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Schweizer:innen im Ausland: Bürger:innen zweiter Klasse?

Auslandschweizer-Rat: Gefangen zwischen den Zeiten

A meeting of the Council of the Swiss Abroad in Bern.
A meeting of the Council of the Swiss Abroad in Bern. Adrian Moser Photography

Das Parlament der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer wird neu bestellt. Auf allen Kontinenten laufen Wahlverfahren. Doch diese sind überholt, Alternativen fehlen. Der Rat, der dieses Wochenende wieder tagt, braucht Wandel. Eine Analyse.

60 Schweizerinnen und Schweizer, die in den USA wohnen, trafen sich kürzlich online. Das Zoom-Meeting galt der Frage, was man von den Delegierten im Auslandschweizerrat in der anstehenden Legislatur 2021 bis 2025 erwarte. Die Diskussion (s. Box weiter unten) gab auch einen guten Einblick in die aktuell laufende Erneuerungswahl des Auslandschweizer-Parlaments.

Die Prozedur spielt sich zwischen zwei Zeitaltern ab. Das Wahlverfahren des Auslandschweizerrats basiert auf Strukturen, die 1919 etabliert wurden, dem Jahr als die Büroklammer erfunden wurde. Doch die Gegenwart stellt andere Ansprüche und bietet Möglichkeiten: Zoom-Meetings und Teams-Kollaboration über Zeitzonen hinweg, das ist heute normal.

Glorreiche Vergangenheit

Der Auslandschweizerrat, das ist das Parlament der Fünften Schweiz. Es tagt zweimal pro Jahr. Viel Gestaltungskraft, sprich Budgetkompetenz, hat es nicht. Dieses Parlament wird im Inland aber als die Stimme der Auslandschweizerinnen anerkannt, auch wenn es im Auslandschweizer-GesetzExterner Link nicht explizit Erwähnung findet. Immerhin hat sich Schweiz in ihrer Verfassung den Auslandschweizern gegenüber verpflichtetExterner Link.

Das Wesen des Auslandschweizerrats erklärt sich aus seiner Geschichte. Er war seit Gründung nach dem Ersten Weltkrieg lange die einzige Stimme der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer in der Heimat. Dann rang der Auslandschweizerrat der Schweiz politische Rechte für alle Auslandbürgerinnen ab: 1977 mit dem Stimmrecht an den Urnen, 1992 mit der Briefstimme aus dem Ausland. Das war ein grosser Erfolg – und auch eine Art Eigentor, denn die Stimmen der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer fanden von da an den direkten Weg in die Schweiz, mit oder ohne den Auslandschweizerrat. Es war eine teilweise Selbstentmachtung.

Der Auslandschweizerrat kann auf zahlreiche Erfolge zurückblicken. Zu diesen gehören unter anderem:

Zu den Agenda-Themen des Auslandschweizer-Rats gehören

  • der Kampf für die Einführung eines E-Voting-Systems in der Schweiz
  • der Kampf gegen überhöhte Bankgebühren für Kundinnen im Ausland
  • der Einsatz für die politischen Rechte der Fünften Schweiz
  • gute internationale Beziehungen der Schweiz
  • Personenfreizügigkeit

Zudem schaltet sich der Auslandschweizer-Rat regelmässig mit Resolutionen und BeschlüssenExterner Link ins politische Geschehen der Schweiz ein, wenn dieses die Auslandbürgerinnen und -bürger speziell betrifft, etwa bei Themen wie Schweiz-EU, Altersvorsorge oder Service publique.

Dazu ergab sich mit den Jahrzehnten eine strukturelle Schwächung. Das Parlament der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer setzt sich aus Delegierten zusammen, aus Abgesandten der rund 660 Schweizer Clubs, welche sich im Zuge der grossen Auswanderungswelle nach 1880 auf allen Kontinenten gebildet hatten. Heute nehmen diese Vereine noch immer wichtige Funktionen wahr, aber ihre Blütezeit ist vorbei. Inzwischen sind gerade noch rund 3 Prozent aller Schweizerinnen und Schweizer im Ausland in solchen Clubs organisiert.

Unsichere Zukunft

Mitgeschrumpft ist damit die Kraft des Parlaments der Fünften Schweiz, das aus 140 Mitgliedern besteht. Wäre es repräsentativer zusammengestellt, träfen die Rats-Beschlüsse im Inland auf grössere Akzeptanz, mahnte auch schon wiederholt der Präsident des Rats, Remo Gysin.

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Die Zahl aller Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer beträgt heute 800’000. Von ihnen sind 170’000 an der Politik in ihrer Heimat interessiert und haben sich ins Stimmregister eingetragen. Doch diese bilden nicht das Elektorat des Rats. Das Wahlverfahren beschränkt sich weitgehend auf die 3 Prozent, die in Schweizer Clubs organisiert sind. Wenige Zehntausend, das ist der Kreis, aus dem sich Wählende wie Kandidierende rekrutieren.

In diesen Strukturen – meist indirekt über Elektoren – läuft die Wahl auch jetzt wieder, fast wie vor hundert Jahren. In der AusschreibungExterner Link für die acht neu zu besetzenden Delegierten-Sitze der USA steht: «Sie sind Mitglied des lokalen Schweizer Clubs, der die Kandidatur unterstützen und eine Empfehlung für den Kandidaten schreiben muss.» Eine Entsendung von Delegierten mittels Empfehlungsschreiben, bestimmt von den Vereinen oder deren Dachorganisation, das ist nicht nur antiquiert – sondern auch «extrem undemokratisch», kritisiert etwa Carlo Sommaruga; er ist als Genfer SP-Nationalrat einer der 20 Auslandsräte, die in der Schweiz ansässig sind. (Auch SWI Swissinfo.ch ist mit einem festen Sitz im Rat vertreten).

Elektoren-Wahl
Kai Reusser / swissinfo.ch

Der Reformbedarf ist erkannt. Deutschland zum Beispiel konnte den Kreis der Kandidierenden erweitern, auf 23. Die Mitgliedschaft in einem Schweizerverein ist dort oder in England nicht mehr Bedingung für eine Kandidatur. Doch global betrachtet stellt die aktuelle Wahl gegenüber dem letzten Wahlverfahren 2017 gar einen Rückschritt dar. Damals gab es in zwei Ländern Pilotversuche mit dem Ziel, die Kandidierenden direkt von allen Auslandschweizerinnen, und nicht durch die Vereinsvertreter wählen zu lassen. Der Gesamtheit aller Auslandschweizerinnen in Mexiko und Australien stand ein E-Voting-System zur Verfügung. Es ermöglichte die Direktwahl.

Wer macht die Arbeit?

Gross bleibt also die Herausforderung für die Auslandschweizer-Organisation ASO. Den Kreis der Wahlberechtigten und Wählbaren auszudehnen, die Wahl demokratischer und inklusiver zu machen:  Auf der Agenda ist das Anliegen seit Jahrzehnten. Doch der Zugang zu einem grösseren Elektorat fehlt. 80’000 Schweizerinnen und Schweizer leben beispielsweise in den USA. Für die Wahl des Auslandschweizerrats zu aktivieren sind sie nicht. Ihre Kontaktdaten sind zwar bei den vier Schweizer US-Konsulaten hinterlegt, bleiben jedoch unantastbar, aus Datenschutzgründen. Die Auslandschweizer-Organisation, die für die Durchführung der Wahlen zuständig ist, beisst beim Eidgenössischen Aussendepartement auf Granit.

«Es ist nicht die Aufgabe des Bundes, sich aktiv in die Wahl einzuschalten, da der Auslandschweizerrat eine privatrechtliche Institution ist.»

Stellungnahme EDA

Ironie daran: Auch das Aussendepartement EDA wünscht von der ASO, dass der Rat die Fünfte Schweiz besser repräsentiert. Die ASO wiederum benötigt dafür vom EDA entsprechende «organisatorische Unterstützung durch die Generalkonsulate und Botschaften», wie ASO-Direktorin Ariane Rustichelli sagt: etwa Zugang zu den Adressdaten oder eine gewisse Koordination.

Hier zeigt sich das EDA aktuell angefragt zurückhaltend hilfsbereit: «Eine Schnittstellenfunktion bei der Übermittlung von Informationen an die Auslandschweizer ist nicht ausgeschlossen.»  Es zieht aber auch rote Linien. Das Aussendepartement könne nicht als Ko-Organisatorin einer Wahl fungieren, lautet die gängige Argumentation.

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Konkret teilt das EDA mit: «Es ist nicht die Aufgabe des Bundes, sich aktiv in die Wahl einzuschalten, da der Auslandschweizerrat eine privatrechtliche Institution ist.» Und schiebt die Verantwortung für eine allfällige Unterstützung zur ASO: «Es obliegt der ASO, zu definieren, welche Maßnahmen notwendig wären und konkrete und begründete Anträge zu stellen.»  

Zuletzt drehte sich die Diskussion um den Wunsch der ASO, das EDA möge sich an den Kosten für ein einfaches elektronische WahlsystemExterner Link beteiligen. Ein Resultat der Debatte zu einem Zeitpunkt, der noch eine Implementierung erlaubt hätte, blieb aber aus.

Unter dem Strich ist eine so internationale Wahl auch schlicht Arbeit, die sauber gemacht werden muss, und da liegt der Kern des Disputs: Wer kann es erledigen? Die in der ASO zusammengeschlossenen Vereine basieren auf ehrenamtlicher Arbeit. Und der Bund sieht es nicht als seinen Job.

Diesen Teufelskreis durchbrechen könnte irgendwann ein Schweizer E-Voting-System. Aber diese Lösung fehlt aktuell.

Gremium der Gutbetuchten?

Es gibt ein weiteres Demokratie-Defizit. Wir haben den Auslandschweizer-Rat auch schon als ein Gremium der Gutbetuchten bezeichnet. Es mag Ausnahmen geben.

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Aber die Ressourcen, die eine Abgesandte oder ein Delegierter für diese Milizaufgabe braucht, schlagen zu Buche. Die Ratstätigkeit verlangt zweimal im Jahr eine Reise in die Schweiz, mit mehrtägigem Aufenthalt. Hier hat sich einiges getan: Delegierten aus Übersee steht zusätzlich zum Sitzungsgeld von 100 Franken eine Pauschale von 400 Franken zu. Für Jugendliche wird die Reise übernommen. Der grosse Aufwand bleibt aber ein Hindernis.

Ratssitzung im Rathaus Bern, im Vordergrund die Flagge der Auslandschweizer-Organisation ASO. Keystone

Gerade hier lieferte die Digitalisierung Potenzial zur Demokratisierung. Wenn Ratssitzungen online abgehalten werden, entfallen Reisekosten. Das würde die Ratsmitgliedschaft auch Auslandbürgerinnen und -bürgern mit weniger Zeit- oder Finanzressourcen ermöglichen. Bereits jetzt tagt der Auslandschweizer-Rat virtuell. Die Pandemie hat es erfordert und es hat funktioniert. Es bleibt jedoch vorerst die Ausnahme.

An der eingangs erwähnten Online-Diskussion unter den Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer in den USA beschrieb der langjährige Auslandschweizer-Rat David Mörker auch die Vorteile der realen Ratsversammlungen: Politik entsteht und Ideen wachsen im informellen Austausch.

Mörker, Präsident eines Schweizer Vereins in Nordamerika, gab ausserdem zu bedenken, dass es auch Vorteile hat, wenn ein Auslandschweizer-Ratsmitglied aus einem Auslandschweizer-Verein entstammt. Die Verwurzelung im Club garantiere Nähe. «Wie kann man die Community repräsentieren, wenn man sich nicht in dieser Community bewegt?», fragt er.

Welche Community?

Die Frage führt zum Kern. Für welche Community der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer steht der Rat?

Die meisten Schweizer Expats leben heute problemlos ohne Bezug zu einem Schweizer Ort im Ausland, wie ihn Vereine, Clubs oder Netzwerke bieten. Das Auswandern ist für viele eine Episode im Lebenslauf. Manche kommen irgendwann zurück. Andere wandern erst aufs Alter hin aus.

Migration folgt nicht mehr Vektoren, sie ist zirkulär geworden. So war die Fünfte Schweiz einst fest, heute ist sie fluid.

Dies stärkt und untermauert einerseits den Anspruch der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer auf den Erhalt ihrer politischen Rechte. Andererseits kann der Auslandschweizer-Rat, der diese verkörpert, den Wandel bisher kaum vollziehen.

Und darin liegt durchaus ein Drama. Denn die Zahl der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer wächst. Ihre Bedürfnisse werden grösser, zahlreicher und vielfältiger. Aber die Stimme, die diese in der Schweiz artikulieren kann, verliert von Legislatur zu Legislatur an Legitimation.

Bankkonti und verspätete Abstimmungspost

Das Townhall-Meeting der SP Antenne USAExterner Link, einem Ausland-Ableger der Sozialdemokratischen Partei Schweiz, zeigte, wo den Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern in den USA der Schuh drückt. Grösstes Anliegen ist nach wie vor die garantierte Teilnahme an den Schweizer Urnengängen. Aus dem Kreis der 60 Teilnehmenden gab es zahlreiche Rückmeldungen über regelmässig verspätet eingetroffene Abstimmungsunterlagen. Ein weiteres Ärgernis stellen ebenso die als diskriminierend empfundenen Kontogebühren der Schweizer Banken dar. Diesbezüglich sind US-Personen besonders exponiert, da die Schweizer Banken in den vergangenen Jahren einiges unternahmen, um Kunden mit US-Hintergrund zu vergrämen.

Beide Themen stehen auch zuoberst auf der Agenda des Auslandschweizer-Rats. Im Meeting gaben die Rats-Delegierten Jeanette Seifert-Widmer, David W. Mörker, Jean-Pierre Mittaz, Franco Zimmerli entsprechend Einblick in ihre Arbeit. Der Zoom-Call, organisiert von Denise Dafflon, stellte eine Premiere dar, die aufgrund der grossen Wertschätzung eine Wiederholung erfahren dürfte. Interessierte finden Updates dazu hierExterner Link.

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