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Demokratie nach Schweizer Vorbild für Deutschland?

Deutschland Schweiz
Anhänger der rechtsnationalen "Alternative für Deutschland" AFD (links), Teilnehmer an der Landsgemeinde Glarus in der Schweiz. Keystone

An der Konferenz der Auslandschweizer-Organisation ASO in Dresden beleuchteten vier Referenten aktuelle Fragen der Demokratie aus unterschiedlichen Perspektiven. Was ist Schweizer Demokratie im Unterschied etwa zur deutschen? Die Antworten darauf machten klar, dass die Gegenwart hier wie dort voller Herausforderungen steckt.

«Unter Demokratie verstehen wir Schweizer manchmal etwas ganz anderes als die Deutschen.» Das sagte Peter Kaul, der Schweizer Honorarkonsul in Dresden einleitend. Er benannte zwei Merkmale, die für ihn typisch schweizerisch sind:  Direkte Demokratie beginne unten, nicht oben, also auf kommunaler Ebene. Und bei der direkten Demokratie entscheide der Bürger über Einnahmen und über Ausgaben, denn «Finanzen und Verantwortung gehen Hand in Hand.» 

Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch. Hier äussern nebst internen auch aussenstehende Autoren ihre Ansichten. Ihre Positionen müssen sich nicht mit jener von swissinfo.ch decken.

Kaul fügte an: «Diese Grundsätze werden in Deutschland zu wenig berücksichtigt, wenn darüber nachgedacht wird, wie der wachsenden Unzufriedenheit im Land begegnet werden könnte.»

Auch Schockierendes hat seinen Platz 

Es war eine Anspielung auf ein Phänomen, das den Tagungsort Dresden in den Fokus der Medien gerückt hat: Die Aufmärsche der fremdenfeindlichen PegidaExterner Link, eine Organisation vom äussersten rechten Rand, deren Mitglieder sich jede Woche in Dresden zur Montagsdemo versammeln. Und dabei Parolen verbreiten, die teils schockieren. 

Konferenz
Konferenz der Auslandschweizer am 10. Mai 2018 in Dresden. swissinfo

Aber Schockierendes – darin waren sich alle Referenten einig – hält eine Demokratie aus. Schockierte müssten lernen, dass zur Demokratie eben auch die Meinungsfreiheit gehört, gilt in einer Demokratie doch zuallerst «Ds Wort isch fry» («Das Wort ist frei»). Es ist der Leitspruch der Glarner Landsgemeinde und bedeutet dort: Wer reden will, der soll sich nun äussern. 

Ist man in Glarus noch zeitgemäss?

Andrea Trümpy, die ehemalige Gemeindepräsidentin von Glarus, stellte in ihrem Referat in Dresden diese Ur-Institution der direkten Demokratie vor. Charakteristikum: Ein einziger Bürger kann einen Antrag stellen und damit sozusagen eine Initiative lancieren. Ist das noch zeitgemäss? «Gibt es eine Überlebenschance für die Landsgemeinde?» Die Frage kam von einer Zuhörerin. Trümpys Antwort fiel kurz und firm aus: «Die Landsgemeinde bleibt. Diskussionen darüber gab es oft, aber heute ist das alles kein Thema mehr.» 

Schweizer in Deutschland

Deutschland bildet die zweitgrösste Auslandschweizergemeinschaft nach Frankreich und vor den USA. 2018 leben rund 88’600 Schweizer Bürger in Deutschland, 64 % von ihnen sind Mehrfachbürger und 58 % über 65 Jahre alt. Jährlich ziehen 3000 Schweizer nach Deutschland.

Zunehmend zum Thema wird die direkte Demokratie hingegen in Deutschland. Demokratieforscher Peter Neumann von der Uni DresdenExterner Link beleuchtete den Stand der Demokratie in seiner Heimat. «Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus», steht dort in der Verfassung. Direkte Demokratie kennt Deutschland zwar auf Gemeindeebene, aber nur rudimentär auf Ebene der Länder – und gar nicht auf Ebene des Bundes. «Dreiviertel der Bevölkerung äussern bei Umfragen aber regelmässig den Wunsch, dass auch auf Bundesebene Initiativen möglich sein sollen», stellte Neumann fest. 

Neue «Elemente der Bürgerbeteiligung» gesucht

Diesen Wunsch hat die Politik gehört und tastet ihm seit kurzem erstmals vorsichtig entgegen. Im Koalitionsvertrag der neuen deutschen Regierung, präsentiert im März 2018, ist festgehalten, dass eine Expertengruppe bald schon untersuchen soll, «ob und in welcher Form unsere bewährte parlamentarisch-repräsentative Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie ergänzt werden kann». 

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Das klingt schüchtern, und dafür gibt es Gründe: «Wir tun uns ein bisschen schwer mit der direkten Demokratie», sagte Neumann, «bis Mitte der 1980er-Jahre war sie nahezu Teufelszeug.» Nur wenn Deutschland über enorme Umwälzungen zu bestimmen hatte, kam in der Vergangenheit auch die Debatte auf, ob nicht grundsätzlich über solche Dinge abgestimmt werden sollte: Erstmals bei der Wiederbewaffnung in den 1950er-Jahren, dann beim Nato-Doppelbeschluss 1979, zuletzt bei der Wiedervereinigung 1989. 

Deutschlands Rechte nimmt Schweiz zum Vorbild

Waren es traditionellerweise stets die äusserste Linke und allenfalls noch Sozialdemokraten, die für mehr Beteiligung des Volkes einstanden, wird das Thema in jüngster Zeit von rechtsnationalen Kreisen propagiert, am heftigsten von der Bürgerbewegung «Alternative für Deutschland» AFD. Wörtlich fordert diese die «direkte Demokratie nach Schweizer Vorbild» auch für Deutschland. Man will mitreden können, wenn die Bundesregierung beim nächsten Mal über so Dinge wie die Aufnahme von Migranten oder Milliardenhilfen für Griechenland entscheidet. 

AFD-Propaganda
zvg

Kein Copyright auf Schweizer Demokratie

Die Schweiz-Kampagne der AFD erfolgte im Übrigen eher zum Leidwesen der Schweizer Botschaft in Berlin, wie an der ASO-Konferenz zu erfahren war. Viktor Vavricka, der stellvertretende Schweizer Botschafter in Berlin, erzählte, dass sich besorgte Auslandschweizer bei der Botschaft in Berlin nach Legitimität und Legalität des entsprechenden Propagandamaterials erkundigt hätten. «Wir müssen die Deutungshoheit über die direkte Demokratie der Schweiz bei uns behalten», mahnte Vavricka. Auch deshalb habe die Botschaft Abklärungen getätigt. Das Ergebnis sei klar: «Massnahmen sind rechtlich nicht möglich und politisch nicht opportun», sagte Vavricka. Mit andern Worten: Die Schweiz hat kein Copyright auf ihre direkte Demokratie. 

„Demokratie ist für die Schweiz ein Wert an und für sich. Und wir teilen mit Deutschland die wertebasierte Aussenpolitik.“ Viktor Vavricka, Schweizer Botschaft in Berlin

Sie soll auch nicht kopiert werden. Die ihr zugrundeliegenden Werte aber durchaus, denn Demokratie ist ein Schweizer Exportprodukt. Viktor Vavricka informierte darüber, dass die Schweiz sich in der Verfassung dazu verpflichtet hat, Demokratie zu fördern – und wie die Aussenpolitik diesen Auftrag umsetzt. Es gehe dabei nie um das Schweizer Modell im Konkreten, sondern immer um Demokratie an und für sich. «Lösungen müssen stets massgeschneidert sein. Das zeigt die Erfahrung“, sagte er mit Verweis auf begleitete Prozesse in Thailand, Tunesien oder Bolivien. 

Wertebasierte Aussenpolitik

Wenn die Schweiz als Demokratieförderin in Erscheinung trete, propagiere sie also nie ein universelles Modell und keine Standardlösungen. Sie agiere stets in Partnerschaften und orientiere sich langfristig sowie an universellen Werten. Denn: «Demokratie ist für die Schweiz ein Wert an und für sich», sagte Viktor Vavricka. Gerne wies er auf eine diesbezügliche Verwandtschaft mit Deutschland hin: «Wir teilen mit diesem Land die wertebasierte Aussenpolitik.»

Der Kommentar von ASO-Vizepräsident, Ständerat Filippo Lombardi offenbarte eine gewisse Sorge: «Es ist gut, dass wir Schweizer die Demokratie fördern. Aber vergessen wir nicht, dass sie in sehr vielen Ländern in Gefahr ist. Sie ist eine sehr empfindliche Pflanze, die man nicht mit Bajonetten und Raketen verbreiten kann.» 

Filippo Lombardi
CVP-Ständerat und ASO-Vizepräsident Filippo Lombardi referierte in Dresden zu aktuellen Fragen der Schweizer Demokratie. Balz Rigendinger

Brauchen Volksinitiativen mehr Regeln?

An der ASO-Konferenz in Dresden gab der Tessiner Ständerat Filippo Lombardi (CVP) Einblick in aktuelle Fragen der Schweizer Demokratie. Nachfolgend zwei Auszüge aus seinem Referat:

«Von den ersten 120 Volksinitiativen in der Schweiz wurden etwa zehn angenommen. Einige haben zu Gegenvorschlägen geführt, andere haben die Politik für das Thema sensibilisiert. Danach hat sich etwas geändert. Mit zunehmender Polarisierung der Schweizer Politik in den letzten 20 Jahren wurde die Volksinitiative zum Politmarketinginstrument für die zwei grössten Parteien, für die SP und die SVP. Das führte dazu, dass mehr Initiativen angenommen wurden als vorher. 

Heute stellen sich aber Fragen: Kann man mit einer Volksinitiative alles verlangen? Kann man etwa auch Dinge verlangen, die gegen ratifizierte Völkerrechtsverträge der Schweiz verstossen? Die Tendenz ist: Ja man kann. Auch eine Volksinitiative für die Wiedereinführung der Todesstrafe in der Schweiz wäre möglich. Die Todesstrafe untersteht ja nicht dem zwingenden Völkerrecht. Nach Annahme einer solchen Initiative müsste die Schweiz lediglich die Europäische Menschrechtskonvention kündigen.“

Lombardi erwähnte in der Folge zwei Initiativen, die seiner Ansicht nach problematisch waren, weil sie schwerwiegende Unverträglichkeiten mit bestehenden Regulativen aufwiesen:

  • Die Ausschaffungs-Initiative: Sie nehme keine Rücksicht auf das Prinzip der Verhältnismässigkeit, auf Menschenrechte und verstosse gegen internationale Konventionen. 
  • Die «Masseneinwanderungs-Initiative»: Sie verstosse gegen die bilateralen Verträge der Schweiz mit der EU. 

Lombardi schilderte, wie diese Initiativen zu langer und strittiger Parlamentsarbeit geführt hätten und im Resultat dennoch kaum zu befriedigen vermögen. 

Fazit des Ständerats aus dem Tessin: «Im Moment ist im Parlament keine Mehrheit für eine strengere Regelung von Initiativen zu finden. Und wenn wir sehen, wie wir es bei den beiden problematischen Initiativen hingekriegt haben, ist das vielleicht auch nicht nötig. Aber wir haben kein Verfassungsgericht, welches das Parlament korrigieren könnte. Und ich muss sagen, ich finde diese Lösung unbefriedigend.»

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