Mario Botta: «Ich will mich mit Einkehr, Opfer und Stille beschäftigen»
Der Tessiner Mario Botta gehört zu den bekanntesten Architekten der Schweiz. Er hat Gebäude in der ganzen Welt erstellt: Einfamilienhäuser, Museen, Banken oder auch eine Spielbank. Doch es sind sakrale Gebäude, die ihm besonders am Herzen liegen, wie er in diesem Gespräch mit swissinfo.ch aus Anlass seines 75. Geburtstages erklärt. Das Interview fand in seinem Architekturbüro in Mendrisio statt.
Herr Botta, am 1. April werden Sie 75 Jahre alt. Ist das ein wichtiges Ereignis für Sie?
Wichtig ist es vielleicht für meine Freunde – für mich ist es eigentlich ein ganz normaler Tag. Wichtig höchstens im Sinne, sich des Älterwerdens bewusst zu werden, auch wenn man denkt, immer jung zu sein. Ich habe mein Leben lang wie besessen gearbeitet. Das war ein Glück. Aber gleichzeitig habe ich nicht gesehen, wie die Zeit vergeht. Und die Zeit verflog.
Beunruhigt Sie dieses Älterwerden?
Ich bin nicht froh, älter zu werden. Denn ich merke, dass die verbleibende Zeit immer weniger wird. In diesem Sinne gibt es auch nicht viel zu feiern. Für einen Architekten kommt belastend hinzu, dass er sein Werk vollendet sehen will. Doch dafür braucht es Zeit. Sehen Sie diese Pläne hinter meinem Rücken? Es ist das neue Thermalbad von Baden. Es ist noch nicht gebaut.
Ausstellung: Mario Botta. Spazio Sacro
Die Ausstellung zum sakralen Werk von Mario Botta findet in den Räumlichkeiten der Pinakothek Rusca von Locarno und im eigens zu diesem Anlass im Aussenhof errichteten beeindruckenden Pavillon statt.
Zum allerersten Mal werden 22 Architekturen aus verschiedenen Ländern wie der Schweiz, Italien, Frankreich, Israel, Ukraine, Südkorea und China präsentiert. Kathedralen, Kirchen, Kapellen, Moscheen, Synagogen. Dabei geht es um 18 Gebäude, 3 sich im Zuge der Realisierung befindliche Werke und eine Kapelle am Flughafen Malpensa.
Alle Projekte werden anhand von Originalmodellen, Zeichnungen und überdimensionalen Abbildungen dokumentiert werden.
25.März – 12.August 2018, Pinacoteca Comunale Casa Rusca, Locarno
Internet: http://museocasarusca.ch/Externer Link
Das offizielle Rentenalter in der Schweiz liegt bei 65 Jahren für Männer. Viele Menschen lassen sich heute frühpensionieren. Dieses Altersschema scheint für Architekten nicht zu gelten.
Ich habe eine vielleicht etwas waghalsige These. Aber viele Architekten haben lange gelebt und gearbeitet, um noch ihre Werke sehen zu können. Denken wir an Wright, Le Corbusier, Mies van der Rohe. Philosophen sind schneller abgebrannt. Der grosse Meister Louis Kahn sagte einmal, dass Architektur gar nicht existiert, sondern nur das architektonische Werk. Das heisst: Es geht über die Idee in den Prozess der Verwirklichung.
In Locarno wurde, rechtszeitig zu Ihrem Geburtstag, eine Ausstellung über Ihre sakralen Werke eröffnet: Kirchen, Kapellen, Moscheen, Synagogen. Warum wollten Sie den Fokus auf die «Architektur des Heiligen» legen?
Zuerst hatte ich eine Ausstellung über meine Nicht-Architektur im Kopf. Ich dachte an Design, etwa Stühle oder Tische, Einrichtungen von Ausstellungen oder Bühnenbilder für Opern. Doch als ich das Konzept der Pinakothek präsentierte, implodierte es. Ich merkte, dass dieses Thema für mich nicht fundamental war. Ich habe alles überdacht und kam zum Schluss, dass das Thema der sakralen Gebäude und ihre Bedeutung der kollektiven Erinnerung für mich essentiell war. Letztlich geht es um die Frage: Wie kann man nach Picasso noch eine Kirche bauen?
Haben für Sie Gotteshäuser folglich eine ganz besondere Bedeutung?
Durch die Kultgebäude habe ich den Eindruck erhalten, die tiefen Wurzeln, aber auch die Grenzen unserer Architektur gefunden zu haben. Konzepte wie Schwerkraft, Schwelle und Licht als Raumbildner, das Spiel der Verhältnisse und der rhythmische Verlauf der Bauelemente helfen dem Architekten dabei, die – in einer gewissen Weise heiligen, primären Grundlagen der Architektur neu zu entdecken. Zugleich sind sie Symbole gegen die Banalisierung, welche sich heute ganz allgemein in der Architektur ausgebreitet hat.
Doch Kirchen verlieren zusehends in einer säkularisierten Gesellschaft mit immer weniger Gläubigen ihre ursprüngliche Funktion. Ist das nicht ein Problem?
Es stimmt, dass sie ihre Funktion eingebüsst haben. Aber sie sind weiterhin Symbole unseres kollektiven Gedächtnisses. Die Kirche, die ich in einem Dorf sehe, war ein Versammlungsort für diese Gemeinde, auch wenn sie heute vielleicht kaum noch genutzt wird. Sie ist Teil von Kardinal-Gebäuden, die eben Teil der Stadt ausmachen. Stadthaus, Theater, Museum, etc. Sie sind Teile unserer Geschichte, gerade in Europa. Deswegen besuchen wir auch gerade Altstädte, weil sie Teil des kollektiven Gedächtnisses und unserer Geschichte sind.
Und daher sprechen sie uns an?
Es gibt ein menschliches Bedürfnis nach Spiritualität. Und unabhängig von der jeweiligen Religion – Judentum, Christentum und Islam – stellen sich die Gotteshäuser als Paradigma dar, dieses Bedürfnis zu interpretieren, um den kollektiven Werten unseres Lebens Form zu geben und Licht und Raum so zu modellieren, dass eine anerkannte und geteilte symbolische Bedeutung erreicht wird.
Sind Sie selbst heute religiöser als früher?
Nein. Das ist für mich auch nicht die Frage. Ich trage aber selbst eine christlich-westliche Kultur in mir. Ich wusste früher nicht genau, was das Judentum und der Islam waren. Aber ich habe gleichwohl Moscheen und eine Synagoge gebaut. Dies lässt sich mit einem architektonischen Ansatz machen, es ist eine Frage, wie der Raum angeordnet wird. Ich habe auch Banken gebaut, ohne ein Banker zu sein. Vielleicht klingt es komisch, aber die hässlichsten Kirchen, die ich kenne, wurden von sehr gläubigen Architekten gebaut. Ich habe sehr viel Respekt für Kultstätten, die für mich auch Stätten der Stille sind.
In ihrem architektonischen Werk tauchen konstant einige geometrische Formen auf: der Kreis, der Zylinder, die Linse. Warum dies?
Die Geometrie hilft mir, den Raum zu ordnen, der durch das Licht erzeugt wird. Um mit dem Licht umzugehen, gibt es zwei Elemente: Die Geometrie und das Material. Die Geometire erzeugt Klarheit und Gleichgewicht. Sie hilft, ein Werk zu lesen und zu verstehen. Das zweite Element ist das Material. Ich setzte in diesem Fall auf Ziegel und Steine, als Material, das aus der Erde stammt.
Mario Botta
Mario Botta, geboren am 1. April 1943 in Mendrisio, Schweiz, besuchte nach einer kurzen Lehrzeit in Lugano das Kunstgymnasium in Mailand und führte seine Studien am Architekturinstitut der Universität Venedig fort, wo er 1969 abschloss. Während seiner Zeit in Venedig hatte er Gelegenheit, sich mit Le Corbusier und Louis I. Kahn zu treffen und mit ihnen zu arbeiten.
1970 eröffnet er sein eigenes Studio in Lugano. 1976 wird er als Gastprofessor (Visiting Professor) an die Eidgenössische Technische Hochschule Lausanne berufen. Ausgehend von den ersten Einfamilienhäusern im Kanton Tessin umfasste seine Arbeit viele Gebäudearten: Schulen, Banken, Verwaltungsgebäude, Bibliotheken, Museen und religiöse Gebäude. Die Liste ist lang. Hier nur einige Beispiele: Das San Francisco Museum of Modern Art; die Auferstehungskathedrale in Évry; das Museum Jean Tinguely in Basel.
Er erhielt zahlreiche Preise und internationale Anerkennungen, darunter 1986 den Chicago Architecture Award. Er lebt und arbeitet in Mendrisio. Er ist verheiratet und Vater von drei erwachsenen Kindern.
Internet: www.botta.chExterner Link
Als Sie die Ausstellung vorstellten, meinten Sie, sich damit zu entblössen. Wie kann man dies verstehen?
Eine solche Ausstellung ist wie eine Prüfung, hier geht es um die sakralen Werke, die ich übrigens immer gemacht habe, weil sie bei mir bestellt wurden. Man ist auf mich zugekommen. Bei mir verläuft die Entwicklung in Abschnitten. Am Anfang standen die Einfamilienhäuser, dann kamen die Banken, schliesslich Bibliotheken und Ausstellungsgebäude, die ich in der ganzen Welt gebaut habe. Seit 1986 kümmere mich regelmässig um sakrale Werke.
Gibt es in 50 Jahren Berufstätigkeit als Architekt ein Werk, das Ihnen besonders gefällt?
Ehrlich gesagt: das nächste Projekt. Denn es beinhaltet eine Erwartung. Ich würde gerne nochmals ein neues Sakralgebäude bauen, um mich erneut mit Begriffen wie Einkehr, Opfer und Stille zu beschäftigen.
Umgekehrt gefragt: Gibt es eigene Werke, die Ihnen heute nicht mehr gefallen?
Jedes Werk hat seine Geschichte und seinen Ursprung. Das verhält sich wie bei Kindern: Auch wenn Kinder nicht brillant sind, liebt man sie. Und bei der Architektur sind die Werke immer Kinder der vorhergegangenen Werke. Eines will ich aber noch festhalten in Bezug auf die sakralen Gebäude: Das Kirchlein von Mogno im oberen Maggiatal, das ich gebaut habe, nachdem die alte Kirche durch eine Lawine zerstört worden war, liegt mir besonders am Herzen.
Sie sind in Mendrisio geboren. Und seit einigen Jahren leben Sie wieder in dieser kleinen Gemeinde, haben Ihr Büro von Lugano nach Mendrisio verlegt. Gleichzeitig sind Sie auf der ganzen Welt aktiv. Wie wichtig ist es Ihnen, im Südtessin verwurzelt zu sein?
Für mich ist es ein Privileg. Ich empfinde es als Glücksfall, am Ort leben zu können, wo ich geboren bin, ein Ort der Erinnerung. Zudem fühle ich mich emotional zu Hause. Ich habe Mühe, Berge im Süden zu sehen, so wie in der deutschen Schweiz. Hier habe ich keine Berge im Süden, sondern spüre das Mittelmeer. Und dieser Mittelmeerraum ist für mich immer noch das Zentrum der europäischen Kultur. Ich bin auch stolz, in der Nähe von Mailand zu leben, sozusagen in der Peripherie dieser lombardischen Metropole.
Heute sind wir Kinder einer globalen Welt. Meine Lehrer, Rino Tami und Tita Carloni, arbeiteten nur im Tessin. Ich kann auf der ganzen Welt tätig sind. Gerade heute Morgen erhielt ich eine Anfrage aus Shanghai. Wenn ich nur im Tessin tätig wäre, könnte ich kein Architekturbüro mit rund 20 Mitarbeitenden haben.
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