Die einzige Verbindung zur Heimat
Zwischen 1956 und 1979 gab es im Aargau eine Ferienkolonie für Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer. Es war das grosszügige Geschenk eines Industriellen-Paars an Landsleute aus aller Welt.
Fast auf den Tag genau 63 Jahre später stehen sie wieder da: auf dem Vorplatz des Auslandschweizer-Homes im aargauischen Dürrenäsch. Hugo Wyss, Gianni Escher und Costantino Semini. Die Haare der Zeitzeugen, alle um die 80, sind ergraut, die Lebensfreude ist aber ungebändigt.
«Hier wurde also dieses Foto geschossen!» Semini hält seinen beiden Freunden ein Bild unter die Nase. «Schon damals hast du dich nur für Meitli interessiert, Gianni», scherzt Wyss. Erinnerungen werden wach. Wie erwartungsfroh und interessiert sie doch waren, als sie sich damals – 1957 – vor dem Auslandschweizer-Home zum Auslandschweizer-Jugendlager einfanden. Ein Abenteuer war es – und Grundstein einer langen Freundschaft.
Weltweite Feriendestination im Schweizer Mittelland
Erst im Jahr zuvor, 1956, war das kleine Dorf im Süden des Kantons Aargaus plötzlich als weltweite Feriendestination in Erscheinung getreten, zumindest bei den Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern. Verantwortlich dafür war Herbert Bertschy-Ringier. Er gründete in seiner Heimatgemeinde Dürrenäsch das sogenannte Auslandschweizer-Home – eine Ferienkolonie für die Auslandschweizer-Gemeinschaft. Er selbst war auf vielen Reisen, die er für seine Seidenproduktion unternommen hatte, immer wieder Landsleuten begegnet. Sie alle hatten etwas gemeinsam: Sie litten an Heimweh.
Heimweh hatten die drei jungen Auslandschweizer Escher, Semini und Wyss bei ihrem Aufenthalt in Dürrenäsch 1957 aber höchstens nach Italien, wo sie geboren sind. Die Jugendlichen reisten damals aus verschiedenen Ecken in Italien an. Semini aus Neapel, Escher aus Triest und Wyss aus Como. «Wir haben einen Zettel um den Hals gehängt bekommen und sind in den Zug gestiegen», erzählt Semini. Escher und Semini kannten sich damals schon von einem früheren Jugendlager für Auslandschweizer.
«Ich fand es komisch, dass man hier Pasta mit Apfelmus serviert hat!» Hugo Wyss
«An viel kann ich mich aber nicht mehr erinnern», sagt Gianni Escher, während er sich die verschiedenen Gebäude des ehemaligen Auslandschweizer-Homes von aussen anschaut. «Ich weiss noch, dass ich es komisch fand, dass man hier Pasta mit Apfelmus serviert hat!», sagt Hugo Wyss und lacht. Die Schweizer Küche habe ihm gar nicht geschmeckt. «Auf der Ladefläche eines Lastwagens haben sie uns damals nach Teufenthal gefahren», fügt Escher noch hinzu. Danach seien sie alle für einen Ausflug mit dem Zug nach Aarau gefahren.
Heim für jüdische Flüchtlingskinder
Nebst den Begegnungen mit den Heimweh geplagten Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern war es die Liebe zu ihnen, die das Ehepaar Rita und Herbert Bertschy-Ringier dazu bewog, das Home im April 1956 zu gründen. Er war der Sohn eines Seidenfabrikanten, sie die Tochter eines Verlegers. Beide waren sie weltoffen, weitgereist, und sie verfügten über ein ansehnliches Vermögen.
Im Home gab es Platz für 100 Gäste in neun verschiedenen Häusern. Die Idee dazu bestand schon vor dem Zweiten Weltkrieg. Bertschy «stellte dieses Vorhaben jedoch während des Krieges zugunsten des Roten Kreuzes zurück», wie in den Chroniken des Auslandschweizer-Homes zu lesen ist. Die sogenannte Villa diente zwischen 1944 und 1948 dem Roten Kreuz als Heim für jüdische Flüchtlingskinder. Es war das letzte seiner Art.
Mittlerweile zählen die drei Italo-Schweizer nicht mehr zur Gemeinschaft der 5. Schweiz. Wyss reiste aus Neuenburg an, Escher aus dem appenzellischen Teufen und Semini aus dem Kanton Zug. Alle drei haben im jungen Erwachsenenalter an der ETH in Zürich studiert.
So haben sich ihre Wege fortan immer wieder gekreuzt. Alle drei sind in der Schweiz sesshaft geblieben, haben Karriere gemacht und Familien gegründet. Eines ist ihnen in all den Jahren jedoch nicht abhandengekommen: Die tiefe Dankbarkeit, die sie gegenüber ihrem Heimatland empfinden: «Die Schweiz war in der Geschichte sehr grosszügig, was die Doppelbürgerschaft angeht», sagt Hugo Wyss.
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Die Gründerfamilie Bertschy hat mit ihrem Home – so nennt man es in allen Sprachen – einen Nerv der Zeit getroffen. Damals war die Schweiz viel weiter weg, als sie es heute mit der zunehmenden Mobilität und Technologie ist. Für viele Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer war das Home noch die einzige Verbindung zu ihrem Heimatland. Dazu kam, dass ein Aufenthalt hier erschwinglich war: Wer im Haus und Hof mithalf, konnte die bereits geringen Pensionskosten weiter reduzieren.
Fast 7000 Übernachtungen pro Jahr
«Hierher kommen Rekruten auf Heimaturlaub. Hierhin ziehen Rückwanderer, die von Dürrenäsch aus eine neue Existenz aufbauen wollen. Hier kommen sie in die Ferien, hier halten sie ihre Tagungen ab», hiess es in einem Beitrag im Schweizer Fernsehen von 1963.
Kaum ein Land fehlt auf der Liste des Auslandschweizer-Homes, aus denen Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer ins kleine Dörfchen im Süden des Aargaus anreisten. Äthiopien, Haiti, Japan, Philippinen – um einige zu nennen. Die meisten Gäste, die ihre Ferien in Dürrenäsch verbrachten, kamen aber aus Frankreich oder aus französischen Kolonien. Hier wurde also oft französisch gesprochen.
«Viele Pariser wie wir haben ihre Ferien im Auslandschweizer-Home verbracht», erzählt Barty Mekri, 62-jährig, am Telefon. Er kam als Vierjähriger das erste Mal mit seiner Grossmutter und seinem Bruder nach Dürrenäsch. Mekri kann sich noch an viele Details erinnern: an die Zugreise von Paris nach Basel und Aarau, die Fahrt mit der Regionalbahn bis nach Teufenthal und an den Schnee: «Selbst meine Grossmutter hatte damals noch nie so viel Schnee gesehen, und wir dachten: Wo sind wir hier gelandet?»
Das war 1962. Barty Mekri kehrte anschliessend viele Male nach Dürrenäsch zurück. Jeweils für drei Wochen. «Mal im Winter, mal zu Ostern und oftmals für den 1. August», erzählt er. Der Nationalfeiertag war jeweils der Höhepunkt des Jahres für das Auslandschweizer-Home und seine Gäste. Jedes Jahr gab es Ausflüge und Feierlichkeiten, an denen alle teilnehmen konnten.
Durchschnittlich verzeichnete das Home fast 7000 Übernachtungen pro Jahr. Doch als in den Siebzigerjahren das Reisen immer günstiger und die Gäste immer älter wurden, konnte der Betrieb kaum noch aufrechterhalten werden. Kostendeckend war er nie und staatliche Zuschüsse erhielt das Home ebenfalls nicht. Nur der Goodwill der Home-Besitzer, Familie Bertschy-Ringier, die als Mäzen Geld einschoss, machte es möglich, dass das Home jahrelang bestehen blieb.
Es gab verschiedene Projekte, um das Home attraktiv zu halten, doch sie wurden nicht weiterverfolgt. Dass Dürrenäsch weit weg von den grossen Verkehrswegen und die Anbindung an den Öffentlichen Verkehr schlecht war, dürfte mit ein Grund dafür gewesen sein. So waren es vor allem langjährige Stammkunden, die noch ihre Ferien im Home verbrachten. Dazu gehörte auch die Pariser Auslandschweizer-Familie von Barty Mekri.
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«Wäre gerne mit meinen Kindern hierhergekommen»
«Die kurz- und mittelfristigen Zukunftsaussichten sind eher unerfreulich» hiess es in einer Situationsanalyse aus dem Jahr 1978. Es gab weitere Vorschläge, das Home am Leben zu erhalten. Doch dazu kam es nicht mehr. Der Gründer starb während den Verhandlungen zur Konsolidierung im März 1979. Die Familie beschloss, das Home im Herbst 1979 zu schliessen.
«Wir kamen 1979 nochmals nach Dürrenäsch, um uns von allen zu verabschieden», sagt der frühere Stammgast Mekri. Gäbe es das Home heute noch, hätte er es gerne seinen Kindern gezeigt. «Ich bin immer sehr, sehr gerne nach Dürrenäsch gekommen», sagt Mekri wehmütig.
Obwohl sich das Dorfbild Dürrenäschs in den letzten Jahrzehnten verändert hat, zeugen noch einige stattliche Gebäude, die sich nach wie vor im Besitz der Familie Bertschy befinden, von der Zeit der ehemaligen Auslandschweizer-Ferienkolonie. So hängen etwa an der sogenannten Zigarri oder an der Villa noch immer grosse Schilder mit der Beschriftung «Auslandschweizer-Home».
Nach dem Abstecher der drei ehemaligen Gäste des Auslandschweizer-Homes in ihre Vergangenheit vor Ort machen sich Wyss, Escher und Semini wieder auf den Heimweg. Es dürfte sich 63 Jahre nach ihrem ersten Treffen um eine Derniere gehandelt haben, vermutet Hugo Wyss. «Das wird wohl unsere letzte Zusammenkunft gewesen sein», meint er.
Die Besitzer-Familie Bertschy wollte sich auf Anfrage nicht zum Home äussern, vermittelte jedoch den Kontakt zu Isidor Keller, der auch die drei ehemaligen Auslandschweizer Escher, Semini und Wyss in Dürrenäsch empfing.
Keller betreibt zusammen mit einigen Freiwilligen das Dorfmuseum in Dürrenäsch, das einen Teil seiner Ausstellungsfläche dem Auslandschweizer-Home widmet. Er ist direkt neben dem Home aufgewachsen, wo er noch heute wohnt.
Isidor Kellers Mutter arbeitete viele Jahre in der ehemaligen Ferien-Kolonie und weiss deshalb viel über die Geschichte des Homes. Keller empfängt auch interessierte Gruppen in «seinem» Dorfmuseum.
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