Zu Besuch bei der Malerin Marianne Kolb
Es ist eine kalifornische Erweckungsgeschichte. Die junge Schweizerin Marianne Kolb zieht aus der Enge Berns in die USA. Sie beginnt dort zu malen, und das wird ihre Obsession.
Am Boden Spuren von Farbtropfen, an der Wand wie ein Heiligenschein eine helle Aussparung, wo kürzlich noch eine Leinwand hing. Es sind Relikte eines Werks, oder wie sie sagen würde, eines «Gemäldes, das ein Eigenleben führt und weiterleben kann, auch wenn ich nicht mehr da bin.» Wir sind zu Besuch bei der Schweizer Malerin Marianne Kolb in ihrem Atelier in Sacramento, Kalifornien.
swissinfo.ch portraitiert Schweizerinnen und Schweizer im Silicon Valley und in der San Francisco Bay, die in ihrem Job oder in ihrem Leben Exzellentes leisten. Journalistin Mariangela Mistretta betreut diese Serie.
In den frühen 1980er-Jahren machte Kolb die Bay Area zu ihrer zweiten Heimat. Fast zufällig entdeckte sie dabei auch ihre künstlerische Berufung. Jahrzehnt später verspüre sie noch immer jeden Morgen den «Drang, ein Bild zu malen, das besser ist als jenes von gestern».
Fluchtgedanken
Marianne Kolb wurde im ländlichen Neuenegg bei Bern geboren. «Mein Schicksal war vorbestimmt wie jene meiner Mutter und meiner Grossmutter: Heiraten, Kinder bekommen, der Familie dienen.» Es ist in den späten 1960er-Jahren, und die junge Marianne entwickelt Fluchtgedanken. «Schon mit 14 Jahren wusste ich, dass es eine grössere und vielfältigere Welt gab, die ich kennen lernen wollte. Ich las über die amerikanischen Bürgerbewegungen und die Black Panther.»
Die Gelegenheit bietet sich im Sommer 1983. «Ich beschloss, meinen Job aufzugeben und für sechs Monate für einen Sprachkurs nach Berkeley zu ziehen.» Die neue Realität ist ein Schock. «Ich kannte niemanden, fühlte mich einsam. Zum Glück hatte ich den Kontakt zu einem Mädchen in Oakland.» Sie ziehen zusammen in ein Haus mit anderen jungen Leuten. Aus sechs Monaten wird ein Jahr. Kolb verkauft ihr Rückflug-Ticket in die Schweiz.
Lockerheit
In den USA erlebt sie befreiende Lockerheit in einer Gemeinschaft voller Künstler. «Hier war alles einfacher, spontaner. Wo ich herkomme, waren wir es nicht gewohnt, auf Fremde zuzugehen», sagt sie. Ausserdem könne man in der Bay-Area alles versuchen. Scheitern macht hier nichts, man fängt von vorne an.
Heute sagt sie: «Es ist seltsam, wie einzigartig das Gefühl ist, das mich mit meinem Heimatland verbindet. Bei jeder Rückkehr in die Schweiz durchflutet mich der Geruch des Landes und ich spüre meine Wurzeln wieder tief.» Schweizerisch sei auch ihr Arbeits-Ethos, das sie in der Art und Weise wiederfinde, wie sie sich der Malerei widmet.
Im Keller des ersten Hauses in Oakland nutzt ihre Freundin Kim den Raum als Werkstatt. Kim macht dort Schmuck. Kolb beginnt mit ihr zu arbeiten und nimmt Zeichenunterricht. «Als Kim meine Zeichnungen sah, sagte sie: ‹Du solltest malen›, und schenkte mir einen Satz gebrauchter Temperafarben und Pinsel.» Es war Magie. «Von da dachte ich nur noch an Malen», sagt sie.
Ambitionen
Bald belegt sie einen Malkurs am California College of Arts. Zum Schlüsselmoment wird, als sie ihrer Dozentin frustriert Arbeiten vorlegt, alle in Schwarz-Weiss. Kolb denkt laut, sie sollte vielleicht Farbtechniken studieren. Aber: «Meine Lehrerin Leigh Hyams sah mir direkt in die Augen und sagte: ‹Versuch das gar nicht erst.'»
Sie erhält den Auftrag, 50 Motive in Grün zu malen, ohne Grün zu verwenden, und 50 in Schwarz, ohne Schwarz zu verwenden. «Ich möchte, dass du Farben in deinem Bauch hast, nicht in deinem Kopf», sagte Leigh Hyams.
Seit dieser Lektion verfolgt Kolb eine instinktive Beziehung zur Farbe, die von einigen Kritikern als expressionistisch bezeichnet wird. Es geschehe unbewusst, sagt sie. Es ist die Farbe, die den Ton des Gemäldes bestimmt und die Geschichte der Charaktere formt.
Menschen und Gefühle
Im Zentrum ihrer Arbeit steht die Conditio Humana, der Mensch und seine Lebensbedingungen. Sie malt Gesichter und Figuren in knappen, wesentlichen Strichen. «Mich interessiert, eine Stimmung oder ein Gefühl mit so wenig Informationen wie möglich zu vermitteln», sagt sie.
Aus ihren Pinseln entstehen Silhouetten, die bezüglich Alter, Geschlecht oder Hautfarbe uneindeutig sind, oft mit rätselhaftem Ausdruck. Marianne Kolb beobachtet ihr Schaffen so: «Manchmal wirken die Figuren verstört, in einer unsicheren Stimmung, und doch sind sie von einer grossen Würde umhüllt. Sie strahlen eine Form von Zufriedenheit aus. Sie akzeptieren den Zustand, in dem sie sich befinden.»
Exemplarisch dafür ist das Gemälde «Hope». Es gehört zu jenen, die ihr am nächsten sind. Es handelt sich um eine sehr junge weibliche Figur, die aus einem braunen Hintergrund auftaucht und ein blaues Kleid trägt. «Ich wollte Verletzlichkeit ausdrücken. Sie ist recht jung, hat aber eine alte Seele. Wir wissen nicht, was gerade geschah, aber sie wirkt heiter. Sie drückt Würde aus.»
Hopes Hände sind wie die so vieler ihrer Gefährtinnen nicht sichtbar: «Ich repräsentiere den Zustand der Frauen. Wir sind immer noch gebunden, unterliegen so vielen Einschränkungen, wir Frauen sind immer noch nicht frei. Dennoch gehen wir mit allem, was uns vor die Füsse geworfen wird, mit Würde um.»
«Serena» hingegen, ihr anderes Thema, wurde durch Zufall geboren. «Ich hatte viele Stunden lang gearbeitet, ohne Resultat. Ich wollte alles hinschmeissen. Ich war müde und griff aus Frust instinktiv nach den langen Pinseln, den grössten. Ich tauchte sie in weisse Farbe und schlug sie fest gegen die Leinwand.»
«Interessant», denkt sie – und das Werk war vollendet. Der kreative Prozess entziehe sich ihrer Kontrolle.
Hoffnung und Heiterkeit
«Hope» und «Serena» sind Teil der Serie «Figurative paintings» mit weiblichen Motiven, die Kolb 2018 im Triton Museum of Art in Santa Clara, Kalifornien, ausstellte. «Man lud mich ein, und ich schickte eine Auswahl von Frauen. Damit wollte ich die Frauen und die #metoo-Bewegung ehren.»
Sie sieht sich nicht als Aktivistin, aber sie wollte ihren Beitrag zu leisten. Die Sache der #metoo-Bewegung liege ihr sehr am Herzen. Als Kind wurde sie selbst Opfer von Belästigungen durch einen Nachbar. Das Trauma behielt sie lange für sich, aus Angst, dass ihre Eltern ihr nicht glauben würden. Oder schlimmer noch, dass diese sie bestrafen würden.
Sie spricht über die heilende Kraft der Kunst, darüber, wie die Malerei es ihr ermöglicht, Emotionen zu formen und den Geist über menschliches Leid hinaus zu erheben. «Menschen sind das, was ich am besten kenne, da ich selbst ein Mensch bin», sagt sie.
Während ihrer Jahre in Oakland spazierte sie jeweils dem Lake Marriott entlang. Es gab da unerwartete Begegnungen, unverhoffte Lebensgeschichten, die ihr einfach so erzählt wurden. «Später habe ich all dies mit in mein Studio genommen.» Sie ist fasziniert vom Anderen, vom Unbekannten. Das ist auch ein Motiv in der Bay Area: «Hier leben Menschen aus der ganzen Welt in Respekt und Toleranz zusammen.»
Die Füsse am Boden
Inzwischen hat Marianne Kolb ein neues Atelier in dem Haus, das sie in Sacramento gekauft hat. Es ist ein helles, luftiges Zuhause, und still ist es hier. «Das ist nicht nur der Raum, in dem ich male, es ist mein Heiligtum, der Ort, der meine Füsse fest auf dem Boden hält.»
Hier beginne der kreative Prozess, der auch frustrierend sein könne. «Manchmal muss ich mich zwingen. Ich setze mich hin und habe noch nicht einmal eine Ahnung, was ich machen werde», sagt sie. Inspiration kommt nicht immer dann, wenn man sie sucht. Sie muss ihr nachjagen. Disziplin, Hingabe und viel Zeit helfen dabei, sagt sie. «Manchmal dauert es Wochen, bis ein Werk fertig ist. Gemälde werden weggeworfen oder ausradiert und neu gemalt.»
Doch es gibt jenen Zustand, in dem alles einfach geschieht: Das ist dann, wenn sie ihre Fähigkeiten ohne jede Anstrengung zum Ausdruck bringen kann, ein Zustand der Gnade, wie sie sagt. Dann, wenn jedes Element wie von Zauberhand ganz natürlich seinen Platz findet. Sie möchte das Wort nicht unbedingt benutzen, sagt sie. Aber: «Manche würden sagen, es ist die Begegnung mit Gott.»
Editiert und übersetzt von Balz Rigendinger
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