Ein Vierteljahrhundert in Russland
Hanspeter Rikli lebt seit über 25 Jahren in Russland. Nahe der ukrainischen Grenze führt er einen Bauernbetrieb. Von den westlichen Sanktionen hält er nicht viel.
1400 Fussballfelder gross ist der Bauernbetrieb von Hanspeter Rikli im südlichen Zentralrussland – ein für russische Verhältnisse mittelgrosser Bauernbetrieb. Hier baut der Auslandschweizer Sojabohnen und Weizen an, dazu kommen Sonnenblumen – ein reiner Ackerbaubetrieb.
Seit über 25 Jahren lebt der gebürtige Oberaargauer in Russland. Zusammen mit seiner russischen Frau und seiner 13-jährigen Tochter lebt und arbeitet er in Woronesch, rund 300 Kilometer östlich der ukrainisch-russischen Grenze. Obwohl in Woronesch über eine Million Menschen leben, gelte der Ort als typisch russische Provinzstadt, so Rikli.
Vom Krieg bekommt die russisch-schweizerische Familie nicht viel mit. «Das Leben hier ist wie vorher», sagt Rikli am Telefon. Einzig die Flugzeuge auf dem nahegelegenen Militärflugplatz höre man starten und landen. Dazu komme die psychische Belastung. «Man spricht darüber, es beschäftigt einem.»
Aber die Situation sei schon seit der Krimkrise schwierig. Die russisch-ukrainischen Freundschaften und Geschäftsbeziehungen seien schon damals zerbrochen. «Hier gab es damals sehr viele Flüchtlinge.»
Vom DEZA-Mitarbeiter zum Landwirt
Hanspeter Rikli ist 66 Jahre alt. Nebst einem abgeschlossenen Studium als Agronom an der ETH Zürich verfügt er auch über einen Abschluss als Übersetzer in Russisch und Englisch. Das erste Mal war er 1991 in Moskau – «just während des Putschs». Boris Jelzin beendete damals die Ära Gorbatschows, dem Vater von Glasnost und Perestroika.
«Mir gefiel es von Anfang an gut und ich habe mich in Russland wohl gefühlt», sagt der Auslandschweizer. Ab 1993 arbeitete Rikli für die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) – die Agentur für internationale Zusammenarbeit im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA). «Ich war während dieser Zeit viel in Russland und Kirgistan.»
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Ab 1997 suchte das DEZA jemanden, der ständig vor Ort war und so arbeitete Rikli drei Jahre lang für die Schweiz in Woronesch. Dann wurde das Projekt abgeschlossen und er stieg beim DEZA aus.
Das war der Zeitpunkt, als er sich entschlossen hatte, selbst einen Bauernbetrieb aus dem Boden zu stampfen. Doch als Kartoffelbauer lief es nicht wie erhofft und nach einigen Jahren, in denen Rikli ums wirtschaftliche Überleben kämpfte, wollte er schon 2013 beinahe aufgeben. Doch dann kamen die Sanktionen im Zusammenhang mit der Krimkrise 2015 und gleichzeitig der Rubel- und Ölpreiszerfall. «Plötzlich wurde die Landwirtschaft in Russland wieder sehr rentabel.»
Im Herzen Schweizer
In Woronesch herrsche ein typisches Steppenklima, es sei im Sommer heiss und trocken und im Winter kalt. «Wasser und Hitze sind die begrenzenden Faktoren», so der Schweizer Landwirt. Doch der studierte Agronom fand einen Weg, wie er sein Land erfolgreich bewirtschaften kann. «Mit Direktsaat bleibt mehr Wasser im Boden und so kann billiger produziert werden.»
Bis zum Ausbruch der Pandemie war Hanspeter Rikli ausserdem als Reiseleiter tätig: Mit einem Freund und einem Partner-Reisebüro in Moskau bot er Agrarreisen in Russland an – beliebte Ferien bei Landwirt:innen aus der Schweiz und Deutschland. Pro Saison kamen so vier bis sechs Reisen zusammen.
Hanspeter Rikli ist im Herzen Schweizer geblieben, obwohl er seit Jahrzehnten «völlig unter Russen lebt.» Er sei in die russische Kultur eingetaucht und bezeichne sich deshalb bereits als halben Russen. Emotional musste er sich von der Schweiz abnabeln, sonst wäre das nicht gegangen. Die Kontakte zu alten Freunden in der Schweiz haben über all die Jahre abgenommen. «Das ist der grösste Verlust.»
Völlig andere Perspektive
Rikli konsumiert westliche sowie russische Medien und ist immer wieder erstaunt, wie unterschiedlich sie über die momentane Situation berichten. Er sagt, es sei als würde der Wetterbericht im Westen Dauerregen melden. Aber er sei hier und er sehe, es scheine seit Wochen die Sonne.
Auch er selbst sieht eher die russische Perspektive, von der westlichen Berichterstattung über den Krieg und die Ukraine hält er nichts. Er bezeichnet Putin als typischen Russen, der als einer der wenigen Politiker im Land den Kontakt zu den Leuten nicht verloren habe. Nichtsdestotrotz meint der Auslandschweizer: «Krieg ist furchtbar. Ich habe selbst den Militärdienst in der Schweiz verweigert.»
Der Schweizer Landwirt führt einen Grossbetrieb und hat fünf Angestellte. Dabei musste er lernen, dass in Russland nur eine stark hierarchische Struktur funktioniert. «Das hat mit der russischen Kultur zu tun.» Dabei müsse man aber nicht meinen, dass von den unteren Hierarchie-Ebenen kein Feedback komme. «Es kommt schon, einfach nicht nach westlichen Kriterien.»
Von den westlichen Sanktionen sind Rikli und seine Familie nicht betroffen. Die russische Mittelschicht werde in seinen Augen auch nicht davon berührt sein. «Es ist eine Illusion des Westens, dass mit den Sanktionen etwas bewirkt wird», ist er überzeugt.
Benzin sowie Grundnahrungsmittel habe es in seiner Region genug, die Lebenskosten hätten nicht angezogen. «Im Moment ist die grösste Leidtragende in der Familie unsere Tochter, weil der McDonalds geschlossen hat», scherzt er. Doch sie hätten bereits Ersatz gefunden.
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