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Bald sind wir alle halb Mensch, halb Maschine

Diese Phototherapie-Maske soll bei Personen, die sie täglich fünf Minuten tragen, zur Verjüngung beitragen. Matthieu Gafsou

Der Lausanner Fotograf Matthieu Gafsou führt uns auf die verschlungenen Wege des Transhumanismus, ins Herz des faszinierenden und verstörenden Universums des durch Technik verbesserten Menschen.

Die Ausstellung von Matthieu GafsouExterner Link (hierExterner Link virtuell zu besichtigen) ist eines der Highlights der 49. Rencontres de la Photographie in ArlesExterner Link. Unter dem Titel «H +» geht es um Transhumanismus. Diese Bewegung verteidigt den massiven Einsatz von Wissenschaft und Technologie zur Verbesserung und Optimierung der körperlichen und geistigen Eigenschaften des Menschen.

Klinisch, manchmal in der Nähe des Phantastischen zeigen die Fotos Prothesen und Implantate. Ist unser Körper zu einem Werkzeug geworden, das nach Belieben aktualisiert und perfektioniert werden kann?

Verwandelte Körper

Den menschlichen Körper durch Technologie zu transformieren, künstliche Komponenten in die Anatomie einzubauen, biologische und elektronische Komponenten zu mischen, neue Sinne zu entwickeln, menschliche Fähigkeiten zu vervielfachen, die Lebensdauer unbegrenzt zu verlängern…. das sind die Ziele des Transhumanismus.

Der Lausanner Fotograf Matthieu Gafsou. ldd

Der Markt für NBIC-Technologien (Nanotechnologien, Biotechnologien, Informatik und Kognitionswissenschaften) ist sehr lukrativ. Die Pharmaindustrie und die sehr einflussreichen Web-Giganten oder die GAFA (Google, Apple, Facebook, Amazon) machen aus der Gesundheit ein wachsendes profitables Geschäft.

Der 37-jährige Fotograf Matthieu Gafsou, der ein Diplom der Ecole de Vevey hat, sieht darin auch eine neue Religion, wonach die Menschheit durch «Hybride», einer Mischung aus Mensch und Maschine, verbessert oder sogar ersetzt wird. Dennoch lässt er dem Besucher die Möglichkeit, sich eine eigene Meinung zu bilden.

Gepflegter oder verbesserter Mensch?

Die sechs Teile der Ausstellung zeigen, dass die Grenzen zwischen medizinischer Hilfe und Optimierung des Menschen oft unklar sind: Prothesen beispielsweise können einen therapeutischen Zweck haben, ermöglichen aber auch eine Leistungssteigerung.

Ebenfalls zur Sprache kommen «Nootropika» oder psychisch leistungssteigernde Medikamente. Der Teil «Mensch Maschine» konzentriert sich auf Cyborgs, Menschen, die mit Mechanik und Elektronik ihre physischen Fähigkeiten vervielfachen. Der Raum «Avatare» ist der virtuellen Realität und dem Smartphone als «Gedächtnisprothese» gewidmet.

Der Teil «Biohacking» befasst sich mit der Implantation von Prothesen und DNA-Kopien, aber auch mit «Grinders». Letztere erhöhen ihre Kapazitäten durch Implantate oder operieren sich selbst, oft unter extremen Bedingungen.

Dies ist der Fall bei Julien Deceroi, ein Anhänger des Transhumanismus. Er implantierte sich einen Magneten in den Finger. «Der Magnet funktioniert wie ein neuer Sinn. Das ermöglicht es ihm, die Anwesenheit von Maschinen (Magnetfeld-Detektor) zu spüren», sagt der Fotograf.

Schliesslich untersucht das Kapitel «posthuman» die Kryogenik – die Erhaltung eines Körpers bei sehr niedrigen Temperaturen – in Russland.

Le Suisse Julien Deceroi hat sich selbst einen Magneten in den Finger implantiert, um magnetische Felder zu erkennen. Matthieu Gafsou

Am Eingang der Ausstellung werden die Besucher mit den Worten von Raymond Kurweil begrüsst, der als Guru des Transhumanismus gilt und technischer Leiter bei Google ist: «Gibt es Gott? Nun, meiner Meinung nach noch nicht.»

In seinem Buch «Humanité 2.0: la bible du changement» spricht er über das Herunterladen eines menschlichen Gehirns, eines Prozesses, «der es erlaubt, die gesamte Persönlichkeit eines Menschen, dessen Gedächtnis, Talent und Geschichte zu erfassen».

In den Augen von Matthieu Gafsou ist dies ein Szenario, das der von RTS ausgestrahlten Westworld-Serie würdig ist. Androiden sind in dieser Fernsehserie mit menschlichen Fähigkeiten ausgestattet und kopieren die Menschheit, um dieser Unsterblichkeit zu verleihen. 

Und in der Schweiz?

Bereits im 18. Jahrhundert erfand der Schweizer Arzt Jean-André Venel (1740-1791) ein Korsett zur Behandlung einer Wirbelsäulenverformung, der Skoliose. Die Aufnahme zeigt von hinten eine Art metallisch glänzende «Rüstung» auf schwarzem Hintergrund. Es ist eine Orthese, ein Gerät, das eine fehlende oder mangelhafte Funktion kompensiert.

Diese Erfindung ist der Vorläufer des Exoskeletts, das für Patienten mit eingeschränkter Beweglichkeit der unteren Extremitäten entwickelt wurde. Dieses Beispiel ist eindeutig therapeutischer Natur.

Für Matthieu Gafsou macht es verständlicher, dass «die Beziehung zwischen Körper und Technik nicht neu ist, sondern eine Geschichte hat: Ist der Transhumanismus nur eine Erweiterung der traditionellen Medizin oder ein Paradigmenwechsel? Ich überlasse es den Zuschauern, eine Antwort zu geben.»

Das Projekt «reWalk» von Professor Grégoire Courtine der ETHL. Neue Perspektiven für die Behandlung von Menschen mit Rückenmarksverletzungen. Matthieu Gafsou

Das Projekt «reWalk» unter der Leitung von Professorin Gregoire Courtine von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne zielt darauf ab, das Gehen neu zu lernen. Es ist für Menschen mit Behinderungen gedacht, die an Verletzungen des Rückenmarks leiden.

Das Foto zeigt eine an einem breiten Gurt hängende Ratte, welcher Elektroden auf das Rückenmark implantiert wurden. Aus Sicht des Fotografen tangiert dieses Projekt «den Transhumanismus, weil es über die direkte Mensch-Maschine-Kommunikation (Neuroprothese) funktioniert».

Der Körper kommuniziert mit der Technik. Wir befinden uns daher nicht mehr in der mechanischen Logik der Prothese oder Orthese. «Aber diese Errungenschaften hängen natürlich mit dem Wunsch der Medizin zusammen, das Leiden zu reduzieren und den menschlichen Zustand zu verbessern. Das eine verhindert das andere nicht», sagt Matthieu Gafsou.

Propaganda und Geschäft

Laut dem Fotografen bezieht sich der Transhumanismus auf das Verhältnis des Menschen zur Technik, Wissenschaft und Wirtschaft. Nicht vergessen gehen dabei auch die Fantasien der Science Fiction und Unsterblichkeitsfantasien. Er räumt ein, dass er «darüber besorgt ist, dass Propaganda und Geschäft mit Informationen vermischt werden». Die erste Prothese, die jeder trägt, ist natürlich das Smartphone.

Für einige Philosophen, Wissenschaftler, Ethiker und Politiker würde das transhumane Projekt zur Zerstörung des Einzelnen führen. Es würde das Aufkommen einer totalitären techno-organischen Religion fördern, die darauf abzielt, die Menschheit zu kontrollieren und zu formatieren. Oder die Ersetzung der Person durch eine humanisierte Maschine.

Die Verteidiger des Transhumanismus hingegen unterstreichen den emanzipatorischen historischen Prozess, in dem Wissenschaft und rationale Logik zur kontinuierlichen Verbesserung mehrerer menschlicher Dimensionen beitragen müssen: Lebensbedingungen, Leistung, Gesundheit und Komfort.

Biolumineszenz ermöglicht es, die Entwicklung von Geweben oder Organen und von Tumoren bei Mäusen zu analysieren. Matthieu Gafsou

(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)

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