«Bei der Lex Netflix haben die Jungen den Ton gesetzt»
Das Volk hat die Lex Netflix am Sonntag mit 58,4% klar angenommen. Die Jungen haben das Ja-Lager aber lange zittern lassen. Politologin Cloé Jans über eine Abstimmung, die von einem Generationenkonflikt geprägt war.
Wie in den meisten Ländern der Europäischen Union (EU) müssen die Streaming-Giganten künftig auch in der Schweiz zur Finanzierung der Filmproduktion beitragen. Der Ausgang der Abstimmung war lange Zeit ungewiss, aber das Volk hat die Änderung des Filmgesetzes am Sonntag schliesslich relativ deutlich angenommen.
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Ja zur «Lex Netflix» – Schweizer Filmförderung wird internationaler
Die Kampagne hatte zwar zu einzelnen heftigen Debatten geführt, im Grossen und Ganzen blieb es aber relativ ruhig um diese Abstimmung. Die gfs.bern-Politologin Cloé Jans erwartet, dass der nächste absehbare Entscheid über das audiovisuelle Angebot in der Schweiz – konkret die Initiative zur Reduktion der Radio- und Fernsehgebühren auf 200 Franken – deutlich emotionaler werden dürfte.
SWI swissinfo.ch Die Befürworter:innen der Lex Netflix waren mit einem grossen Vorsprung in den Abstimmungskampf gestartet, der im Laufe der Kampagne immer weiter zusammenschrumpfte; so blieb es bis zum Schluss spannend. Wie lassen sich die Verluste des Ja-Lagers erklären?
Cloé Jans: Die Meinung der Wähler:innen über die Lex Netflix entwickelte sich atypisch. Wenn das Volk über Behörden-Vorlagen abstimmt, wie in diesem Beispiel das Filmgesetz, nimmt die Unterstützung im Laufe der Kampagne tendenziell zu. Diesmal beobachteten wir das Gegenteil. Das Nein-Lager konnte in allen Bevölkerungsgruppen an Boden gewinnen. Wir stellten auch eine zunehmende Polarisierung zwischen links und rechts fest.
Dieses atypische Muster lässt sich dadurch erklären, dass die Wähler:innen, die der Schweizerischen Volkspartei (SVP) nahestehen und der Regierung misstrauen, deutlicher Nein sagten als zu Beginn der Kampagne. Zudem schlossen sich die Reihen der FDP, deren Anhänger:innen sich ebenfalls klarer für ein Nein entschieden.
Bei der Abstimmung über das Mediengesetz, das im Februar abgelehnt wurde, war ein ähnliches Muster zu beobachten. Was gab diesmal den Ausschlag für das Ja?
Der Widerstand gegen das Mediengesetz kam ebenfalls von rechts, vor allem in der Deutschschweiz und auf dem Land. Es gibt jedoch zwei signifikante Unterschiede: Erstens haben sich Wähler:innen aus dem Zentrum, die keiner Partei angehören, stärker gegen das Mediengesetz mobilisieren lassen als gegen die Lex Netflix.
Zweitens war die Ablehnung der Medienförderung auf Seiten der französischsprachigen und italienischsprachigen Schweiz grösser als heute beim Filmgesetz.
Der Röstigraben ist in den Abstimmungsergebnissen von diesem Sonntag deutlich sichtbar. In der französisch- und italienischsprachigen Schweiz war die Zustimmung zum Filmgesetz viel höher als in der Deutschschweiz. Wie erklären Sie diese regionalen Unterschiede?
In der Deutschschweiz hat sich die Medienlandschaft anders entwickelt als im Rest der Schweiz. Der Trend geht zu mehr Privatisierung, mehr Wettbewerb und weniger öffentlichem rechtlichen Angeboten.
In der französischsprachigen Schweiz ist es genau umgekehrt. Dort hat in den letzten Jahren eine Medienkonzentration stattgefunden, wobei mit der TX Group ein Deutschschweizer Verleger sehr mächtig geworden ist.
In den lateinischen Regionen sieht man diese Entwicklung kritisch. Die Idee des öffentlichen Angebotes ist dort viel stärker verankert.
Bei der Lex Netflix spricht man nicht von staatlichen Subventionen, sondern von Kulturförderung im weitesten Sinne – und auch von einer Art Minderheitenförderung. In der Westschweiz und im Tessin ist man bereits daran gewöhnt, dass Minderheiten von der öffentlichen Hand unterstützt und geschützt werden. So hatte man vielleicht auch mehr Sympathie für den Schweizer Film.
Der Widerstand gegen die Lex Netflix wurde von der Jugend der rechten Parteien angeführt. Kann man auch von einem Generationenkonflikt um diese Vorlage sprechen?
Man kann durchaus sagen, dass die Jungen den Ton der Kampagne angegeben haben, insbesondere in den Parteien der Rechten und der Mitte. Sie haben zum Mittel des Referendums gegriffen und es teilweise auch geschafft, ihre Parteien mitzureissen.
Bei den Debatten im Parlament sprach sich die liberal-demokratische FDP noch für die Lex Netflix aus, bevor sie schliesslich ein Nein empfahl.
In der ersten Umfrage vor der Abstimmung stellten wir fest, dass die Jugendlichen das Gesetz massiver ablehnten als die Älteren. Dieser Unterschied hat sich dann zwar abgeschwächt, war aber immer noch signifikant.
Ist die Idee «Ich bezahle für das, was ich konsumiere» bei jungen Menschen verbreiteter?
Bei jungen Leuten war das Argument tatsächlich: «Ich zahle für das, was ich wirklich brauche.» Sie haben weniger Bedarf an einem breiten Angebot an lokalen Filmproduktionen, weil sie ohnehin das globale internationale Angebot sehen wollen.
Die Jugendlichen sind zudem eindeutig mehr an eine digitale Form des Medienkonsums gewöhnt. Sie haben auch mehr Erfahrung mit Streamingdiensten. Ältere Menschen betrachteten die Abstimmung eher als eine Entscheidung darüber, wie wir in Zukunft mit Steuern und Abgaben im Medienbereich umgehen wollen.
Nächster Volksentscheid zum Thema könnte die Abstimmung über die Halbierungsinitiative sein, die eine Begrenzung der Rundfunkgebühren auf 200 Franken verlangt. Lässt das Ergebnis der heutigen Abstimmung auf einen engen Kampf um die Rundfunkgebühren schliessen?
Beim Filmgesetz ging es eher um die Kulturförderung und die Frage, wie die Digitalisierung geregelt werden soll. Das ist eine andere Debatte als die Halbierungsinitiative, bei der die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) und die Zukunft der Medienlandschaft in der Schweiz im Mittelpunkt stehen werden.
Ich gehe davon aus, dass der Abstimmungskampf darüber deutlich intensiver und emotionaler sein wird als jener zur Lex Netflix. Heute war die Wahlbeteiligung relativ tief und der Wahlkampf verlief ruhig. In den Medien wurde relativ wenig berichtet. Auch die Parteien waren kaum beteiligt und haben sich eher schwach engagiert.
Ich denke, im Falle der Initiative zur Deckelung der Rundfunkgebühren wird das völlig anders verlaufen. Es dürfte eher so sein wie bei der Abstimmung über die No Billag-Initiative [welche die Rundfunkgebühren komplett abschaffen wollte] oder beim Mediengesetz, die beide sehr viel Aufmerksamkeit erhielten.
Mit dem Ja zur Änderung des Transplantationsgesetzes und zur Finanzierung von Frontex gewinnt der Bundesrat heute alle drei Vorlagen. Kann man sagen, dass es der Regierung gelungen ist, nach der Zeit der Pandemie, in der das Misstrauen zugenommen hatte, wieder Vertrauen aufzubauen?
Die beiden Jahre waren sicherlich von Kritik an den Behörden geprägt. Allerdings war das Misstrauen der Bevölkerung in den beiden Jahren nie extrem. Insgesamt hatten wir immer noch etwa 60% der Menschen, die den Behörden vertrauten.
Man kann jedoch sagen, dass in dieser Zeit das politische Klima angespannt war und die politischen Debatten emotionaler geführt wurden. Heute haben wir den Eindruck, dass die Spannung ein wenig nachgelassen hat.
Die Menschen sind vom Krieg in der Ukraine absorbiert. Sie haben andere Sorgen und nicht die Fähigkeit, sich emotional am Entscheid über das Filmgesetz zu beteiligen.
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