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«Ascom ist nicht nur aus Steuergründen in Zug»

Jeannine Pilloud
Jeannine Pilloud. Sebastian Magnani / 13 Photo

Der Schweizer Telekommunikations-Konzern Ascom blickt zurück auf eine tiefgreifende Umstrukturierung. Das Unternehmen wandle sich vom Hardware-Hersteller zum Lösungsanbieter, sagt Generaldirektorin Jeannine Pilloud im Interview.

Die Ascom-Gruppe hat in ihrer langen Geschichte, die bis 1862 zurückreicht, viele Veränderungen erlebt. Heute beschäftigt der internationale Anbieter von Kommunikations- und Workflow-Lösungen – besonders für das Gesundheitswesen – 1300 Mitarbeitende in 18 Ländern und hat weltweit 32’000 Systeme installiert.

Im Jahr 2020 erzielte die an der Schweizer Börse kotierte Gruppe einen Nettoumsatz von 281 Millionen Schweizer Franken und einen Gewinn von 6,5 Millionen.

Die Absolventin der Wirtschaftsinformatik-Schule Schweiz (WISS) übernahm im August 2019 die Leitung der Ascom-Gruppe.

Davor war Pilloud in verschiedenen Führungspositionen tätig, unter anderem bei den Schweizerischen Bundesbahnen (Direktorin SBB Personenverkehr, dann Delegierte der SBB für die Entwicklung der ÖV-Branche), bei T-Systems International (Senior Vice President ICTO, Westeuropa) und bei der Bon Appétit Group (CIO, Head of E-Commerce).

SWI swissinfo.ch: Sie leiten die Ascom seit August 2019. Was waren die wichtigsten Veränderungen seither?

Jeannine Pilloud: Wir haben nach dem schwachen Ergebnis des ersten Halbjahres 2019 damit begonnen, unser Unternehmen zu stabilisieren. Wir haben auch unsere Managementstruktur geklärt und geglättet.

Darüber hinaus sind wir näher an unsere Kundschaft herangerückt und haben unsere Produktpalette reduziert. All diese Veränderungen haben natürlich dazu geführt, dass einige Mitarbeitende das Unternehmen verlassen haben und neue Talente hinzugekommen sind.

Was meinen Sie konkret mit «wir sind näher an unsere Kundschaft herangerückt»?

Ascom wird zunehmend zum Lösungsanbieter. In der Vergangenheit haben wir Produkte entwickelt, um sie zu verkaufen. Heute versuchen wir, die Bedürfnisse unserer Kundschaft in einem frühen Stadium der Entwicklung neuer Lösungen und Produkte zu verstehen. Die Nähe zur Kundschaft ist eine Voraussetzung, um ihre Bedürfnisse zu verstehen.

Während acht Monaten waren Sie sowohl Verwaltungsratspräsidentin als auch Generaldirektorin von Ascom. Befürworten Sie diese Doppelrolle, die in den USA durchaus üblich ist?

Ganz und gar nicht. Ich denke, die Rollen sind grundlegend verschieden. Der Verwaltungsrat hat eher eine kontrollierende Funktion, während sich das Management auf die operative Seite konzentrieren muss.

Meiner Meinung nach ist eine Doppelfunktion nur dann akzeptabel, wenn sie vorübergehend notwendig ist. Das war bei Ascom seinerzeit der Fall.

Derzeit besteht Ihre Generaldirektion («Executive Board») nur aus zwei Mitgliedern: dem Finanzchef und Ihnen selbst…

Mit den administrativen Anforderungen des Minder-Gesetzes – speziell der Genehmigung der Management-Vergütungen durch das Aktionariat – ist eine solche Konstellation bei börsenkotierten Schweizer Unternehmen unserer Grösse keine Seltenheit mehr. Meiner Meinung nach ist es sinnvoller, unsere erweiterte Direktion («Executive Commitee») zu betrachten, die aus 12 Mitgliedern besteht.

Etwa die Hälfte aller extern eingestellten Führungskräfte scheitert, auch weil sie von ihren Untergebenen abgelehnt werden. Das ist bei Ascom offensichtlich nicht der Fall. Was ist Ihr Erfolgsrezept?

Ich habe in meiner Laufbahn für viele Unternehmen gearbeitet, aber ein Erfolgsrezept habe ich nicht. Ich denke jedoch, dass eine Führungskraft, bevor sie eine neue Position annimmt, ernsthaft überlegen sollte, wozu sie wirklich fähig ist.

Auch sollte sie sich nicht von den Verlockungen des Geldes, des Prestiges oder der Macht leiten lassen. In meinem Fall zum Beispiel könnte ich kein Unternehmen leiten, das in der Tabakindustrie tätig ist, weil ich mich nicht mit ganzem Herzen dafür einsetzen könnte.

Welches waren Ihre unmittelbaren Prioritäten, als Sie die Leitung von Ascom übernahmen?

Ich habe zwei Monate lang fast alle unsere Niederlassungen weltweit besucht. Und ich habe unseren Mitarbeitenden immer die gleiche Frage gestellt: «Wie kann das Management Ihnen helfen, Ihre Arbeit besser zu machen?» Dann habe ich mein ganzes Management zusammengetrommelt und sie gefragt, was ich tun kann, um sie erfolgreicher zu machen.

«Die Beurteilung der Persönlichkeit ist nicht einfach und kann nicht aus Büchern gelernt werden.»

Was sind die wichtigsten Eigenschaften, die Sie bei der Einstellung einer Führungskraft beurteilen?

Die beruflichen Fähigkeiten und die Persönlichkeit. Die Beurteilung der Persönlichkeit ist nicht einfach und kann nicht aus Büchern gelernt werden: Man muss sich dabei auf seine Erfahrungen stützen. Ich bin natürlich für Vielfalt, nicht nur in Bezug auf das Geschlecht, sondern auch in Bezug auf Nationalitäten, Hintergründe und Persönlichkeiten.

Kommen wir zurück zum Geschäft: Ihre Rentabilität ist von Land zu Land sicher unterschiedlich. Wäre es sinnvoll, sich auf einige wenige hochprofitable Länder zu konzentrieren?

Ascom hat eine solide Basis und ist in 18 Ländern mit Tochtergesellschaften vertreten. In der Regel sind wir in allen Ländern rentabel, die wir abdecken. Darüber hinaus ermutigen uns Vertreterinnen und Vertreter der Finanzwelt, neue Märkte zu erschliessen.

Die Industrieländer, namentlich Europa, die USA und andere Märkte wie Singapur oder Australien, sind für Ascom sehr interessant. Denn die steigenden Gesundheits- und Arbeitskosten sorgen für eine grosse Nachfrage nach unseren Lösungen.

Ihre Lösungen gewährleisten den Informationsfluss auch in kritischen Situationen. Würden sie an Bedeutung verlieren, wenn die normalen Smartphones verbessert würden?

Sicher nicht, denn die Hersteller von Consumer-Smartphones haben offensichtlich nicht die Absicht, ihre Produkte für den Einsatz in kritischen Situationen fit zu machen. So sind unsere medizinischen Telefone vollständig desinfizierbar und stossfest. Dank der DECT-TechnologieExterner Link funktionieren sie auch an jedem Ort, sogar unter der Erde.

Darüber hinaus sind diese Telefone mit Hot-Swap-Akkus ausgestattet, um einen unterbrechungsfreien Betrieb zu gewährleisten, da es für Patientinnen und Patienten um Leben und Tod gehen kann. Und sie verfügen über eine Funktion zum Schutz von Menschen, die alleine arbeiten.

«Die Hersteller von Consumer-Smartphones haben offensichtlich nicht die Absicht, ihre Produkte für den Einsatz in kritischen Situationen fit zu machen.»

Sie decken nicht nur den Gesundheitssektor ab, sondern sind auch im Einzelhandel und in der Industrie tätig. Mit welchen Synergieeffekten?

Es gibt viele Ähnlichkeiten zwischen den Bedürfnissen der Kundschaft im Unternehmenssektor und im Gesundheitswesen. Zentrale Anliegen in beiden Bereichen sind die Notwendigkeit effizienterer Arbeitsprozesse und die Sicherheit der Mitarbeitenden.

Die Synergien sind deshalb enorm, denn viele unserer Lösungen sind unabhängig von einem Anwendungsbereich. So ist die Fähigkeit, auch in kritischen Situationen einsatzfähig zu bleiben, nicht nur in der medizinischen Versorgung wichtig, sondern auch in der Industrie oder im Einzelhandel.

Der Börsenwert und die Finanzergebnisse von Ascom haben in den letzten Jahren stark geschwankt. Wie konnten Sie das den Finanzmärkten erklären?

Wir kommentieren die Entwicklung unseres Aktienkurses nicht. Er wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Allerdings muss dabei auch die vollständige Umstrukturierung unserer Gruppe berücksichtigt werden.

In der Vergangenheit waren wir ein Hardware-Hersteller. Wir haben uns in der Zwischenzeit zu einem internationalen Anbieter von Kommunikations- und Flow-Management-Lösungen entwickelt. Im Zug dieses Wandels gewinnt der Softwarebereich immer mehr an Bedeutung.

Sieben Finanzanalysten mit Sitz in der Schweiz verfolgen regelmässig Ihre Aktivitäten. Würden Sie sich wünschen, dass mehr Analysten, besonders solche aus dem Ausland, über Sie berichten?

Ich stelle ein grosses Interesse der Finanzmärkte an unserem Unternehmen fest. Nicht zuletzt, weil wir einen intensiven Dialog mit der Finanzwelt führen und in einem sehr attraktiven Marktsegment tätig sind.

Ich habe keinen Einfluss auf die Anzahl der Analysten, die uns beobachten. Aber für ein Unternehmen unserer Grösse ist sie derzeit recht hoch. Darüber hinaus begrüssen wir bei unseren Presse- und Analystenkonferenzen auch Finanzfachleute aus dem Ausland.

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Ihre letzte Jahres-Hauptversammlung fand aufgrund der Pandemie ohne die Anwesenheit Ihrer Aktionärinnen und Aktionäre statt. Was sind die Folgen davon?

Ich habe die Abwesenheit unserer Aktionärinnen und Aktionäre bedauert. Ich freue mich auf unsere nächste Hauptversammlung, die persönlich abgehalten werden wird, falls die Pandemie-Situation im kommenden Jahr es zulässt.

Ich halte es für wichtig, dass auch Kleinaktionärinnen und -aktionäre die Möglichkeit haben, ihre Fragen zu stellen. Was unsere Grossaktionäre betrifft, so führen wir im Rahmen unserer normalen Investor Relations einen Dialog mit ihnen.

Der Hauptsitz von Ascom befindet sich in der Kleinstadt Baar im Kanton Zug. Haben Sie Schwierigkeiten, die von Ihnen benötigten Talente zu finden?

In Baar beschäftigen wir rund 25 Mitarbeitende. Angesichts der Nähe zu Zürich, der geringen Grösse der Schweiz und der Attraktivität unserer Arbeitsplätze haben wir keine Schwierigkeiten, qualifizierte Mitarbeitende aus der Schweiz zu gewinnen.

Andererseits ist die Situation für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus dem Ausland seit dem Beginn der Pandemie schwieriger geworden. Die zentrale Entwicklung unserer Software und mobilen Lösungen findet aber hauptsächlich in Italien, Schweden und den USA statt. Dort können wir leicht das benötigte qualifizierte Personal finden.

Zug ist bekannt für seine milde Besteuerungspraxis. In Zukunft könnte ein weltweiter Mindeststeuersatz von 15% auf Gewinne zur Norm werden. Was wären die Folgen für Ascom?

Es wäre falsch, zu glauben, dass wir nur aus Steuergründen im Kanton Zug ansässig sind. Wir haben den Kanton Zug gewählt, weil er ein attraktiver Wirtschaftsstandort für internationale Unternehmen ist.

Auf jeden Fall werden unsere Gewinne nach den Verrechnungspreis-Regeln in erster Linie in jenen Ländern besteuert, in denen wir unsere Haupttätigkeit ausüben. Das bedeutet, im Ausland und in geringerem Mass in den Kantonen Waadt und Aargau, wo sich unsere operativen Zentren für den Schweizer Markt befinden.

Wo sehen Sie Ascom in zehn Jahren?

Ich bin überzeugt davon, dass Ascom international weiter wachsen wird. Denn die Nachfrage nach unseren Lösungen hält an, und alle unsere installierten Systeme ermöglichen uns, neue Einnahmen zu generieren. Wir werden jedoch ein Unternehmen mit zentralen Kompetenzen und dezentralem Einsatz in der ganzen Welt bleiben.

Ausserdem wird unsere Belegschaft nicht wesentlich wachsen, da wir die Produktion unserer Produkte und die Integration unserer Lösungen weitgehend auslagern. Es ist unvorstellbar, dass wir wieder 18’000 Menschen beschäftigen werden wie in den 1990er-Jahren, als wir ein Dutzend Fabriken zur Herstellung von Mobiltelefonen hatten.

(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

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