Die schlechteste Wohnform – aber äusserst erfolgreich
Drei von fünf Wohngebäuden in der Schweiz sind Einfamilienhäuser: Von der Kritik als "Häuschenpest" verschrien, sind Einfamilienhäuser die erfolgreichste Siedlungsform der Schweiz. Architekt und Stadtforscher Stefan Kurath ordnet diesen Siegeszug ein.
Die Nachfrage nach Einfamilienhäuser stieg 2018 wieder an. Das Eigenheim verdrängte Eigentumswohnungen vom Platz der begehrtesten Immobilien. Einer, der sich mit dieser Wohnform intensiv beschäftigt hat, ist Stefan Kurath, Professor für Architektur und Entwurf an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Kurath arbeitet daneben er als selbstständiger Architekt und Stadtplaner. Er plädiert, das Einfamilienhaus nicht zu verdammen, sondern neu zu gestalten und planerisch neu zu denken.
swissinfo.ch: Wenn wir auf das 20. Jahrhundert zurücksehen, welche Moden haben den Bau von Einfamilienhäusern in der Schweiz geprägt?
Stefan Kurath: Während und nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte der Heimat-Stil, ein Rückbezug auf regionale Werte. Holz wurde wichtiger, an Häuser, in denen längst keine Bauern mehr wohnten, wurden Scheunen angebaut, das Dach kam näher zum Boden. Vorher und nachher gab’s die Moderne, mit klaren geometrischen Formen und grösseren Fensteröffnungen, bedingt durch neue Möglichkeiten, mit Beton und Glas zu arbeiten. Dann gab es auch eine starke Spekulationsphase, in der die Häuser flächendeckend gebaut wurden – ich bin selbst in so einem Haus aus den 1980er Jahren aufgewachsen, das man mehrere hundert Male gebaut hat. Das war günstig, weil man einfach aus einem Ordner das Hausmodell auswählen, und dann bauen konnte und der Generalplaner hat dann an den Planungsänderungen verdient. Lange konnte man die Häuser noch einem gewissen Zeitgeist zuordnen. Heute hat man alles, es ist derart individualisiert: Der eine findet Beton schön, der Zweite Pink mit grünen Fenstern, der Dritte will das Dach eines alten Bauernhauses.
swissinfo.ch: Wo liegen die historischen Vorläufer des Einfamilienhauses?
S.K.: Es gibt wahrscheinlich mehrere Geschichten des Einfamilienhauses. Ein historischer Vorfahre ist das Haus der Fabriksiedlungen, die gefördert wurden, um näher an der Fabrik zu wohnen und zu ermöglichen, dass man Essen in dem kleinen Garten zog, damit die Bewohner nicht so viel Lohn brauchten und aufgrund kürzerer Arbeitswege länger arbeiten konnten – je nachdem, wie man die Geschichte erzählt. Das waren oftmals Reihenfamilienhäuser – mit dem Wohlstand hat sich diese Wohnform in Einzelhäuser aufgelöst.
Ein Vorbild für die heutigen Einfamilienhäuser sind sicher auch die Landsitze, in denen Adelige ihre Sommer verbracht haben. Selbst wenn es etwas merkwürdig ist, diese Paläste als Einfamilienhäuser zu bezeichnen, steckt in ihnen schon die Suche nach Gesundheit, Luft und Sonne, die dann auch für die Gartenstadtbewegung Ende des 19. Jahrhunderts wichtig war. Sie versprach die Befreiung vom Dreck und Russ der verschmutzten Industriestädte in idyllischen Satellitenstädten vor den Toren der Stadt – und war somit auch wichtig für die Entwicklung der heutigen Idee des Einfamilienhauses.
swissinfo.ch: Ist das Einfamilienhaus also ein Produkt der Ablehnung der Stadt?
S.K.: Das Einfamilienhaus findet sich vorallem in den Vorstädten und Agglomerationen: So dass man in der Stadt arbeitet und draussen in der gesunden Luft wohnt. Und hier kann man es sich leisten.
«Nicht zufällig fällt der Boom der Einfamilienhäuser zusammen mit dem Aufkommen des Autos.»
Einfamilienhäuser stehen aber meistens im Bezug zu wirtschaftsstarken Regionen. Selbst im Tösstal, das wirtschaftlich abgehängt ist, pendelt man nach Zürich oder Winterthur. Mental glaubt man auf dem Land zu wohnen – gleichzeitig aber fährt man mit dem Auto 50 Kilometer zum Arbeitsplatz in die Stadt. Nicht zufällig fällt der Boom der Einfamilienhäuser zusammen mit dem Aufkommen des Autos, mit dem man plötzlich grössere Distanzen zum Einkaufen und Arbeiten bequem zurücklegen konnte. Das Wohnen im Einfamilienhaus hat jedoch nichts mit dem Wohnen im Dorf zu tun.
swissinfo.ch: Man zieht also gar nicht aufs Land?
In einem 90 Seelendorf zu wohnen und aufzuwachen, das ist dann schon was grundlegend anderes, als wenn man hundert Einfamilienhäuser um sich rum hat. Wir hören bei Projekten in einfamilienhausstarken Gemeinden dennoch oft den Satz: „Wir wollen ein Dorf bleiben“ – doch was im Vergleich zu tatsächlichem ländlichem Leben fehlt, ist die Suche nach Gemeinschaft oder nach dörflichen Strukturen, wo man in Vereinsaktivitäten involviert ist und einen engen Kontakt zu seinen Nachbarn pflegt. Doch letztlich entstammt das Einfamilienhaus eben doch der Lebenswelt des urbanen Menschen, der Arbeit, Wohnen und Freizeit trennt – er ist nicht abhängig von der Scholle, auf der er lebt, er hat Freunde in A und Arbeitsort in B, sein Leben ist geprägt von Mobilität, Wohlstand und Unabhängigkeit.
swissinfo.ch: Inwiefern hängt das Einfamilienhaus mit einem spezifischen Familienmodell zusammen?
Der grösste Sprung im Wohnungswechsel geschieht, wenn die eigenen Kinder kommen. Ein starker Antrieb für viele, ein Eigenheim zu bauen, ist das Nesting. Sobald man Kleinkinder hat, hat man das Gefühl, man müsse Sicherheit für schaffen, man hat das Gefühl, man könne nicht atmen, wenn es kein Grün hat: Hier geht es um Sicherheit, weniger Strassenverkehr, aber auch den eigenen Spielplatz.
«Etliche Studien bezeichnen es als die schlechteste Wohnform in punkto Nachhaltigkeit.»
Ein Problem des Einfamilienhauses ist aber gerade, dass es so generationengebunden ist. Die Kinder werden gross und verlassen das Haus. Die Babyboomer, die zur geburtenstarken Nachkriegsgeneration gehören, wohnen nun meist zu zweit oder sogar alleine in diesen Familien-Häusern. Dieses Schwanken der Bewohnerzahlen führt zu einem ganzen Rattenschwanz an Folgen: Bei Neusiedlungen ziehen ganz viele junge Familien ein, was automatisch dazu führt, dass man explosionsartig Schulhäuser bauen muss, die nach fünfzehn, zwanzig Jahren wieder leer stehen und umgenutzt werden müssen – bis wieder Junge Eltern einziehen, die Kinder haben und dann geht’s von vorne los.
swissinfo.ch: Wo geschieht das konkret?
Das ist praktisch in jeder Gemeinden passiert. Zum Beispiel in Domat-Ems, einer Gemeinde im Einzugsgebiet von Chur, die massenweise Einfamilienhäuser gebaut hat.
swissinfo.ch: Ist in dieser Problematik auch die Kritik am Einfamilienhaus begründet? Der Architekt Benedikt Loderer sprach ja relativ drastisch von der „HäuschenpestExterner Link“?
Etliche Studien bezeichnen es als die schlechteste Wohnform in punkto Nachhaltigkeit. Wegen dem Mobilitätsaufwand und auch wegen der geringen Ausnutzung des Bodens gilt der Bau von Einfamilienhäusern als wenig sinnvoll. Aber Loderer ist ja nur der letzte einer ganzen Reihe von Kritikern des Einfamilienhauses. Max Frisch, Lucius Burckhard und Markus Kutter haben diese Häuser schon in «Achtung die Schweiz» als Hasenställe verunglimpft. Bereits in den 1950er Jahren ist also der Landverbrauch und das Gesellschaftsmodell der Individualisierung, für das das Einfamilienhaus steht, vehement kritisiert worden.
swissinfo.ch: Woher diese Wut auf das Einfamilienhaus?
Direkt nach dem zweiten Weltkrieg konnten Architekten in Europa zum Teil ganze Städte neu bauen, doch in den späteren wirtschaftlichen Booms wurden die individuellen Befindlichkeiten stärker gewichtet als übergeordnete Planungsabsichten. Auch wenn man sich heute die Umfragen, die in der Schweizer Rekrutenschule gemacht werden, anschaut, ist der grösste Traum noch immer, in einem Einfamilienhaus zu wohnen. Seit den 1950er Jahren gabs zwar regelmässig Planer, die die Zersiedlung stoppen wollten – aber es gab nie eine merkliche Veränderung. Heute sind bis zu 50 Prozent der Siedlungsfläche in Gemeinden Einfamilienhaus-Zonen und die meisten Architekten bauen in ihrer Karriere zuerst ein Einfamilienhaus.
Ein weiteres Problem in der Schweiz war, dass man im Fortschrittsglauben der Nachkriegszeit von einem linearen Bevölkerungswachstum ausgegangen ist. Man hat die ganzen Bauzonen so grosszügig dimensioniert, dass man dieses erwartete Wachstum auffangen kann. Ein Beispiel ist Geroldswil, dort hat man in den 1960er Jahren mit längerfristig 8000 Einwohner gerechnet, heute sind sie bei 4800. Bei derart grossen Zonen hat man fast keine Lenkungsmöglichkeiten auf die Siedlungsentwicklung.
swissinfo.ch: Wenn sich das Einfamlienhaus nicht verhindern lässt – was ist der Plan B?
S.K.: Die Architekten mussten sich angesichts dessen einfach endgültig von dem Modell der absoluten Planbarkeit verabschieden, in welcher der Architekt eine Art Gott-Vater spielt.
Das Einfamilienhausverbot ist nicht gesellschaftsfähig. Einerseits wirken aber auch bei Einfamilienhaussiedlungen klassische Strategien der Verdichtung um die vorhandenen Infrastrukturen effizienter zu nutzen und die Erschliessung durch den öffentlichen Verkehr zu ermöglichen.
Es geht aber auch darum, Tabus anzusprechen und nicht immer nur städtische Dichte anzupeilen. Ein Thema ist beispielsweise, dass die Biodiversität in Städten grösser ist als in den monokulturell bepflanzten Böden in der Landwirtschaft. Hier gäbe es noch Potential, dass man Richtlinien erlässt, damit man Biodiversität in Siedlungen mit dem Wohnen im Einfamilienhaus quersubvenitioniert, zumal der Freiraumanteil gerade bei Einfamilienhaussiedlungen sehr hoch ist. Wir haben mit Studierenden an Projekten gearbeitet, in denen man über die Erstellung einer Siedlung mit der Renaturierung eines Flussdeltas zusammen gedacht hat.
Letztlich muss es im aktuellen politischen Umfeld darum gehen, Wege zu finden, wie man zukunftsweisende Entwürfe erarbeiten kann. Wenn es nicht gelingt dem Wunsch nach dem Eigenheim Einhalt zu gebieten, dann sollte man alles dran setzen, an diesen Wunsch Nachhaltigkeitanliegen zu knüpfen. Wenn ein Einfamilienhaus, dann sollte es auch gesellschaftliche Mehrwerte bieten.
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