Der Schweizer Umgang mit Ausgewanderten ist anders – besser
Die Schweiz behandelt ihre Bürgerinnen und Bürger im Ausland gut, viel besser als Deutschland. Unsere Autorin kann das beurteilen. Sie war Auslandschweizerin, jetzt ist sie Auslanddeutsche. Charlotte Theile beleuchtet die Unterschiede.
Kurz nach meinem 18. Geburtstag erhielt ich plötzlich diese Briefe. Dicke Umschläge mit Abstimmungsbögen, allesamt auf Französisch. In dieser Sprache lernte ich Wörter wie Umgehungsstrasse, Ausschaffung und Haushaltsrevision, kreuzte an, was mir richtig erschien und vergass hin und wieder, die Briefe dann auch rechtzeitig zurückzuschicken.
Den Schweizer Kanton, der da auf meine ersten politischen Meinungsbekundungen wartete, hatte ich zu dem Zeitpunkt noch nie betreten. Ich lebte in Norddeutschland, interessierte mich für den Zusammenbruch der rot-grünen deutschen Regierungskoalition, für die neue Kanzlerin, vermutlich auch für die Freigabe von Cannabis.
Ich kannte keine Schweizer Bundesrätin, keinen Schweizer Politiker.
Ich hatte nur einen Schweizer Pass.
Doch damit war ich Teil einer Gruppe, die wichtig genommen wird. Als «Fünfte Schweiz» werden die im Ausland lebenden Schweizer:innen nicht nur viermal im Jahr mit Abstimmungsunterlagen versorgt – sie erhalten auch eine eigene Zeitschrift, die «Schweizer Revue» oder können an gesponserten Jugendlagern teilnehmen. Wir haben diese Angebote auch gerne genutzt. Gerade die Lager waren eine Möglichkeit, das Heimatland meines Vaters besser kennen zu lernen.
Die offizielle Schweiz hat ihre Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer sorgsam im Auge.
Darüber hinaus verfügen Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer über eine ungewöhnlich starke Lobby-Organisation, die ihnen im Inland Gehör verschafft. Das zeigt sich auch bei Wahlen und Abstimmungen: Gerade bei knappen Entscheidungen heisst es immer wieder, ohne die Stimmen aus dem Ausland wäre die Sache anders ausgegangen.
Die offizielle Schweiz hat ihre Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer sorgsam im Auge, ganz selbstverständlich werden die Veränderungen und Bewegungen dieser Community registriert und protokolliert. So verteilten sich Ende des vergangenen Jahres 776’300 Auslandsschweizerinnen und -schweizer über den Globus. Mehr als 420’000 davon sind weiblich, nur bei denen, die nach Asien ausgewandert sind, ist die Männerquote höher. Die meisten leben in Frankreich, doch auch Deutschland, die USA und Italien sind beliebt. Man weiss sogar, wo die Schweizer Expats politisch stehen.
Inzwischen habe ich die Rollen gewechselt. Ich lebe in der Schweiz, habe aber zusätzlich auch einen deutschen Pass, bin also Auslandsdeutsche. Und damit Teil einer Gruppe, die zumindest in Deutschland überhaupt niemanden interessiert.
Wenn ich an der Bundestagswahl im September teilnehmen will, muss ich mich zur Homepage des Bundeswahlleiters googeln, dort ein Formular herunterladen, es ausdrucken, ausfüllen, eine «strafbewehrte eidesstattliche Versicherung» abgeben und das alles an meine letzte deutsche Wohnsitzgemeinde schicken – und dann hoffen.
Es gibt keine Eingangsbestätigung, vielleicht bekomme ich die Wahlunterlagen, vielleicht kommen sie pünktlich an.
Vielleicht aber auch nicht. Der Bundesrepublik scheint es in jedem Fall ziemlich egal, ob ich oder die schätzungsweise drei bis vier Millionen Deutschen, die ihren Wohnsitz im Ausland haben, an den Wahlen teilnehmen. Übrigens: Es könnten auch zwei oder neun Millionen Auslandsdeutsche sein. Wer sich in Deutschland abmeldet, muss nicht angeben, wohin er geht. Man weiss also auch nicht genau, wer es vorzieht, im Ausland zu leben: Sind es mehr Frauen, mehr Männer, Gebildete, Aussteiger? Wie viele zieht es irgendwann zurück, wie viele gehen für immer?
Wer sich an das Statistische Bundesamt in Wiesbaden wendet, findet einige Zahlen zu Deutschen in Europa. Demnach leben 1,2 Millionen Deutsche im europäischen Ausland, gut ein Viertel davon in der Schweiz. Auf Platz zwei folgt Österreich, was die geschulten Statistiker zu der Überlegung bringt, dass der Umzug vermutlich durch «die räumliche Nähe und die fehlende Sprachbarriere» erleichtert würde. An der Stelle endet das Interesse für Auswanderer aber schon wieder.
Hin und wieder gibt es Abgeordnete, die, aufgescheucht von verärgerten Auslandsdeutschen, im Bundestag Anfragen stellen. Ob man das mit dem Wählen aus dem Ausland nicht vereinfachen könnte? Die Adressen der Auslandsdeutschen zentral sammeln? Wahlurnen an Konsulaten und Botschaften einrichten? Ähnliche Fragen wurden auch schon im Parlament der Schweiz diskutiert – denn natürlich gibt es auch hier Überlegungen, Abstimmungen zu digitalisieren oder zu vereinfachen. Was Emigranten auf der ganzen Welt beschäftigt, ist die Frage, ob internationale Postsendungen rechtzeitig ankommen.
Die Antworten im deutschen Bundestag aber zeigen deutlich, wie wenig Priorität diese Bevölkerungsgruppe in Berlin hat: Wer im Ausland lebe, sei selbst dafür verantwortlich, dass es nun eben schwieriger sei, zu wählen. Hieran etwas zu verändern, wäre mit erheblichen Kosten verbunden – und überhaupt: Es gibt weder eine Meldepflicht für Auslandsdeutsche, noch Zahlen zu deren Wahlbeteiligung.
Woher kommt diese Gleichgültigkeit? Ist es die Arroganz eines grossen Landes?
Die einzigen belastbaren Zahlen sind jene, die die Auslandsdeutschen selbst produzieren. Und sie zeigen entweder eine deutlich wachsende Zahl von Auswanderern – oder ein steigendes Interesse an den politischen Vorgängen in der Heimat: 113’000 Anträge auf Eintragung ins Wahlregister gingen vor der Bundestagswahl im September 2017 beim Bundeswahlleiter ein. Vier Jahre zuvor waren es noch 67’000. Ein Viertel davon kommt aus der Schweiz.
Doch auch in Nordkorea, Mikronesien und Panama leben Deutsche, die sich die Mühe gemacht haben, viele Wochen vor der Wahl einen Antrag an den Bundeswahlleiter zu schicken. Ob ihre Stimmen am Schluss tatsächlich gezählt wurden?
Ich lebe jetzt seit fast sieben Jahren nicht mehr in Deutschland – und frage mich immer wieder, woher diese Gleichgültigkeit kommt. Ist es die Arroganz eines grossen Landes, das sich nicht für das interessiert, was hinter seinen Grenzen passiert?
Spricht aus dem deutschen Umgang mit seinen Auswanderinnen und Auswanderern etwas Beleidigtes? Wenn’s euch nicht gut genug ist, dann haut halt ab? All das ergibt in einer globalisierten, vernetzten Welt wenig Sinn. Schliesslich arbeiten viele Auslandsdeutsche für den deutschen Staat oder ein deutsches Unternehmen. Ich zum Beispiel bin als Korrespondentin einer deutschen Tageszeitung in die Schweiz gekommen.
Doch die Bundesrepublik unterstellt ihren Auslandsbürgern, dass sie mit der Zeit den Bezug zu Deutschland verlieren. Wer länger als 25 Jahre im Ausland lebt, ist nicht mehr wahlberechtigt. Viele Auslandsdeutsche ohne zweiten Pass dürfen also nirgendwo mehr wählen.
Der Schweizer Umgang mit Ausgewanderten ist ein anderer. Man geht ganz selbstverständlich davon aus, dass die Auslandschweizer und Auslandschweizerinnen einen Bezug zu ihrer Heimat haben – und dass es ihnen wichtig ist, Kontakt zu halten. Das wird zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.
Zumindest war es bei mir so. Je mehr Post ich aus der Schweiz erhielt, desto mehr interessierte ich mich für dieses Land. Was zu Anfang noch etwas fremd war, wurde schnell zur Gewohnheit: Abstimmen, im Schweizer Fernsehen die Ergebnisse verfolgen, über Berner Politik diskutieren. Das Land meines Vaters wurde dadurch immer mehr zu meinem Land. Ich glaube: Ohne diese Erfahrungen würde ich heute vielleicht nicht in der Schweiz leben.
Als Auslandsdeutsche erlebe ich nun den umgekehrten Effekt.
Mein Interesse an Deutschland war in diesem Jahr gross genug, um schon im Juli persönlich um eine Aufnahme ins Wählerverzeichnis zu bitten. Ob das in vier Jahren auch noch so sein wird? Schwer zu sagen.
Eine ursprüngliche, leicht andere Fassung dieses Beitrags erschien zuerst auf Spiegel OnlineExterner Link.
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