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«2020 war nicht so düster, es gab viele positive Signale»

Ariane Rustichelli
Ariane Rustichelli, Direktorin der Auslandschweizer Organisation (ASO). Butterfly-Photoart

Das neue Jahr kann eigentlich nur besser werden. Immerhin: Die Direktorin der Auslandschweizer-Organisation ASO sieht die Anliegen der Fünften Schweiz gestärkt.

swissinfo.ch: Ariane Rustichelli, Corona bescherte uns allen ein schwieriges Jahr. Für die ASO begann das Unglück aber schon Ende 2019, mit der Abwahl ihres Vizepräsidenten Filippo Lombardi aus dem Ständerat. Wie gross ist der Schaden?

Ariane Rustichelli: Das ist schwer zu sagen, wegen Covid. Lobbyisten hatten im Parlament keinen Zutritt mehr. Das hat die Lobbyarbeit verändert, die Filippo Lombardi dank seinen etablierten Kontakten nun für uns betreibt. Der Kontakt zu den Parlamentariern verlagerte sich auf Mail und Telefon – und das hat funktioniert. So schwarz war dieses Jahr nicht. Es gab uns die Möglichkeit, unsere Webseite zu renovieren (s. Box). Und in der Pandemie nahm die Aufmerksamkeit gegenüber den Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern generell zu. Auch das Thema E-Voting kam von selbst wieder aufs Tapet.

Der Bund hat kurz vor Weihnachten erklärt, dass er einen Restart unternimmt. War das eine grosse Überraschung?

Überraschend kam es nicht. Seitens der Bundeskanzlei war der Wille immer sehr klar. Erfreulich ist, dass der Bund nun exakt das umsetzt, was der Auslandschweizer-Rat 2019 in einer ResolutionExterner Link gefordert hatte.

2019 sind in der Schweiz wegen Sicherheitsbedenken und aus Kostengründen alle E-Voting-Bestrebungen gestoppt worden. Was sind die Lehren, die man aus dem Debakel ziehen kann?

Das grosse Learning ist: Der Bund muss den Lead übernehmen. Koordinieren allein reicht nicht, er muss führen und finanzieren. Das ist, was jetzt endlich geschieht. E-Voting ist so komplex, das kann nur der Bund. Natürlich gibt es den Einwand, dass die politischen Rechte in der Schweiz kantonal organisiert sind. Aber das ist lösbar, gerade wenn man analysiert, warum es bisher nicht geklappt hat. 2003 gab es erste Tests, 2015 gab es drei Systeme. Jetzt sind wir bei Null – und niemand weiss, wieviel Geld auf dieser Strecke liegen blieb. Das ist eine Katastrophe. Es gab zu viele Akteure, und die Erwartungen waren zu unklar. Am Ende braucht es in jedem Prozess jemanden, der entscheiden kann.

Jetzt, wo das Projekt wieder lebt, was ist die Erwartung der ASO?

Bei den kommenden E-Voting-Testläufen wird das Elektorat begrenzt sein. Eine Erwartung ist, dass die Fünfte Schweiz zu den 30% gehört, die an den Versuchen teilnehmen dürfen. Und dann wünschen wir uns natürlich, dass rasch weitere Kantone mitmachen. Ziel muss sein, dass E-Voting bei den eidgenössischen Wahlen 2023 allen Bürgern und Bürgerinnen im Ausland zur Verfügung steht.

Es ist ein ultrateures Projekt und nützt nur einer spezifischen Gruppe: Verstehen Sie diesen Einwand?

Die Fünfte Schweiz ist die erste, die davon profitiert, aber längst nicht die einzige. Ja, das Bedürfnis bei den Auslandschweizern ist grösser und dringender. Aber die Pandemie hat uns vorgeführt, dass auch unser normales Abstimmungssystem sehr fragil ist. Zudem: Wenn die Schweiz die Jüngeren an die Urnen holen möchte, tut sie gut daran, ihnen eine digitale Lösung anzubieten.

Und dann werden Skepsis und Sicherheitsbedenken einfach verfliegen?

Natürlich nicht, die werden bleiben. Wir sagen ja auch: Wenn es andere Möglichkeiten gibt, die Auslandschweizern ihr Wahlrecht ermöglichen, ist das für uns in Ordnung. Der aktuelle Vorstoss für einen Botschaftsversand zum Beispiel: Der ist gut, aber eine Zwischenlösung.

War die ASO bei diesem Postulat involviert?

Nein. Es gibt neue, junge Parlamentarier, welche die Anliegen der Auslandschweizer aufgreifen, ohne dass wir involviert sind. Das bedeutet: Unsere Lobbyarbeit hat eine Basis gelegt, die nun Früchte trägt. Es geht also auch ohne Präsenz in der Wandelhalle – auch wenn Filippo Lombardi darin kaum zu schlagen ist.

Sie sehen im Parlament also eine gewachsene Sensibilität für die Anliegen der Auslandschweizer?

Ja. Ich habe den Eindruck, man versteht die Notwendigkeit, dass fast 200’000 Schweizer Bürger ihre politischen Rechte ausüben können. Knappe Abstimmungsresultate haben dazu wohl beigetragen, zuletzt die Kampfjet-Finanzierung und die Ständeratswahl im Tessin. Viele Parlamentarier realisieren, dass die Stimmen aus dem Ausland den Unterschied machen können.

«Wir fokussierten stark auf die Bedürfnisse der Auslandschweizer», sagt Ariane Rustichelli über den erneuerten Auftritt der Auslandschweizer-Organisation ASO im Web. Die neue Plattform wird in diesen Tagen aufgeschaltet. Auf swisscommunity.orgExterner Link findet sich neu alles vereint: Die Schweizer Revue, die Informationen der ASO sowie die bisherige Seite. Die Struktur wurde aufgeräumt und klarer, die Übersicht erleichtert. In der neuen Struktur sind die Themen, welche die für die Auslandschweizer relevanten sind, übersichtlich dargestellt.

Und im Community-Bereich wurde ein neues Angebot geschaffen mit der Idee, dass sich auch die Clubs aktiver beteiligen können. Sie werden in diesem Bereich auch ihre eigene Webseite unterhalten können oder sich vom Auftritt von anderen Clubs inspirieren lassen. Vorgesehen ist zudem, dass die Generationen innerhalb der Community besser miteinander ins Gespräch kommen können. «Unser Ansatz war Bottom up, also weg von der institutionellen Logik – hin zu den Bedürfnissen unserer Nutzer, den Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer.»

Das ist zwiespältig. Was, wenn die Auslandschweizer das Resultat bei den Kampfjets gekippt hätten? Die Frage wird gestellt: Dürfen die reinreden, wenn sie keine Steuern zahlen?

Zuerst muss man dazu sagen: Es gibt zu den Stimmen aus dem Ausland keine umfassenden Zahlen. Solange nicht alle Kantone die Stimmen ihrer Auslandbürger separat zählen, bleiben wir immer bei Wahrscheinlichkeitsrechnungen. Ich fände es darum wichtig, dass wir endlich die Zahlen von allen Kantonen hätten. Das wäre nicht nur für uns, sondern auch für unsere Demokratie interessant.

Der Vorwurf des Reinfunkens bliebe bestehen…

…und die Antwort ist: Das ist Teil der Demokratie. Wir haben in der Schweiz dieses Bürgerrecht definiert. Man kann natürlich fragen: Ist es richtig, dass jemand, der seit 30 Jahren nicht mehr in der Schweiz wohnt, auch abstimmen kann? Meine Antwort ist, dass man auch hier wieder die Zahlen anschauen muss: Von den 800’000 Auslandschweizern sind 180’000 als Stimmbürger registriert. Viele distanzieren sich also selbst, wollen sich gar nicht einbringen. Viermal im Jahr abzustimmen ist Verantwortung, es kostet Zeit, man muss es lernen. Politisch aktiv sind darum ohnehin meist diejenigen, die für eine kürzere Zeit ins Ausland gehen. An den Stimmbeteiligungen der Auslandschweizer können wir zudem ablesen, dass sich viele eher zurückhalten, wenn sie nicht direkt betroffen sind.

Das bringt uns zur Begrenzungsinitiative, die viele Auslandschweizer direkt betraf. Hier mobilisierte die ASO mit viel Aufwand für ein Nein. Dann war das Resultat so klar, dass es diese Arbeit gar nicht gebraucht hätte. Vergebliche Mühe?

Nein, der Kampf hatte auch eine symbolische Komponente. Es war wichtig zu zeigen, welche Bedeutung die Personenfreizügigkeit für die Auslandschweizer hat. In der politischen Arbeit darf man zudem nie einen Sieg voraussetzen. Man kämpft bis zur letzten Sekunde, das gehört dazu.

Was sich ebenso von selbst erledigte, war die Initiative für ein E-Voting-Moratorium. Die Unterschriftensammlung wurde eingestellt. Ein richtiger Glücksfall für die ASO, nicht?

Ja. Es ist ein Geschenk, dass wir diesen Kampf nicht führen müssen, zumal der Abstimmungskampf wahrscheinlich eine Verlagerung der Debatte gebracht hätte. Man hätte wohl weniger über das Moratorium gesprochen, sondern über das Recht der Auslandschweizer, politisch aktiv zu sein. Das war unsere Sorge.

Dass irgendwann eine Debatte um die politischen Rechte aufflammt, diese Furcht besteht?

Ja. Aber eine solche Debatte ist Ausdruck einer sehr einseitigen Sicht auf die Auslandschweizer, einer negativen. Die positive Sicht wäre: Ein kleines Land wie die Schweiz, das nicht in der EU und auch sonst nicht in Allianzen eingebunden ist, braucht die Auslandschweizer. Es braucht sie als Türöffner für die Welt. Diese Diaspora hat für das Land einen unglaublichen Wert. Die Schweizer Botschaft in Singapur steht auf dem Grundstück des dortigen Schweizer Clubs. Dieses Bild sagt eigentlich alles.

Das Bild steht aber auch für einen Zeitenwandel. Die Schweizer Clubs haben Nachwuchsprobleme, sie leiden an Überalterung. Wie gross ist das Problem?

Das Phänomen ist normal, es kommt in jedem Milizsystem vor. Es braucht Zeit, um sich zu engagieren, und ältere Leute haben davon mehr. Als ich vor zwölf Jahren bei der ASO angefangen habe, sagte mir der damalige Direktor: «Seit vierzig Jahren redet man davon, dass die Schweizer Clubs aussterben.» Es ist auch klar, dass jüngere und ältere Auslandschweizer unterschiedliche Interessen haben. Eine neue Komponente ist aber mit der Vernetzung durch soziale Medien entstanden. Das hat den Graben verstärkt. Und dennoch – auch das zeigt uns die Pandemie – bleiben echte Treffen wichtig.

Gerade diese Treffen wurden 2020 unmöglich. Alle Kongresse und Clubanlässe fielen aus. Was ging verloren?

Der informelle Austausch, ganz klar. Wir haben aber auch viel gewonnen: Unsere Mitglieder wurden digital fitter. Das ermöglicht uns innerhalb der ASO mehr und dafür kürzere Sitzungen abzuhalten.

Könnte dies auch eine Demokratisierung des Auslandschweizer-Rats möglich machen? Wäre es etwa denkbar, dass nicht mehr alle Delegierten zur Rats-Session nach Bern einfliegen müssten?

Genau. Man könnte auch ASO-Rat sein, ohne den zeitlichen und finanziellen Aufwand zu haben, den das Amt bisher mit sich bringt.

Die Erneuerung des ASO-Rats steht im neuen Jahr an. Wird die Wahl digital erfolgen?

Wir wollten immer Direktwahlen online organisieren. Als es noch E-Voting-Systeme gab, haben wir in Australien und Mexico 2017 Tests gemacht. Jetzt gibt es kein E-Voting-System mehr. Noch ist nicht klar, wie es weitergeht. Die Post hat im dritten Quartal nächstes Jahr nach unseren Informationen allenfalls ihr neues System bereit für einen Test. Für die Wahlen des ASO-Rats wird das aber zu spät.

Feststellen lässt sich: Ausser der ASO kämpfte zuletzt niemand in der Schweiz für E-Voting. Richtig?

Ja, und auch das ist normal. Das ist unsere Rolle. Wenn E-Voting aber dereinst da ist, sind auch die Kantone, der Bund – und viele andere – froh.

Ist der Kampf für das E-Voting nicht auch eine Raison d’être für die ASO?

Nein, unsere Daseinsberechtigung ist der Dienst an den Auslandschweizern. E-Voting ist ein Teil davon, denn es ist wichtig, dass die Stimmen der Auslandschweizer gehört werden. Sie wohnen im Ausland, sie fühlen sich als Schweizer, sie haben einen internationalen Blick auf ihr Land. Sie sind auch Ausländer in ihrem Wohnland. Wenn diese Stimmen hörbar werden, ist das in unseren Augen auch ein Dienst an der Schweiz.

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