Aristokratie war wichtiger als es der Schweizer Mythos will
Die Schweiz als Republik von freien Bauern, die sich gegen die Habsburger auflehnten und eine Demokratie schufen? Dieses Narrativ hat nichts mit der Realität zu tun.
Eine Bauernrepublik, die sich gegen habsburgische Unterdrückung auflehnt: Das ist die Geschichte, die Fremdenführer Touristen, die die Schweiz besuchen, gewöhnlich erzählen. Ist an dieser Geschichte etwas Wahres dran, oder handelt es sich eher um eine «Erzählung»?
In den letzten Jahren haben Schweizer Adelsgeschlechter und aristokratische Familien die Aufmerksamkeit der Historiker in der Schweiz auf sich gezogen. Dennoch bleiben sie in den Augen der breiten Schweizer Gesellschaft bis heute weitgehend unsichtbar. Die jüngst erschienene Monografie des Schweizer Historikers Andreas Z’Graggen «Adel in der Schweiz» befasst sich mit der Rolle der Adelsfamilien in der frühmittelalterlichen Schweiz.
Das Werk ist gewissermassen eine Krönung der Arbeit von früheren Schweizer Historikern, die bereits in den 1970er Jahren eine differenziertere Sicht auf die Entstehungsgeschichte der Schweiz boten und insbesondere auf die Rolle des Adels und der Adelsfamilien in diesem Prozess hinwiesen. Roger Sablonier (1941-2010), ein Schweizer Historiker und Anhänger der französischen historischen «Schule der Annalen» hat dabei eine besondere Bedeutung, spielte er doch eine wichtige Rolle bei der Aufarbeitung dieses Themas.
In seiner 1979 erschienen Dissertation hatte er bereits gezeigt, wie in der Ostschweiz im Frühmittelalter komplexe Beziehungen zwischen Adel, Ritterschaft, Bauern und «bürgerlichen» Städten entstanden sind.
Eine Vielzahl von Spielern
Im frühen Mittelalter entwickelte sich auf dem Gebiet der heutigen Schweiz ein pluralistisches System von vier Machtzentren. Erstens gab es die kirchlichen Besitztümer, zweitens Territorien, die unter der Schirmherrschaft von Adelsfamilien standen, drittens Städte und viertens die ländlichen Selbstverwaltungsgemeinden.
Diese werden heute gemeinhin dargestellt, als seien sie die eigentlichen Wurzeln des Landes gewesen, aus denen die «700-jährige Schweizer Demokratie» erwuchs.
In Wirklichkeit war es viel komplizierter und viel interessanter. Jedes der vier genannten Machtzentren befand sich je nach Region und Zeit unter einer Wechselwirkung gegenseitiger Beeinflussung und Abhängigkeiten. Sie gerieten manchmal in Konflikt miteinander, bildeten manchmal auch für alle Seiten vorteilhaften Symbiosen.
In der Tat hielten die ländlichen Gemeinden ein gewisses Mass an Selbstverwaltung und Autonomie. Gleichzeitig wurden sie manchmal aber auch ganz undemokratisch von wohlhabenden Landamännern regiert.
Recht war damals, was diejenigen sagten, die wirkliche Macht hatten. Und dies waren oft eben die adeligen, patrizischen, aristokratischen Familien. Zu den bedeutendsten Adelsfamilien in der Schweiz gehörten tatsächlich die Habsburger – so wie es auch der Mythos beschreibt. So sadistisch wie ihr Landvogt Gessler im schillernden «Wilhelm Tell» seien die Herren aber nicht gewesen: «Die Eidgenossen haben sie zu bösen Habsburgern hochstilisiert, die das Volk tyrannisiert haben. Damit rechtfertigten sie ihre eigenen Machtgelüste.»
In der Tat sagen zeitgenössische Schweizer Historiker, darunter Rainer Hugener, dass dem Schweizer Adel schlicht die militärischen und finanziellen Ressourcen fehlten, um ihre Territorien mit eiserner Faust zu regieren, da die Alte Eidgenossenschaft (bis 1798) doch ein kleines und relativ armes Land war. Deshalb überliessen die Aristokraten den ländlichen Gemeinden einige Freiheiten.
Ausserdem begannen sich aristokratische und adlige Familien zunehmend mit der bäuerlichen und städtischen Umgebung zu vermischen. So wurden sie zu «hochadeligen Eidgenossen». Die Luzerner Familie Pfyffer etwa gehörte zu den solchen. Im 16. Jahrhundert wurde diese Familie zu einer der einflussreichsten in der Schweiz. Eine ähnliche Rolle spielte in Bern das Geschlecht der von Wattenwyl. Diese gehörte bald zu den vornehmsten Berner Familien. Die Aristokratie, der neue Adel war geboren. Die neuen Herrscher besetzten politische Ämter, verschafften sich Adelstitel und Wappen.
Schweizer Historiker haben in jüngster Zeit zudem herausgefunden, dass die Kirche bei Streitigkeiten um Ländereien oft als ein neutraler Vermittler fungierte. Wenn beispielsweise divergierende Landansprüche nicht befriedigend gelöst werden konnten, übertrugen die gegnerischen Seiten diese Aktiva an die Kirche, die so mit der Zeit erhebliche ländliche und politische Ressourcen anhäufen konnte.
Eine erfolgreiche Karriere
Im französischsprachigen Westen der heutigen Schweiz waren die Grafen von Savoyen die wichtigsten und einflussreichsten Rivalen der Habsburger. Kleinere Adelsfamilien konnten nur dann politisch überleben und aufsteigen, wenn sie in den Dienst des einen oder des anderen Geschlechtes traten. Aber nur dank adliger Familien hat die Schweiz solche Städte wie Bern und Freiburg bekommen, die später massgeblich zur Entwicklung der modernen Schweiz beigetragen haben.
Die Städte entwickelten sich schnell zu wichtigen Marktplätzen. Sie bauten ihre eigene Machtbasis aus, lösten sich aus der Patronage des Adels und begannen sogar mit ihm in den Wettbewerb zu treten. Nach den Städten begannen auch die autonom regierten ländlichen Gemeinden und Regionen allmählich ihre Positionen zu stärken. Ein gutes Beispiel dazu ist die Geschichte der Region Glarus, die sich im späten Mittelalter sowohl vom kirchlichen Einfluss als auch von der Macht des Adels befreien konnte.
Ebenso konnten die Innerschweizer Kantone ihre Position festigen, die Regionen also, die dem herkömmlichen Narrativ folgend jenen freiheitlichen Kern bildeten, aus dem im Kampf gegen die Habsburger die moderne demokratische Schweiz hervorgegangen war. Wie Roger Sablonier aber zeigte, sind eben diese «Waldkantone» zunächst Verwaltungsbezirke gewesen, die dem Adel unterstellt waren. Erst dann, befreit von dessen Herrschaft, begannen sie untereinander Verträge zur Erhaltung des Friedens zu schliessen, die sogenannten «Bundesbriefe».
Nicht zufällig findet man in der heutigen modernen Schweiz auch eine historisch entstandene Stadt-Land-Trennlinie, die zusammen mit dem «Röstigraben» und dem Links-Rechts-Gefälle die recht komplizierte politische Landschaft der Schweiz bildet. Das Pech der Schweiz ist, dass sie so viele Trennlinien hat. Das Glück der Schweiz liegt aber darin, dass diese Trennlinien nicht immer und überall auf einmal und parallel auftreten.
Eine Trendwende in der Geschichtswissenschaft
Wir sehen also, dass im frühen Mittelalter ein sehr komplexer politischer Kontext die damalige Schweiz prägte. Die moderne Schweizer Geschichtswissenschaft hat sich deswegen in den letzten Jahren von der Tendenz entfernt, die historische Genese der Nation rund um die «Vertreibung der bösen Habsburger» zu konstruieren. Stattdessen fragen die Historiker zunehmend, wie die Mechanismen der Konkurrenz und Kooperation zwischen den vier Machtzentren in der damaligen Schweiz (Kirche, Adel, Städte, ländliche Gemeinden) zwischen Boden- und Genfersee funktionierten.
Nach einem langwierigen Bürgerkrieg, der in der Schweiz sporadisch zwischen 1830 und 1847 stattfand, wurde 1848 die moderne föderative Schweiz gegründet, in der der Souverän, d.h. die einzige Machtquelle, nun der «dritte Stand» war, also das Volk (zunächst ohne Frauen und ohne Juden und Ausländer). Der Adel verlor endgültig seine Macht und ging in einer neuen historischen Gemeinschaft, dem «Schweizervolk», unter. Die adligen Familien verloren zwar ihre Privilegien. Aber: «Es ging ihnen nicht wirklich an den Kragen», schreibt Z’Graggen. «Das Volk schlug seine Herrscher nicht tot. Sie durften ihren Besitz behalten.» Der Sturm auf die Schlösser und Burgen blieb aus.
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Die Nachkommen aristokratischer Familien sind heute in der Schweizer Gesellschaft stark präsent, sie arbeiten als Ingenieure, Diplomaten, Ärzte oder Anwälte und sitzen im Nationalrat (der grossen Kammer des Bundesparlaments), wie zum Beispiel Thomas de Courten (SVP), dessen Familie zur Zeit der Alten Eidgenossenschaft im Kanton Wallis ziemlich einflussreich war. Und einige wurden Landwirte und haben noch heute eigene Besitztümer, wie Sigmund von Wattenwyl, wobei seinem Geschlecht früher gleich mehr als sechs Dutzend Schlösser gehörten.
Die Aristokratie ist also nicht verschwunden. Und es mag sein, dass die Schweizer deswegen immer mit solch einer Begeisterung britische und andere Monarchen in ihren Bergen zu empfangen pflegten, weil sie stets wussten und auch heute noch spüren, welche Rolle die Aristokratie in ihrer eigenen Geschichte gespielt hat.
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