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Asylsuchende in der Schweiz: Grünes Licht für umstrittene Handyauswertung

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Immer mehr Migrant:innen nutzen Smartphones, um ihre Reise zu organisieren. Keystone / Boris Grdanoski

Künftig dürfen die Schweizer Behörden die Mobiltelefone von Asylsuchenden kontrollieren, um die Identität der Antragstellenden festzustellen. Diese Methode wird bereits in anderen Ländern angewendet, ist aber höchst umstritten. Deutschland als Pionierland könnte bald gezwungen sein, dieses Vorgehen wieder einzustellen.  

Sehr viele Asylsuchende in der Schweiz sind im Besitz eines Mobiltelefons, verfügen aber nicht über eine Identitätskarte oder andere Ausweispapiere. Das bedeutet, dass sie ihre Identität nicht nachweisen können.

Das Staatssekretariat für Migration (SEM) wird demnächst ihre elektronischen Mobilgeräte überprüfen können, falls dies die einzige Möglichkeit zur Identifikation der Personen oder zur Überprüfung von Reiswegen darstellt. Konkret: Die Daten von Handys, Computern, Tablets oder SmartWatches können von den Behörden ausgewertet werden. Die mit Hilfe einer speziellen Software gesammelten Informationen werden dann ein Jahr lang auf einem sicheren Server gespeichert.

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Keystone / Muhammed Muheisen

Am 15. September 2021 hat das Parlament eine parlamentarische InitiativeExterner Link angenommen, die dem SEM diese neue Kompetenz einräumt. Der Erstunterzeichner der Initiative, Gregor Rutz, Nationalrat der Schweizerischen Volkspartei (SVP), begründet seinen Vorstoss im Initiativtext unter anderem wie folgt: «Es ist widersinnig, dass die Behörden bei der Feststellung der Identität im Dunkeln tappen, jedoch mitgeführte Geräte, welche eine Vielzahl wichtiger Daten erhalten, im Verfahren nicht berücksichtigen dürfen.»

In der Parlamentsdebatte versicherte Justiz- und Polizeiministerin Karin Keller-Sutter, dass diese Massnahme ausschliesslich zur Identifizierung einer Person verwendet werden dürfe und nicht zu anderen Zwecken. Dem datenschutzrechtlichen Zweckbindungsprinzip müsse Rechnung getragen werden. «Es wurden verschiedene Vorkehrungen getroffen, um einen Missbrauch zu verhindern und den Schutz der Privatsphäre zu gewährleisten», fügte sie hinzu.

Ein Verstoss gegen das Recht auf Privatsphäre

Organisationen für den Schutz und die Rechte von Flüchtlingen sind wenig erbaut von dieser Neuerung.  «Die Massnahme ist unverhältnismässig und stellt eine schwere Verletzung des Rechts auf die Privatsphäre dar», meint Eliane Engeler, Mediensprecherin der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFHExterner Link). Ein weiterer Kritikpunkt: Die Datenkontrolle unterliege nicht der Autorisierung durch ein Gericht, so wie dies im Rahmen von Strafverfahren der Fall sei, wenn Personen schwerwiegender Straftaten verdächtigt werden.

Das neue Gesetz hat sogar eine Reaktion des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCRExterner Link) ausgelöst. Das UNHCR anerkennt das Interesse von Staaten an der Identifizierung von Personen, die sich auf ihrem Staatsgebiet aufhalten. Die UNO-Agentur betont jedoch, dass der uneingeschränkte Zugang zu persönlichen Informationen eine erhebliche Verletzung in Bezug auf den Schutz der Privatsphäre darstelle. Dabei sei diese Privatsphäre sowohl durch internationales Recht als auch durch die Schweizer Verfassung geschützt. «Ein solcher Eingriff ist nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen zulässig, die der Gesetzentwurf nicht erfüllt», sagt Anja Klug, Leiterin des UNHCR-Büros für die Schweiz und Liechtenstein.

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Die Kontrolle und Datenauswertung von Mobiltelefonen stellen nach Ansicht des UNHCR kein geeignetes Mittel dar, um die Identität, die Staatsangehörigkeit und die Reiseroute von Asylbewerbern festzustellen. «Während einer Flucht können Mobiltelefone von mehreren Personen benutzt werden, auch von Schleppern. Es kann daher schwierig sein, Daten einer bestimmten Person zuzuordnen. Ausserdem können elektronische Daten leicht manipuliert oder zerstört werden», meint Anja Klug.

Kritik an Trend zur Datenauswertung

Im Zuge der Migrationskrise 2015 begannen mehrere europäische Staaten damit, die Mobiltelefone von Asylsuchenden auszuwerten. Die Methode stiess jedoch praktisch überall auf Kritik. In Belgien und Österreich wurde sie nie umgesetzt, unter anderem aus Gründen des Datenschutzes.

In Deutschland ist die Überwachung der Handys von Migranten seit 2017 durch ein Gesetz geregelt.  Doch wird die eingeführte Praxis von Gerichten in Frage gestellt. Im Juni 2021 hat ein Verwaltungsgericht in Berlin die Handy-Kontrolle im Falle einer afghanischen Asylbewerberin für rechtswidrig erklärt. Die Frau hatte keinen Reisepass, als sie 2019 in Deutschland Asyl beantragte. Um zu überprüfen, ob die Migrantin tatsächlich aus Afghanistan stammt, beschlagnahmten die Einwanderungsbeamten ihr Smartphone und durchsuchten die Daten auf dem Gerät mithilfe einer Software. Einen Monat später wurde ihr Asylantrag abgelehnt.

Keystone / Muhammed Muheisen

Mit der Unterstützung von Menschenrechtsorganisationen beschloss Farahnaz S. sich zu einer Klage vor Verwaltungsgericht. Dieses entschied, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gegen das Gesetz verstossen habe, indem es die bei der Durchsuchung erlangten Informationen unnötigerweise gespeichert habe.  Der Fall könnte nun sogar bis ans Bundesverfassungsgericht gelangen, das die Befugnis hätte, das Gesetz von 2017 zu kippen. Zwei weitere Migranten aus Syrien und Kamerun haben eine ähnliche Klage eingereicht.

Matthias Lehnert, Anwalt von Farahnaz S. und Spezialist für Migrationsrecht, ist der Meinung, dass diese verschiedenen Fälle die deutschen Behörden zwingen könnten, ihre Methoden zu überdenken. «Ich hoffe, dass die Durchsuchung von Mobiltelefonen, die eine schwere Verletzung der Grundrechte darstellt, verboten wird», sagte er.

Diese Kontrollen sind auch für die Betroffenen destabilisierend. «Ich weiss nicht mehr, ob ich es für sie entsperrt oder ihnen meinen Pin gegeben habe», sagte Farahnaz S., deren Namen auf Wunsch ihres Anwalts geändert wurde, in einem Bericht der Deutschen WelleExterner Link. «Aber sie hatten Zugang zu allem.»

Die meisten Menschen hätten Angst, den Inhalt ihres Smartphones den Behörden ganz zu überlassen, sagt Matthias Lehnert. «Manchmal befürchten sie, dass Gespräche oder Fotos zurückgebliebene Familienmitglieder gefährden könnten», sagt der Anwalt.

Kostspielig, aber wenig wirksam

Abgesehen von den rechtlichen und ethischen Aspekten der Handyauswertung wird auch die Wirksamkeit dieser Methode in Frage gestellt. «Die Auswertungen in Deutschland zeigen, dass der Aufwand der Datenauswertung in keinem Verhältnis zum Nutzen steht», meint Anja Klug.

«Asylbewerberinnen und Asylbewerber werden als Versuchskaninchen für die Erprobung neuer Kontroll- und Überwachungstechnologien benutzt»

Matthias Lehnert, Anwalt

Eine im Dezember 2019 veröffentlichte StudieExterner Link der Deutschen Gesellschaft für Freiheitsrechte kommt zur gleichen Schlussfolgerung.  Gemäss dieser Studie kamen die Behörden auf Grund der ausgewerteten Daten nur in einem oder zwei Prozent aller Fälle zur Erkenntnis, dass die jeweilige Person falsche Angaben zu ihrer Identität gemacht hatte. In einem Viertel der Fälle scheiterte die Durchsuchung der Handys oder anderer elektronischer Datenträger an technischen Problemen. In den übrigen Fällen bestätigten die Daten die Aussagen der Migranten.

Die Untersuchung befasst sich auch mit den Kosten für die Hardware und Software, welche die Behörden für die Analyse der Daten benötigen. Zwischen 2017 und April 2018 gab Deutschland demnach 7,6 Millionen Euro aus (zirka 8,3 Millionen Franken), doppelt so viel wie ursprünglich veranschlagt.

Asylbewerbende als Versuchskaninchen?

Für Matthias Lehnert ist die Schlussfolgerung klar: Die Durchsuchung der Smartphones von Migrantinnen und Migranten bringt keinen Nutzen. «Die Regierungen nutzen diese Methode als Mittel zur Einschüchterung von Menschen, die in ihrem Land Asyl suchen», meint er. 

Der Anwalt befürchtet auch, dass diese Technologien zu anderen Zwecken für andere Bevölkerungsgruppen eingesetzt werden. «Asylbewerberinnen und Asylbewerber werden als Versuchskaninchen für die Erprobung neuer Kontroll- und Überwachungstechnologien benutzt», beklagt er.

Seine Befürchtungen werden von den Autorinnen der erwähnten Studie der Gesellschaft für Freiheitsrechte, der Journalistin Anna Biselli und der Juristin Lea Beckmann, geteilt. «Das Vorgehen des BAMF entspricht einem nationalen und internationalen Trend, neue Kontroll- und Überwachungstechnologien an Flüchtlingen zu erproben», schreiben sie abschliessend. «Darüber hinaus bleibt die Ausweitung dieser Technologien für andere Zwecke und auf andere Teile der Bevölkerung eine Bedrohung», heisst es in den Schlussfolgerungen.

Gerhard Lob

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