwierig, überzeugende Argumente zu finden, damit die Leute sich für eine Stelle in Frankreich entscheiden», erklärt Thierry Maupin, leitender Angestellter für den Bereich Gesundheit am Standort Saint-Julien des Centre Hospitalier.
In der Geriatrie, jenem Sektor, für den er zuständig ist, ist die Situation kritisch. «In unserer Aufnahmestruktur für ältere Menschen mussten wir die Zahl der Betten von 60 auf 40 reduzieren.»
Um mit Schweizer Spitälern konkurrieren zu können, setzen französische Institutionen auf Ausbildungsangebote. «Wir bieten zum Beispiel Wege an, damit jemand nach fünf Jahren Arbeit als Pflegerin eine Ausbildung zur Krankenschwester machen kann», erklärt Maupin. Kostenlose Parkplätze am Arbeitsplatz und Krippenplätze sind andere Trümpfe, die er aufzählt. Argumente, die heute ins Schwarze getroffen haben: «Wir konnten einen Krankenpfleger und zwei Pflegehelfer anwerben.»
Schweizer Arbeitgeber glänzen durch Abwesenheit
Noch vor einigen Jahren offerierte der Grenzgänger-Salon eine wahre Jobbörse. «Wir haben aber entschieden, damit aufzuhören, denn die Schweizer Firmen machen nicht mehr mit. Personalverantwortliche von Schweizer Unternehmen wollen sich nicht im Ausland zeigen», sagt Laurence Coudière, Kommunikationsbeauftragte der GTE.
Diese Situation macht ihrer Ansicht nach den Stand der grenzüberschreitenden Beziehungen deutlich. Es habe sich ein «vergiftetes, gegen Grenzgänger gerichtetes Klima» eingenistet und verbreitet, da man die «populistischen Parteien machen liess». «Es ist das gleiche Schema mit dem Front National in Frankreich», analysiert die Kommunikationsbeauftragte.
Wer sich für eine Anstellung in der Schweiz interessiere, lasse sich jedoch von diesen Spannungen nicht entmutigen. «Die Schweiz ist weiterhin attraktiv», versichert Coudière. Das Interesse für eine Stelle als Grenzgänger sei aber nach einem Höhepunkt zwischen 2008 und 2010 wieder etwas gesunken.
«Während dieser Zeit hatte der Genfer Arbeitsmarkt einen Aufschwung erlebt und viele Arbeitskräfte aus Frankreich angeworben. Viele kamen aus Paris oder aus dem Norden des Landes.»
Zur Rolle der GTE gehört es auch, bei den Leuten, die auf der anderen Seite der Grenze eine Stelle suchen, das Bewusstsein für die Schweizer Besonderheiten zu schärfen. «Manche stellen sich einfach vor, dass sie ihr Salär verdoppeln oder verdreifachen werden. Und vergessen dabei, Steuern, Sozialabgaben, Krankenkassenprämien oder auch schlicht die Reisekosten zu berücksichtigen», sagt Coudière weiter.
Von der Ernüchterung…
Auch bei Leuten, die in der Schweiz eine Stelle gefunden haben, kommt es manchmal zur Ernüchterung. Der 40 Jahre alte Alain lebt im Raum Annemasse und arbeitet seit zehn Jahren im Hotelgewerbe in Genf.
«Ich denke über eine berufliche Neuausrichtung nach, vielleicht im Bereich Sicherheit oder im Transportwesen, denn die Arbeitsbedingungen in der Hotelbranche haben sich verschlechtert. Mit Schweizer Arbeitsverträgen kann man ohne weiteres auf die Strasse gestellt werden», sagt er. Alain schliesst die Option nicht aus, wieder in seinem Heimatland eine Stelle anzutreten, womit er Reisespesen für den Arbeitsweg einsparen könnte.
«Mit Schweizer Arbeitsverträgen kann man ohne weiteres auf die Strasse gestellt werden.» Alain
Yacinthe teilt diese Ansichten. Auch er arbeitet in der Genfer Hotellerie; seit rund 30 Jahren, jetzt steht er kurz vor der Pensionierung. «Die Lohnbedingungen sind in der Schweiz ohne Frage besser, aber auf der zwischenmenschlichen Ebene hat sich die Lage verschlechtert. Das Personal kommt heute von immer weiter her, vor allem aus Südamerika – und ist bereit, jegliche Konditionen zu akzeptieren. Das ist ein Weg, Grenzgänger loszuwerden», empört er sich.
…zur Leidenschaft
Am Grenzgänger-Salon stösst der Stand der französischen Rentenversicherung Carsat ohne Zweifel auf das grösste Interesse. Zu den Besuchern gehört auch der pensionierte Grafiker Jacques, der in Annemasse lebt. Am Anfang seiner beruflichen Laufbahn hatte er fünf Jahre lang in Frankreich gearbeitet, danach 43 Jahre in der Schweiz, vor allem für die Tageszeitung Le Temps.
«Seit Anfang Jahr sollte ich meine französische Rente erhalten, aber bisher habe ich davon nichts gesehen. Ich kam hierher, um zu versuchen, das Problem zu lösen», erklärt er.
«Ich fühle mich fast mehr als Schweizer denn als Franzose.» Jacques
Trotz dieser administrativen Probleme bedauert Jacques nicht, den grössten Teil seiner beruflichen Karriere auf der anderen Seite der Grenze verbracht zu haben. Neben den attraktiven Gehältern hat die Schweiz seiner Ansicht nach viele weitere Vorteile.
«Für mich ist die Schweiz wichtig. Ich habe mich immer willkommen und respektiert gefühlt. Ich habe mich in einem angenehmen Arbeitsklima entwickeln können. In der Tat fühle ich mich fast mehr als Schweizer denn als Franzose», erklärt er mit strahlenden Augen.
Auch GTE-Präsident Michel Charrat erklärt, die Schweiz bleibe «sehr attraktiv». Gleichzeitig warnt er aber auch: «Die Beschäftigungslage in Frankreich verbessert sich. Die Schweiz muss auf ihr Verhalten gegenüber Grenzgängern achten, sonst wird sie eines Tages ihre Arbeitskräfte weiter weg suchen müssen. Und dann werden sie nicht die gleiche Sprache sprechen.»
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
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