Italienische Psychiatriereform hinterlässt Spuren in der Schweiz
Vor 40 Jahren wurden in Italien im Rahmen der "Basaglia-Reform" psychiatrische Kliniken geschlossen, um die Freiheitsrechte der Patienten zu wahren. Das Gesetz von 1978 ist nach dem Arzt Franco Basaglia benannt, dessen interdisziplinärer Ansatz zur psychischen Gesundheit in der Schweiz einen starken Einfluss hatte.
«Die Besonderheit von Basaglia war, dass er keine Kompromisse einging», sagt Giampiero Enderli, Psychiater und ehemaliger Präsident der italienischsprachigen SektionExterner Link der Schweizerischen Gesellschaft für Sozialpsychiatrie (SGSP)Externer Link. Er hatte Franco Basaglia in den frühen Siebzigerjahren kennengelernt, als dieser die psychiatrische Klinik in Triest leitete.
«In der Deutschschweiz und in Deutschland sind Kompromisse hingegen an der Tagesordnung. Kompromisse sind zwar realistischer, aber Basaglias Modelle hatten trotzdem eine unglaubliche Wirkung.»
Basaglia gelang es, die Psychiatrischen Kliniken zu schliessen und – nachdem er kreative Ateliers und Arbeitsgemeinschaften eingeführt hatte – ein neues System von Pflegediensten zu gründen. Das schuf die Grundlage für das berühmte Gesetz 180/1978Externer Link, welches das psychiatrische Gesundheitswesen in Italien reformierte.
Basaglias Einfluss in der Schweiz
In den Jahren 1972-73 wurde Basaglia ans Universitätsspital Bern eingeladen, wo linke Studentenkreise einen Verein für einen sozialen Umgang mit psychisch Kranken gegründet hatten. «Aber wir hatten noch recht ungenaue Vorstellungen», erinnert sich Enderli.
Die Schweizer Gesellschaft für Psychiatrie liess sich von Basaglia inspirieren. Sie schuf eine Kommission für Sozialpsychiatrie, um intermediäre Strukturen wie Tageszentren, Selbsthilfegruppen und Wohngemeinschaften, psychosoziale Dienste und geschützte Arbeitsplätze zu fördern.
In der Familie gesundwerden
Die Reorganisation der Pflegeeinrichtungen ist auch heute noch ein offenes Feld, aber es werden nur noch wenige Patienten in echte psychiatrische Kliniken eingewiesen, und die Bürgerrechte der Betroffenen werden mit Rekursmöglichkeiten gewahrt.
Wer heute an einer psychischen Krankheit leidet, wird in erster Linie als hilfsbedürftige Person betrachtet, nicht primär als Kranker. Psychisch Kranke werden dabei unterstützt, ihre Schwierigkeiten zu überwinden – und selbst Verantwortung zu übernehmen –, und zwar in ihrer angestammten Umgebung: in einem sozialen Kontext.
Laut Enderli wurde der Kanton Tessin viel stärker von Basaglia beeinflusst als der Rest der Schweiz. Mit dem 1985 verabschiedeten Gesetz über die sozio-psychiatrische Assistenz «wurden wir fast als Pioniere bekannt», so Enderli.
Hierzu muss allerdings gesagt werden, dass die psychiatrischen Einrichtungen in der Deutschschweiz unter dem Einfluss des benachbarten Deutschland weniger rückständig waren als jene in Südeuropa, und deshalb weniger radikale Änderungen notwendig waren.
Eine breitere Ausbildung und Vision
Enderli arbeitete in den 1980er-Jahren die meiste Zeit an einer Schule für psychiatrische Pflegefachleute in Zürich. Er erinnert sich gut an eine Kluft: Nördlich der Alpen waren die Krankenschwestern und Pfleger keine «einfachen Arzthelfer» mehr, sondern hatten so umfassende Kompetenzen und Fähigkeiten, dass sie als «Berater» zu Hilfe gezogen werden konnten.
Zudem war hier die Pflege für Personen mit psychischen Problemen eine Teamarbeit, bei welcher der Psychiater nicht mehr notwendigerweise die zentrale Figur war und jeder auf spezifische Fähigkeiten zurückgriff und mit anderen Fachleuten interagierte.
Auch deshalb seien manche Psychiater in der Deutschschweiz eher skeptisch gegenüber der italienischen Reform gewesen, schlussfolgert Enderli. Nicht weil ihnen die Patienten nicht am Herzen gelegen hätten, sondern weil «sie sich wohler fühlten in der persönlichen Beziehung zum Patienten, wie bei einer Psychoanalyse». Die Psychoanalyse sei im Übrigen eine sehr nützliche Arbeit, weil viele Leiden genau auf diese individuelle Therapieform ansprächen.
Barkeeper und Coiffeure, warum nicht?
Anfang der 1990er-Jahre wurde im Tessin zusammen mit der Gründung der italienischsprachigen Sektion der SGSP eine Zusatzausbildung in Sozialpsychiatrie eingeführt. Es handelte sich um eine interdisziplinäre Schule, die sogar daran dachte, Barkeeper und Coiffeure in die Ausbildung zu integrieren: «Sie sind Antennen in der Bevölkerung, wie es ein Arzt nie sein könnte», sagt Enderli.
Der Psychiater beharrt auf diesem integrativen Aspekt: «An den Treffen der Sektion hatte es nur etwa fünf oder sechs Psychiater.» Der Rest kam aus unterschiedlichen Berufen des Gesundheitswesens.
Patienten wurden vergessen
In Italien schloss derweil ein psychiatrisches Krankenhaus nach dem anderen. Basaglia hatte diese in einem Interview als «Orte der Ansteckung» von psychischen Krankheiten genannt, als Strukturen im Dienste der Norm und sozialen Ordnung, nicht im Dienste des Patienten.
In der Schweiz gibt es laut Enderli immer noch einige Zwangseinweisungen. Aber die fürsorgerischen Freiheitsentzüge würden nun kontrolliert. Der Patient kann sich beispielsweise mit einem Rekurs wehren. Und es werden Pflegepläne geführt.
«Früher kam es vor, dass ein Patient vergessen wurde. Auf die Karteikarten wurde nichts mehr geschrieben, als ob der Patient verschwunden wäre, dabei befand er sich auf der Abteilung der chronisch Kranken», erzählt Enderli.
Die grösste Veränderung
Weder in Italien noch im schweizerischen Tessin wurden die Reform-Gesetze hundertprozentig umgesetzt. Wenn man aber die Psychiatrie von heute mit jener vor 40 Jahren vergleicht, wird dennoch deutlich: Die Mentalität gegenüber psychisch Kranken hat sich epochal gewandelt – zum Guten.
(Übertragung aus dem Italienischen: Sibilla Bondolfi)
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