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Helvecia, «Schweizer» Dorf in afro-brasilianischer Hand

Heute interessieren sich die Bewohner Helvecias nur mässig für die Schweizer Wurzeln ihres Dorfes. Christian Doninelli

1818, ein Jahr vor der Ankunft der ersten Freiburger in Nova Friburgo, gründeten ein paar Schweizer Auswanderer eine Kolonie im Süden des brasilianischen Bundesstaats Bahia. Vom Schweizer Ursprung ist nur noch der klangvolle Herkunftsname übriggeblieben: Helvecia. Das Dorf wird heute ausschliesslich von Afrobrasilianern bewohnt.

Wer Helvecia auf einer Strassenkarte des Bundesstaats Bahia finden will, muss genau hinschauen. Der Ort ist so winzig, dass er nur mit kleinen Buchstaben geschrieben wird. Weit entfernt von den grossen Verbindungsachsen, droht das Dorf in einem Meer von Eukalyptus-Plantagen verloren zu gehen. Helvecia ist in der Region als «Dorf der Schwarzen» bekannt. Ein kurzer Besuch genügt, um den Grund zu erkennen. In den Strassen begegnet man nur Menschen mit sehr dunkler Hautfarbe. Es sind Nachkommen afrikanischer Sklaven.

Aber welcher historischen Fügung verdankt das Stück Afrika in der neuen Welt seinen exotischen Namen? Die meisten Bewohner haben davon nur eine vage Vorstellung. «Vor langer Zeit gab es einen Grossgrundbesitzer, dessen Frau Helvecia hiess, erzählt eine junge Serviererin in der Bar um die Ecke.

«Aus Liebe hat er dem Grundstück diesen Namen gegeben.» Ein Gast am Tisch gegenüber widerspricht: «Nein! Helvecia ist der Name einer Stadt in der Schweiz. Vor langer Zeit sind Schweizer und Deutsche hier hergekommen, um Kaffee zu pflanzen. Deshalb begegnet man hier Familien mit Namen wie Krull, Metzker, Sutz oder Krygsman.»

Vergessene Geschichte

Im Unterschied zur Stadt Nova Friburgo, deren Geschichte weitgehend bekannt ist, verdient es die Vergangenheit von Helvetia, vom Staub befreit zu werden. «Der Gründer der Kolonie war ein deutscher Naturwissenschaftler namens Georg Wilhelm Freyreiss», sagt die geschichtsbegeisterte Rentnerin Jean Albuquerque. In ihrem Haus – und das kommt nur selten vor – musste das Fernsehgerät den Büchern Platz machen, welche die Wand von der Decke bis zum Boden bedecken.

Während sie ihre beiden Hunde streichelt, die ihr zu Füssen liegen, schöpft Jean Albuquerque aus dem reichen Fundus ihres Wissens: «Aus Freundschaft hat der König von Portugal, Jean VI., das Land der Region Helvecia an Freyreiss verschenkt. Letzterer lud in der Folge Schweizer und Deutsche ein, die um 1818 die Kolonie Léopoldine gegründet haben.»

Bestätigt wird ihre Erzählung durch ein Dokument von 1824, auf dem die Gründer der Kolonie erscheinen. Freyreiss und einem gewissen Von dem Busche stehen drei Siedler zur Seite, deren Namen auch in der Schweiz geläufig sind: Abraham Langhans, Louis Langhans und David Pache. Später stossen auch Beguin, Borel, Huguenin, Jaccard und Montandon zur Kolonie, um nur einige Familiennamen zu nennen. Unter den heutigen Bewohnern von Helvetia scheint niemand mehr solche Namen zu haben. Sie sind in Vergessenheit geraten.

Ein Schweizer, nämlich Johann Martin Flach, hier bekannt unter dem Namen Joao Martinho Flach, ist allerdings nicht aus den Gedächtnissen verschwunden – aus gutem Grund: Der Schaffhauser, der Zugang zum königlichen Hof Brasiliens hatte, bewirtschaftete von Rio aus eine der grössten landwirtschaftlichen Ländereien der Kolonie Léopoldine. Das Grundstück blieb der Nachwelt unter dem Namen Helvecia erhalten, mit dem heute das Dorf bezeichnet wird. Womit das Geheimnis dieses unerwarteten Ortsnamens gelüftet wäre.

Bleibt die Frage, weshalb die meisten der heutigen Bewohner von Helvetia vom afrikanischen Kontinent kommen.

Die ehemalige Strasse nach Helvecia. 2012 wurde sie endlich geteert. Christian Doninelli

Siedler, die zu Sklavenhaltern werden

Die brasilianischen Geschichtsforscher interessieren sich weniger für die Schweizer Wurzeln von Helvecia als vielmehr für die Entwicklung einer Wirtschaft, die auf dem Handel mit Schwarzen beruht. Es scheint, dass die Siedler erst nach dem Tod von Freyreiss im Jahr 1825 damit begannen, auf Sklavenarbeit zurückzugreifen. Denn grundsätzlich untersagten der Kolonialstatus und die sich daraus ergebenden Vorteile offiziell Sklavenarbeit. «Die Plantagen waren so umfangreich, dass ein einzelner Familienbetrieb sie nicht hätte bewirtschaften können», mutmasst Jean Albuquerque.

Im Lauf der Zeit bildeten die Sklaven auf einigen Betrieben ein beachtliches Kontingent. Joao Martinho Flach besass 1848 mehr als 100 Sklaven. In der Kolonie setzten nur die Gebrüder Ernesto und Federico Krull noch mehr ein. Ende der 1850er-Jahre berichtet Carlos Augusto Toelsner, der Arzt der Kolonie Leopoldine, dass es auf den 40 Landwirtschaftsbetrieben 2000 Sklaven für 200 Weisse habe. Das erklärt im Wesentlichen die Farbe der heutigen Bewohner von Helvecia.

Und dies ist auch der Grund, weshalb man heute noch zahlreichen helvetischen Namen unter der schwarzen Bevölkerung von Helvetia begegnet. Im XIX. Jahrhundert war es gebräuchlich, die Sklaven nach dem Namen ihrer Besitzer zu taufen.

Die ethnische Durchmischung wurde nicht vollständig vermieden. Maria Conceiçao Metzker, eine fröhliche Frau in den Siebzigern, ist ein Beispiel dafür. Nach intensiver, aber vergeblicher Suche im ganzen Haus nach ihrer Geburtsurkunde sagt sie: «Ich sage Ihnen, dass es viele Deutsche in meiner Familie hat. Deshalb kriegen einige von ihnen an der Sonne ganz rote Haut. Bei mir ist es anders. Meine Haut bräunt sich, weil meine Grossmutter eine Ureinwohnerin war, die man in den Wäldern Afrikas gefangen nahm. Ich habe afrikanische Ahnen. Kurz. Wir sind sehr durchmischt.» Sie wirft ihrem Mann, einem Krygsman (holländische Wurzeln), einen schelmischen Blick zu und kugelt sich vor Lachen.

Das Ehepaar Krygsman-Metzker. Christian Doninelli

Wo sind die Schweizer?

Die Gründerväter und ihre Nachkommen scheinen in der Region keine Wurzeln geschlagen zu haben. Nach jahrzehntelanger Übernutzung der Böden und der Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1888 kamen die Landwirtschaftsbetriebe zum Erliegen.

«Aller Wahrscheinlichkeit nach», sagt Jean Albuquerque, «kehrten die Eigentümer der Kaffeeplantagen, von denen einige noch Beziehungen zum ehemaligen Auswanderungsland unterhalten, nach Europa zurück. Die Sklaven sind geblieben, während Helvecia langsam in Vergessenheit geriet.»

Heute interessieren sich die Bewohner von Helvecia nur mässig für den helvetischen Ursprung ihres Ortes. «Das ist normal», sagt Reginaldo, der Capoeira-Lehrer im Dorf, «meine Vorfahren sind Afrikaner, ihr Blut fliesst in mir. Ich setze mich für das Kulturerbe wie Capoeira und traditionelle Tänze ein. Mit den ehemaligen Sklavenhaltern haben wir keine emotionalen Bindungen.»

Reginaldo, der Capoeira-Lehrer im Dorf. Christian Doninelli

Jean Albuquerque bedauert diese Einstellung ein wenig: «Es ist schade, den europäischen Einfluss zu ignorieren. Ohne Siedler wären diese Afro-Brasilianer nicht hier. Das ist die Geschichte. Man muss sie kennen und sie nicht verleugnen.»

Einige dramatische Anekdoten kursieren heute noch im Dorf. «Eine alte Dame hat mir erzählt, dass ein Sklavenhalter ein Kleinkind ins Feuer werfen liess, weil die Mutter, die es stillen musste, deswegen zu spät zur Arbeit gekommen war», sagt Bruno Duque, ein brasilianischer Student, der eine Diplomarbeit über Helvecia schreibt. Es ist schwierig zu beurteilen, ob diese Geschichte mündlich von Generation zu Generation überliefert oder kürzlich von einigen Historikern ausgegraben wurde. Wie dem auch sei. Es gibt zahlreiche schriftliche Beweise, sogar Archive von Prozessen, die vom erschütternden Leben der Sklaven in dieser Region berichten.

Helvecia heute

Helvecia war jahrzehntelang isoliert inmitten riesiger Eukalyptus-Plantagen. Seit drei Jahren ist es mit einer geteerten Strasse mit den Hauptverkehrsachsen verbunden. Das Dorf, in dem rund tausend Personen leben, hat den Status einer «Quilombola»-Gemeinschaft, eine bundesstaatliche Anerkennung seiner Vergangenheit und Eigenheit.

«Bis vor kurzem mussten die Schwarzen in Brasilien auf alles verzichten, was ihre Identität ausmachte», sagt Benedito dos Santos, Geschichtslehrer in Helvecia. «Unsere Traditionen waren verboten, unsere Rechte verspottet worden. Als «Quilombo», das heisst, als Gemeinschaft von Nachkommen von Sklaven anerkannt zu werden, gibt uns unseren verlorenen Stolz zurück.»

Mit der Anerkennung ist eine finanzielle Unterstützung zur Verbesserung der Infrastruktur in der Bildung, im Gesundheitswesen und Verkehr verbunden. «In diesen Bereichen haben wir 500 Jahre Verspätung», seufzt Benedito dos Santos.

(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)

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