«Schöne Weihnachten und liebe Grüsse von der Seucheninsel»
Auswanderer wissen, dass man nicht mehr kurz heimkehrt für Geburts- oder Festtage. Doch in London blieb die Schweiz zum Greifen nah. Bis vor kurzem. Eine Weihnachtsgeschichte von Auslandschweizerin Nicole Krättli.
Nachrichten aus der Heimat erreichen mich. Hast du es noch rausgeschafft? Kann man dir etwas Gutes tun? Dir Schokolade oder Wein schicken?
So weit ist es also gekommen, dass mir Arbeitskollegen Frässpäckli nach London schicken möchten.
Samstag, kurz nach 16 Uhr: London und der Südosten Englands rücken ab Mitternacht in die höchste Risikostufe – Lockdown. Boom! Weihnachten ist abgesagt. Boom! Ein Mutanten-Virus, das bis zu 70 Prozent ansteckender ist als die bisherige Variante, wütet direkt vor unserer Haustür. Boom! Konsternation. Verwirrung.
Was genau ist gerade passiert? Erst vor zwei Wochen freute ich mich noch über das Bild der 90-jährigen Margaret Keenan in ihrem blauen Pinguin-Pulli, die als erste Person in Grossbritannien die neue Pfizer-Impfung erhielt.
Natürlich war mir klar, dass Covid-19 damit nicht ausgestanden ist, aber irgendwie fühlte es sich nach Aufbruch an, nach dem Anfang vom Ende. Das Ende eines absurden Jahres. Einem Jahr, das so viele Menschen ihr Leben gekostet hat, Existenzen ruiniert, Familien, Freunde und ganze Nationen meinungstechnisch entzweit.
Während des ersten Lockdowns im März stand auf vielen Schildern geschlossener Geschäfte «See you again on the other side». Pinguin-Maggie war die Hoffnung, dass wir nun endlich auf dem Weg auf die andere Seite sind. Aber da haben wir die Rechnung wohl ohne den Wirt beziehungsweise die Virus-Wirten gemacht.
Was, wenn ich Mutanten-Virus-Trägerin bin?
Samstagabend. Ich versuche mich mit Arbeit abzulenken. Erfolglos. Es fühlt sich an, wie wenn man beim Leiterlispiel auf dem vorletzten Feld eine rote Zahl erwischt hat und wieder zurück an den Anfang muss. Doch nicht alle zeigen sich als gute Verlierer. Auf Twitter kursieren Videos von London St. Pancras, einem der Hauptbahnhöfe der britischen Hauptstadt. Menschenmassen. Gedränge. Alle wollen sie aus der Stadt fliehen, bevor dies ab Mitternacht bei Busse verboten ist.
Last train out of Saigon. Queue at St Pancras as we wait to board the Leeds bound train. pic.twitter.com/cFDBDNnYFCExterner Link
— Harriet Clugston (@HarrietClugston) December 19, 2020Externer Link
Obschon es immer dieselben zwei, drei Videos sind, die geteilt werden, kann ich nicht aufhören, mir diesen Exodus anzuschauen. Was passiert hier gerade? Sollte ich auch gehen? Aber wohin? Nur aus London, aus der Lockdown-Zone, raus? Weg von der Insel, zurück in die Schweiz? Und was dann? Nach Hause zu meiner Mutter? Was, wenn ich ein asymptomatischer Mutanten-Virus-Träger bin? Ich schlafe ein. Unruhig und mit dem Handy in der Hand.
Sonntag, der vierte Advent. 15 Stunden sind seit der Ankündigung von Premierminister Boris Johnson vergangen, da meldet die «Süddeutsche Zeitung», dass die Niederlande Flüge aus Grossbritannien stoppen. Schade zwar, aber auf Amsterdam kann ich gut verzichten, denke ich. Galgenhumor. Denn mir ist klar: Bei den Niederlanden wirds nicht bleiben.
Es folgt eine Push-Meldung nach der anderen. Belgien, Italien, Österreich, Deutschland, Spanien, Portugal, Bulgarien, Frankreich, Schweden, Norwegen, Estland, Lettland, Litauen, Türkei, Kanada, Saudi Arabien, Kolumbien, Irland, Marokko, … und am Sonntagmittag fordern auch Schweizer Politiker den Stopp von England-Flügen.
Nicht mehr Teil des Clubs
Ein sensibles Thema. Wer auswandert, verabschiedet sich von seinen Liebsten, seiner Heimat. Man weiss, dass man nicht mehr da ist, wenn die Freundin eine Schulter zum Ausweinen braucht, wenn die besten Freunde ihre neue Wohnung einweihen oder das Patenkind einfach mal am Mittwochnachmittag mit einem in die Badi will. So ist das eben.
Mehr
Aber wer in Grossbritannien lebt, ist verwöhnt. In normalen Zeiten verkehren täglich etliche Flüge zwischen der neuen und der alten Heimat. Die Flugreise von Zürich nach London dauert knapp so lange wie die Zugfahrt von Zürich nach Chur und kostet vielfach sogar weniger. Die Heimat ist stets zum Greifen nah.
Nicht mehr. Zum ersten Mal spüre ich in diesen Tagen, was es heisst, auf einer Insel zu leben, die zwar nur 34 Kilometer von Kontinentaleuropa entfernt liegt, aber nicht mehr zum Club mit der blauen Flagge und den gelben Sternen dazugehören will. Auch das ist für uns Schweizer kein völlig fremdes Konzept.
So versuche ich es mit Humor zu nehmen
Doch die negativen Konsequenzen davon im Alltag zu spüren, das ist neu. Als Frankreich die Grenzen auch für Lastwagen schliesst und die lokalen Supermärkte einen möglichen Nahrungsmittelengpass ankündigen, wird mir klar, was es bedeutet, auf einer von Europa verstossenen Seucheninsel zu hocken.
So weit ist es nun also, dass man mir Frässpäckli schicken möchte. Doch tatsächlich: Die Supermarktregale leeren sich – wie schon im März – und die Unterhaltungen in der Whatsapp-Gruppe beginnen wieder: «Bei Waitrose in Greenwich hat es noch Avocados.» «Bei Sainsbury’s New Cross Gate neigt sich der Alkoholvorrat dem Ende zu. Kauft besser jetzt für Silvester ein.»
Es sind solche Unterhaltungen, die mich in die Realität holen: Solange ich mir noch überlegen kann, wo ich Steak und Champagner für die Festtage bekomme, ist meine Situation wohl doch nicht ganz so dramatisch. Und so versuche ich es mit Humor zu nehmen und signiere all meine E-Mails mit «Schöne Weihnachten und liebe Grüsse von der Seucheninsel».
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Diskutieren Sie mit!