Grenzgänger, wer bist du?
Die Zahl der Grenzgänger aus den Nachbarländern hat sich in der Schweiz in den letzten zwanzig Jahren von 160'000 auf mehr als 320'000 verdoppelt. Diese Tagesmigranten sind immer besser qualifiziert und besetzen heute Stellen in allen Bereichen der Schweizer Wirtschaft. Meistens fühlen sie sich an ihrem Arbeitsort gut integriert.
Angst vor Lohn-Dumping, vor unlauterer Konkurrenz oder vor beschränktem Zugang zu bestimmten Berufen: Seit mehreren Jahren sind Grenzgänger in der Schweiz immer wieder Thema heftiger Debatten. Seit der Umsetzung des Personenfreizügigkeits-Abkommens mit der EU vor fünfzehn Jahren nahm die Zahl der Grenzgänger kontinuierlich zu, was die Spannungen erhöhte. Der Unmut betrifft nicht nur den Arbeitsmarkt, sondern auch die zunehmend überlasteten Transportwege oder die Knappheit des Wohnungsangebots in den Grenzgänger-Regionen.
Cédric Duchêne-Lacroix, Forscher an der Universität Basel und Experte für Grenzgänger-Fragen, pflichtet bei: «Die Grenzgänger sind gleichzeitig sichtbar und unsichtbar. Während sie am Arbeitsort oft diskret und integriert sind, gelten sie insbesondere in Genf und im Tessin als diejenigen Automobilisten, welche die Strassen verstopfen. Weil es noch keine detaillierten Statistiken und vertieften Erkenntnisse zu diesem Thema gibt, lassen sich alle Arten von Trugbildern über diese Bevölkerungsgruppe verbreiten.»
Lückenhafte Studien
Die Studien, die bisher den Grenzgängern gewidmet wurden, beschränken sich meistens auf eine bestimmte Region des Landes – Genf, Tessin, Basel oder den Jura-Bogen. Die Statistiken tragen dem Umfang des Problems nicht ausreichend Rechnung: Die Behörden erfassen lediglich die europäischen Arbeiter mit Grenzgänger-Bewilligung G (Vgl. Infobox) aber nicht jene Schweizer, die sich in den Nachbarländern niedergelassen haben und den täglichen Grenzgänger-Fluss vergrössern. Allein in Genf gehören 25’000 Personen zu dieser Gruppe, schätzt Bolzman.
Diese Daten-Lücken könnten sich teilweise dank eines Forschungsprojekts schliessen, das auf nationaler Ebene in Gang ist und an dem Bolzman und Duchêne-Lacroix beteiligt sind. Die Untersuchungen dürften die Beobachtungen, welche der Basler und der Genfer Forscher in den letzten Jahren machten, über weite Strecken bestätigen.
Die erste betrifft das Ausbildungsniveau der Grenzgänger. «Dieses hat sich in den letzten Jahren stetig erhöht, insbesondere in den Kantonen Genf, Zürich und Basel, wo der innovative Dienstleistungssektor immer mehr qualifizierte Arbeitskräfte benötigt», sagt Bolzman.
Deutsche ersetzen Franzosen
Am auffälligsten ist die Veränderung in Basel, der Metropole der Pharma-Industrie im Dreiländereck (Schweiz, Frankreich, Deutschland). Die elsässischen Arbeitnehmer, die wenig qualifiziert sind und schlecht Hochdeutsch sprechen, werden mehr und mehr durch hoch qualifizierte Deutsche ersetzt. Seit 2002 erhöhte sich die Zahl der Grenzgänger aus Deutschland um 65%, während jene der Grenzgänger aus Frankreich fast unverändert blieb.
«Die Grenzgänger belegen zwar weiterhin Stellen in Wirtschaftsbereichen, in welchen sie traditionsgemäss sehr präsent sind, zum Beispiel in der Uhrenindustrie im Jura-Bogen, aber ihr Ausbildungsniveau erhöht sich in allen Berufen», sagt Duchêne-Lacroix.
Die Folge dieser Entwicklung ist, dass die Lohndifferenz – die Saläre können in der Schweiz zwei bis drei Mal höher sein als im Nachbarland – nicht mehr das einzige Motiv ist, das Franzosen, Italiener und Deutsche dazu veranlasst, wöchentlich mehrmals weite Strecken zwischen ihrem Wohn- und Arbeitsort zurückzulegen. «Diese neuen Grenzgänger suchen eine Stelle, die als Sprungbrett in ihrer beruflichen Laufbahn dienen könnte. Der Lebensbereich und das Arbeitsklima spielen ebenfalls eine wichtige Rolle bei ihrer Stellenwahl», sagt der Basler Forscher.
Anstrengende Arbeitswege
In der Regel sind die Grenzgänger mit den Arbeitsbedingungen zufrieden und fühlen sich in der Schweiz gut integriert. «Es gibt eine Diskrepanz zwischen der allgemeinen ausländerfeindlichen Diskussion und der Wirklichkeit vor Ort», sagt Bolzman. In seiner Untersuchung zeigt der Genfer Soziologe, dass fast vier von zehn Grenzgängern mindestens einmal pro Monat Freizeit mit Schweizer Kollegen verbringen. «In Genf nimmt eine Mehrheit von ihnen an kulturellen, sozialen und sportlichen Anlässen teil. Zahlreich sind auch jene, die einen Teil ihrer Einkäufe in der Schweiz machen.»
Wenn sich gewisse Grenzgänger kaum am sozialen Leben in der Schweiz beteiligen, liegt dies oft an den langen Arbeitswegen. «Dies trifft insbesondere für Väter und Mütter mit kleinen Kindern zu, die sich abends nicht an ausserberuflichen Aktivitäten beteiligen können», sagt Duchêne-Lacroix.
Es erstaunt deshalb nicht, dass die Zahl der männlichen Grenzgänger doppelt so hoch ist, wie jene der weiblichen. «Das Grenzgänger-Leben ist nicht ideal, um Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen», sagt Bolzman. Lange und manchmal anstrengende Arbeitswege sind der am häufigsten genannte Grund für Unzufriedenheit. «Weil sie in der Früh wegfahren und abends spät nach Hause kommen, sind sie meistens auch an ihrem Wohnort nicht gut integriert und haben weder hier noch dort soziale Kontakte», sagt Duchêne-Lacroix.
Grenzgänger-Statut
Das Personenfreizügigkeits-Abkommen trat am 1. Juni 2002 in Kraft. Am 1. Juni 2007 wurde die Aufenthaltspflicht in definierten Grenzgänger-Zonen aufgehoben, seither gilt für Grenzgänger aus EU-Staaten die volle Freizügigkeit.
Die Unternehmen sind bei der Rekrutierung der Mitarbeitenden nicht mehr an Arbeitsgenehmigungs-Quoten und auch nicht mehr an nationalen Vorrang gebunden. Die Grenzgänger erhalten ihre Arbeitsbewilligung (G) automatisch, sobald ein Arbeitsvertrag unterzeichnet ist, mit der einzigen Auflage, mindestens einmal pro Woche an den Wohnort zurückzukehren.
Grenzgänger werden in allen Kantonen gezählt, weil die Einschränkung, dass diese Arbeitskräfte nur in definierten Zonen in der Nähe der Grenze angestellt werden dürfen, ebenfalls abgeschafft worden ist.
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
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