Auslandschweizerin schafft eine Oase in der kanadischen Lebensmittelwüste
Mitten in der Pandemie eröffnete die Auslandschweizerin Pamela Farrell 2020 eine Wohltätigkeitsorganisation, die Bedürftigen einen Zugang zu gesunden Lebensmitteln ermöglicht. Ihre Vision: Ihr Modell landesweit bekannt zu machen und zu fördern.
Eine prägende Kindheitserinnerung von Pamela Farrell ist das Warten mit ihrer Mutter auf den Migros-BusExterner Link: «Das Essen kam zu uns und wir konnten frische Lebensmittel einkaufen.» Etwas, an das in weiten Teilen Kanadas auch heute noch nicht zu denken ist: Frisches und gesundes Essen zu erschwinglichen Preisen in unmittelbarer Nähe.
In Nordamerika gibt es zahlreiche sogenannte Food Deserts. Das sind Lebensmittelwüsten, in denen Menschen nur begrenzt Zugang zu erschwinglichem und gesundem Essen haben. Der nächste Supermarkt liegt in diesen städtischen oder vorstädtischen Gebieten zwei Kilometer entfernt, in ländlichen in mehr als 15 Kilometer, so eine Definition.
Diese Gegenden sind oft wenig attraktiv für die grossen Supermarktketten, da sie in der Regel von Bewohner:innen mit niedrigem Einkommen und eingeschränkter Mobilität bewohnt werden. Die Bevölkerung hat in diesen Food Deserts zwar Zugang zu Lebensmitteln, jedoch oft nur zu ungesunden, verarbeiteten Lebensmitteln und Fertigprodukten.
Das ist ein Grund für die Verbreitung von Fettleibigkeit in den USA und Kanada und ein grosses Thema also auf dem Nordamerikanischen Kontinent.
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«Paradoxerweise befinden sich diese Food Deserts oft in landwirtschaftlichen Gebieten, wo es an frischem Essen eigentlich nicht mangelt», sagt die Auslandschweizerin. Pamela Farrell will dem mit ihrem 2020 eröffneten Community Food Literacy Center «Grow»Externer Link entgegensteuern.
«Pamela macht mitten in der Pandemie den grossen Unterschied für arme Leute. Sie ist ein Vorbild für uns alle und eine ausgezeichnete Botschafter:in für die Schweiz», sagt der freiwillige Helfer bei «Grow», John Turner. Ihn hat das Engagement dieser Auslandschweizerin so beeindruckt, dass er sich damit an SWI swissinfo.ch gewandt hat.
Armut allgegenwärtig
Pamela Farrell ist 1977 in Zürich geboren und aufgewachsen. Seit 2001 wohnt sie in Kanada. «Ich lebe bald länger hier als in der Schweiz», sagt die 44-Jährige. Das sei ein interessanter Punkt in ihrem Leben. Nach 20 Jahren in Kanada ist es denn auch nicht verwunderlich, dass Farrell das Gespräch mit SWI swissinfo.ch am liebsten auf Englisch führen möchte.
Die gelernte Kauffrau hat ihren kanadischen Ehemann Ende 90er-Jahre in London kennengelernt. Aus einem Ferienflirt wurde ernst, und sie siedelte nach Toronto, Kanada über. Dort arbeitete sie für ihren Schweizer Arbeitgeber und besuchte verschiedene Universitäts-Kurse. «Je mehr ich lernte, desto mehr merkte ich, wie wenig ich weiss.» Mittlerweile ist sie Lehrerin, wohnt in der Nähe der Niagara Fälle und steht kurz vor Abschluss ihres Doktorats in Erziehungswissenschaften.
Die Armut in Nordamerika ist für Pamela Farell auch nach zwei Jahrzehnten Übersee sichtbarer als in der Schweiz. «Sozialhilfempfänger:innen steht in Nordamerika nur eine kleine Monatsrente zu, die meist knapp für die Miete draufgeht», so die Auslandschweizerin. «In der Schweiz ist die Sozialhilfe so aufgebaut, dass man zumindest eine Chance hat, da wieder rauszukommen.»
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Menschen mit geringem Einkommen hätten in Kanada kaum Zugang zu gesundem Essen. Es sei schlicht zu teuer. Auch das schlechte öffentliche Verkehrsnetz macht etwa die Jobsuche schwierig. «Ohne Auto kommt man hier nicht weit.» – Ein Teufelskreis.
Kein frisches Essen weit und breit
Das alles führte dazu, dass sie in ihrem Wohnort Niagara Falls das Gespräch mit wichtigen Leuten suchte. Was braucht die Region? Wie kann den vielen Working Poors, die durch die Pandemie in dieser Tourismus-Region noch viel zahlreicher geworden sind, geholfen werden? Das Thema Essen kam bald aufs Tapet.
Farrells Wohnort befindet sich mitten in einer Lebensmittelwüste. «Hier gibt es in Gehdistanz ein Spirituosengeschäft, einen Bierladen und drei Marihuana-Ausgabestellen, aber nirgends einen Ort, wo man frisches Essen einkaufen kann», sagt John Turner.
Anders als bei sogenannten Food Banks, bei denen vor allem Fast- und Büchsen-Food an Bedürftige verteilt wird, wollte Pamela Farrell eine Oase schaffen, die sich nicht nur um frisches Essen kümmert, sondern auch den Community Aspekt aufgreift.
Ihr Engagement sei stark mit ihrem Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit verwurzelt. «Als Lehrerin werden die sozialen Ungleichheiten, die in unseren verschiedenen Schulen und Stadtvierteln herrschen, sehr deutlich», so Pamela Farrell.
Die Leute stehen Schlange
Die Idee vom Food Literacy Center stiess auf fruchtbaren Boden. In Fronarbeit und einem grossen Team von Freiwilligen zog Pamela Farrell «Grow» auf. Es ist ihr sogar gelungen, staatliche Zuschüsse und viele Spenden für ihr Projekt zu gewinnen.
Ungefähr 20 Stunden investiert Farrell pro Woche in dieses Projekt, meist wenn die Kinder schlafen – alles auf freiwilliger Basis. «Zeitmanagement ist eine meiner Stärken», so die Auslandschweizerin. Und auch John Turner bestätigt: «Pamela ist so gut organisiert. Sie läuft wie ein Schweizer Uhrwerk.»
Bei «Grow» können Bedürftige ihr Essen einkaufen, Kochklassen besuchen und wenn es die Pandemie-Situation erlaubt, zusammen sein. Im Schnitt kaufen 150 Personen pro Tag bei «Grow» ein. «Die Schlange reicht regelmässig rund um den Block», sagt der freiwillige Helfer John Turner. Einziges Kriterium, um hier einzukaufen: «Sie müssen beweisen, dass sie ein geringes Einkommen haben», so Pamela Farrell.
«Die Tatsache, dass ich der Schweiz aufgewachsen bin, gibt mir den Mut, etwas zu bewegen und für andere einzustehen», sagt die Auslandschweizer:in. «Wir haben grosse Ziele.» Angefangen beim Essen, Kochen, Zusammensein, sollen die Leute dazu motiviert werden, für ihre Rechte einzustehen und sich auch in der Politik einbringen und abstimmen.
Grow möchte wachsen und noch mehr Zentren in der Region eröffnen. «Der Schlüssel liegt darin, unser Projekt auch anderen Gemeinden schmackhaft zu machen und so, weg von Lebensmittelnotprogrammen zu kommen.» Ein nachhaltiges und lebensfähiges Modell, ist Farrell überzeugt.
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