Multimillionäre gegen die EU – eine Wette mit unbekanntem Ausgang
Was haben Brexiteers und Schweizer EU-Gegner gemeinsam? In ihren Reihen finden sich schwerreiche Unternehmer und Vermögensverwalter. Warum dieser Befund überrascht – und doch plausibel ist.
In der Schweiz erzählten Regierung, Politikerinnen und Politiker sowie Medienschaffende während Jahren, bei der Annäherung an die EU gehe es um «Souveränität versus Wohlstand». Die Schweiz müsse ein Stück Eigenständigkeit abgeben, um wirtschaftlich mithalten zu können. Unternehmen seien auf den freien Zugang zum europäischen Wirtschaftsraum angewiesen.
Nachdem sich dieses Narrativ in den Schweizer Köpfen festgesetzt hat, mag es überraschen, dass sich nun Unternehmer, Banker und Vermögensverwalter zu Widerstandsgruppen gegen das Rahmenabkommen formieren. Hiess es nicht immer, die Wirtschaft profitiere von einer Integration in die EU?
SRF beschreibt in einem Beitrag vom 8. März 2021 die Kampagne der Unternehmer gegen das EU-Rahmenabkommen:
Ein Blick über den Ärmelkanal zeigt: Auch in Grossbritannien kämpften millionenschwere Unternehmer und Investoren wie Richard Tice, Paul Marshall oder James Dyson an vorderster Front für den Brexit. Warum stammen sowohl in Grossbritannien als auch in der Schweiz viele Köpfe hinter der Anti-EU-Kampagne aus der Finanzbranche?
«Diese kleine Gruppe von Unternehmern träumt von einer deregulierten Wirtschaft, ähnlich wie in Singapur», sagt der Politanalyst Janos Ammann, der aus Brüssel den EU-Blog «Hauptstadt-Bericht» betreibt. Eine stärkere Einbindung der Schweiz in die europäischen Institutionen, Regelungen und Prozesse sei gegen das Interesse der Hochfinanz.
«Im Rahmen der EU können die europäischen Staaten viel effektivere Entscheidungen gegen Kapitalinteressen treffen, weil sie geeint auftreten und nicht gegenseitig im Wettbewerb stehen.» Es sei kein Wunder, dass einige Unternehmer diesem Wettbewerb zwischen den Staaten um ihr Finanzkapital nachtrauerten.
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Finanzbranche ist gespalten
Damit hier kein falscher Eindruck entsteht: Es handelt sich um eine kleine Gruppe von Finanzakteuren. «Grossbanken wie UBS oder Credit Suisse haben sich mit der Regulierung arrangiert», sagt Julie Cantalou, Politikwissenschaftlerin und Präsidentin von GLP Lab, des Thinktanks der Grünliberalen Partei. Die Finanz- und Bankenbranche sei in der Frage gespalten.
So unterstützt beispielsweise die schweizerische Bankiervereinigung das Rahmenabkommen. Sie geht davon aus, dass eine stärkere Anbindung an die EU den Marktzugang für Banken verbessern würde, wie eine Sprecherin auf Anfrage von swissinfo.ch schreibt.
Kommt dazu: Mit einem (denkbar gewordenen) Scheitern des Rahmenabkommens rückt der Abschluss eines Finanzdienstleistungs-Abkommens mit der EU in weite Ferne. Ein solches wäre für Banken aber wichtig, um ausländische Kundinnen und Kunden anwerben oder als Investment-Bank Kredite anbieten zu können. Zudem drohen weitere Nadelstiche der EU – wie bereits die 2019 erfolgte Aberkennung der Börsenäquivalenz, was den Handel ausländischer Aktien in der Schweiz einschränkt.
Obwohl die Schweiz und Grossbritannien im Wettbewerb der Finanzplätze eigentlich Rivalen sind, haben die zwei Länder sich nach dem Brexit angenähert.
Die britische Regierung anerkennt die Schweizer Börsenregulierung seit dem 3. Februar 2021 als gleichwertig, wohingegen die EU die Börsenäquivalenz der Schweiz 2019 aus Protest gegen die schweizerische Verzögerungstaktik beim Rahmenabkommen nicht erneuert hatte.
Sogar ein bilaterales Finanzdienstleistungsabkommen zwischen der Schweiz und Grossbritannien scheint realistisch, während sich die EU gegen ein solches sträubt.
«Die grossen Akteure können problemlos ein zusätzliches Büro in Amsterdam oder an einem anderen europäischen Finanzplatz eröffnen, sie sind nicht so stark auf solche Abkommen angewiesen», sagt Cantalou. Schwieriger sei es für kleine Privatbanken oder Vermögensverwalter. Das erklärt, warum die Finanzbranche alles andere als geeint auftritt.
Die Branchen wägen ab
Laut Cantalou besteht die Parallele zwischen Brexit-Kampagne in Grossbritannien und Rahmenabkommen-Knatsch in der Schweiz unter anderem darin, dass die Unternehmen eine Güterabwägung vornehmen: «Sie fragen sich, was in zehn Jahren eher in ihrem Interesse sein könnte: Integration oder Abschottung?» Je nach Unternehmen und Branche falle die Antwort unterschiedlich aus.
Das Echo der Zeit von SRF beschreibt in einem Beitrag vom 12. Februar 2021 die neuen Polit-Organisationen aus der Wirtschaft, die gegen das EU-Rahmenabkommen kämpfen:
Das Ergebnis dieser Rechnung hängt laut Cantalou auch davon ab, ob eine Branche von der EU bereits stark reguliert sei oder nicht. «In der Finanzbranche ist mit weiteren Regulierungen in der Zukunft zu rechnen. Nicht zuletzt wegen der Finanzkrise.»
Ammann und Cantalou sind sich einig, wie die zentrale Frage aus Sicht der Unternehmen lautet: «Fahre ich besser auf einem schwach regulierten Markt, weil ich Unternehmen aus der EU unterbieten kann, oder will ich lieber Zugang zu einem zwar stärker regulierten, dafür umso grösseren Markt?»
Weil die Schweizer Wirtschaft divers ist, lässt sich die Frage nicht allgemein beantworten. Aber so viel steht fest: «Regulierungslücken sind für die Finanzbranche interessant», so Cantalou.
Wie wäre es mit einem «Singapur in den Alpen»?
Warum also nicht dem Beispiel Singapurs folgen? Der Stadtstaat gilt als steuergünstig und dereguliert, er zieht Kapital aus aller Welt an und ist global wettbewerbsfähig.
So träumte auch die Brexit-Bewegung in Grossbritannien von einem «Singapur an der Themse», sprich: Weniger strenge Vorschriften sollen den Finanzplatz London global besser positionieren und die stärker regulierte EU abhängen.
Doch Ammann winkt ab. «Gerade das Beispiel Grossbritanniens zeigt, dass diese Wette nicht aufgeht. Die Briten haben die Einigkeit und die damit verbundene Verhandlungsmacht der EU unterschätzt, sie müssen trotz Brexit viele europäische Standards übernehmen.» Aufgrund der Grössenverhältnisse sei es für die EU ein Leichtes, Druck auf die Schweiz auszuüben. Ein «Singapur in den Alpen» würde die EU kaum dulden.
Die USA forcieren unter dem neuen Präsidenten Joe Biden eine globale Mindeststeuer für Unternehmen. Die amerikanische Finanzministerin, Janet Yellen, schrieb in einem Meinungsartikel, die USA wollten bei den Steuern kein «race to the bottom» mehr.
In der Schweiz gehört Steuerwettbewerb hingegen zur Tagesordnung. Yellen stichelt denn auch: «Amerika wird nicht darüber konkurrieren, ob es niedrigere Steuersätze als Bermudas oder die Schweiz haben kann.»
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