Wenn Erwerbstätigkeit nicht vor Armut schützt
Eine Million Personen in der Schweiz gelten als arm oder armutsgefährdet. Auch wer erwerbstätig ist, verdient in vielen Fällen nicht genug, um das Existenzminium zu erreichen. Wie lässt sich angesichts des tiefgreifenden Strukturwandels auf dem Arbeitsmarkt die Gefahr reduzieren, in die Armut abzugleiten? swissinfo.ch sprach mit dem Sozial- und Wirtschaftsexperten Carlo Knöpfel.
Die Schweizer Wirtschaft ist auch nach der Aufhebung des Mindestkurses des Frankens gegenüber dem Euro und nach dem Brexit robust geblieben – mit einem Wachstum von 1,5 Prozent im Jahr 2016. Gleichwohl betont Caritas Schweiz, dass zunehmend Personen mit geringem Einkommen einem Armutsrisiko ausgesetzt sind. Caritas wird anlässlich einer sozialpolitischen TagungExterner Link am 27. Januar 2017 in Bern das «Recht auf Arbeit» thematisieren.
«In der Schweiz reicht eine Berufstätigkeit nicht immer, um finanziell über die Runden zu kommen», sagt Carlo KnöpfelExterner Link, ehemaliger Caritas-Mitarbeiter und inzwischen Professor an der Hochschule für Soziale Arbeit in Basel (FHNW).
swissinfo.ch: Die Schweiz ist eines der reichsten Länder der Erde. Und doch gibt es Schätzungen, die von 530’000 Armen und 500’000 Armutsgefährdeten ausgehen. Wie ist das möglich?
Zahlen zur Armut in der Schweiz
Gemäss Schätzungen von Caritas Schweiz liegt das Einkommen von 530’000 Personen in der Schweiz unter dem Existenzminimum. Das entspricht 6,6 Prozent der Bevölkerung. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) hat dieses Existenzminimum bei 2600 Franken für alleinstehende Personen und bei 4900 Franken für eine vierköpfige Familie festgelegt (Stand 2015). Dazu kommen noch 530’000 Personen in prekären finanziellen Verhältnissen. Sie gelten als armutsgefährdet.
Erwerbslose Personen sind am stärksten armutsgefährdet, ausserdem Menschen ohne postobligatorische Ausbildung, Arbeitnehmer mit sehr geringen Einkommen («Working poor»), Familien mit mehr als zwei Kindern und Alleinerziehende. In der Schweiz lebt jede siebte Einelternfamilie in Armut. Gemäss einem vor kurzem erschienenen BerichtExterner Link des Bundesamtes für Statistik sind in der Schweiz 73’000 Kinder von Armut betroffen, d.h. bei jedem zwanzigsten Kind fehlt zu Hause das Geld zum Leben.
Carlo Knöpfel: Armut ist ein relativer Begriff. Mit Sicherheit lassen sich Arme in der Schweiz nicht mit Armen im Südsudan vergleichen. In der Schweiz gilt eine Person oder eine Familie als arm, wenn sie ein bestimmtes Einkommen nicht erreicht (Details siehe Kasten). Doch wir dürfen den Begriff der Armut nicht nur materiell sehen. Arm sein heisst nicht nur, nicht genug Geld zu haben.
swissinfo.ch: Was bedeutet es dann, arm zu sein?
C.K.: Wer finanziell eingeschränkt ist, muss sich häufig mit einer Vielzahl von Problemen auseinandersetzen. Es kann Schwierigkeiten geben, im Arbeitsprozess zu bleiben oder einen Arbeitsplatz zu finden. Die Wohnverhältnisse sind häufig schlecht, verbunden mit Gesundheitsproblemen. Dazu kommen in vielen Fällen Schulden. All diese Faktoren führen zu einer Marginalisierung und zur Verzweiflung. Eine Person sieht dann häufig keinen Ausweg mehr.
swissinfo.ch: Gibt es besondere Risikogruppen?
C.K.: Insbesondere schlecht ausgebildete Personen unterstehen diesem Armutsrisiko. Immer mehr junge Leute nehmen Sozialhilfe in Anspruch, während bei den Erwachsenen vor allem die über 50-Jährigen Gefahr laufen, vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen zu sein. Zudem sind Personen mit psychischen Problemen und Einelternfamilien zu nennen. Häufig unterbrechen junge Mütter ihre Ausbildung, um für die Kinder da zu sein. Das höchste Armutsrisiko besteht aber für Kinder, die in armen Haushaltungen aufwachsen. Das Vererben der Armut muss unbedingt gestoppt werden.
swissinfo.ch: Doch wie lässt es sich verhindern, dass arme Kinder von heute zu armen Erwachsenen von morgen werden?
C.K.: Bildung und Ausbildung spielen eine ganz wichtige Rolle. Es braucht Sprachkurse und unterstützende Begleitung. Diese jungen Menschen brauchen Chancengleichheit. Heute ist sie nicht gegeben, weil unser Bildungssystem die sozialen Unterschiede eher verstärkt. Hausaufgaben sind etwa schwer zu machen, wenn man in beengten und lauten Verhältnissen lebt, wenn es keinen Computer im Haus gibt und die Eltern immer arbeiten müssen.
swissinfo.ch: Wie hat sich Armut in der Schweiz entwickelt?
C.K.: In den letzten 20 Jahren hat sich das Phänomen nicht wesentlich verändert. Das lässt zwei mögliche Rückschlüsse zu: Trotz umwälzender Veränderungen in unserer Welt ist die Armut nicht angestiegen. Man könnte aber auch sagen, dass trotz aller Anstrengungen die Armut nicht zurückgegangen ist. Sicherlich sind in den letzten Jahren neue Risikofaktoren aufgetreten.
swissinfo.ch: Wie kann es dazu kommen, dass eine Person in die Armut abgleitet?
C.K.: Zuerst einmal muss festgehalten werden, dass eine Berufstätigkeit keine Garantie gegen Armut darstellt. Ein Viertel der 530’000 Personen in der Schweiz, die als arm gelten, sind berufstätig. Aber das Einkommen reicht gleichwohl nicht. Es sind «Working poor». Auch eine Scheidung kann fatale Folgen haben. Gemäss der Schweizer Gesetzgebung darf ein Mann nicht unter das Existenzminimum geraten, wenn er der Ex-Ehefrau Alimente bezahlen muss. Das bedeutet umgekehrt, dass geschiedene Frauen und ihre Kinder einem Armutsrisiko ausgesetzt sind.
Und dann gibt es natürlich Drogenabhängige oder Personen mit chronischen Krankheiten wie Migräne oder Rheuma. In der Vergangenheit war es angesichts bestimmter Krankheiten relativ einfach, eine Invalidenrente zu bekommen. Doch inzwischen wurde die Schraube angezogen. Als Resultat gibt es in der Schweiz immer mehr Menschen, die nicht arbeitsfähig sind, aber auch keine IV-Rente beziehen können. Sie enden bei der Sozialhilfe. Dazu kommt noch die steigende Zahl von Asylsuchenden. Und auch anerkannte Flüchtlinge lassen sich nicht so einfach in den Arbeitsmarkt integrieren.
swissinfo.ch: Wie ist Verhältnis zwischen Wirtschaft, Arbeit und Armut?
C.K.: In der Schweiz werden immer mehr hoch qualifizierte Arbeitskräfte gesucht. Es handelt sich um sehr gut bezahlte Jobs. Umgekehrt gibt es immer weniger Jobs für Personen mit keiner oder geringer Ausbildung. Dies geht einher mit dem Einsatz von Robotern und der Auslagerung von Arbeitsprozessen. Die Automatisierung schreitet fort. Denken wir nur an die «Self-Scanning»-Kassen in Supermärkten. Der Kunde, der die Ware einpackt und selbst an der Kasse bezahlt, wird zu einem nicht-bezahlten Mitarbeitenden des Supermarkts. Und gleichzeitig verschwinden die Jobs der Kassierinnen und Kassierer. Das gleiche Phänomen sieht man bei der Buchung von Reisen im Internet.
swissinfo.ch: Es ist sehr praktisch, einen Flug oder ein Hotel von zu Hause aus zu reservieren. Sollte man darauf verzichten, um der Armut vorzubeugen?
C.K.: Man muss nicht unbedingt einen Schritt rückwärts machen. Man kann sich der Entwicklung nicht widersetzen. Aber ich bin überzeugt, dass wir mit unserem Verhalten durchaus etwas bewirken können. Vor einiger Zeit war ich in der Toskana. An einer Tankstelle konnte man zwischen Self-Service oder Bedienung wählen. Vor der bedienten Zapfsäule gab es eine längere Schlange, obwohl es teurer war. Ich habe den Eindruck, dass die Leute bereit sind, für einen Service und für mehr Bequemlichkeit einen Aufpreis zu bezahlen. Das sehen wir auch bei den Hauslieferdiensten, die immer beliebter werden. In diesen Bereichen werden durchaus neue Jobs geschaffen.
swissinfo.ch: Könnte es eine Möglichkeit sein, mehr Arbeitsplätze für Personen ohne Ausbildung zu schaffen?
C.K.: Es könnte ein Anfang sein. Doch die Wirtschaft funktioniert nach ihrer eigenen Logik, um wettbewerbsfähig zu sein. Gewisse Leitplanken wären nötig – nicht mit Verboten oder Verordnungen, sondern mit Anreizen. Denkbar ist beispielsweise, dass Firmen bei der Vergabe von Aufträgen der öffentlichen Hand nur dann berücksichtigt werden, wenn sie einen gewissen Teil ihrer Arbeitsplätze für schlecht ausgebildete Personen zur Verfügung stellen. Dieses System wurde mit Erfolg bei Lehrstellen angewendet. Warum sollte es nicht auch mit wenig qualifiziertem Personal funktionieren? Zugleich müsste die Fort- und Weiterbildung dieser Personen forciert werden, damit sie in der Lohnskala nach oben kommen. Ihre Arbeitsplätze wiederum könnten dann von Arbeitslosen besetzt werden.
swissinfo.ch: Was beunruhigt Sie am meisten an den aktuellen Entwicklungen?
C.K.: Der weit verbreitete Abbau des Sozialstaates. Der Bund spart genauso wie die Kantone. Die Sozialversicherungssysteme werden laufend reformiert. Nicht die Höhe der Bezüge werden gekürzt, aber die Leistungen. Dadurch entsteht neue Armut, mehr Leute müssen von der Sozialhilfe leben. Das ist ein Teufelskreis, aus dem immer neue Armut entsteht. Es ist kontraproduktiv, am Sozialstaat zu sparen. Hingegen sollte man in Bildung und Ausbildung investieren. Der Kampf gegen Armut ist eine langfristige Investition.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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