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Die Neutralität der Schweiz – wohin des Weges?

Bei uns diskutiert die ganze Welt über Neutralität

Volodimir Selensky und Ignazio Cassis schütteln die Hände
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski und der Schweizer Bundespräsident Ignazio Cassis in Kiew, Oktober 2021: Ist es neutral, Solidarität mit der Ukraine zu bekunden? Ist es neutral, angesichts der russischen Aggressionen zu schweigen? Diese Fragen beschäftigen auch die SWI-Community. Keystone / Presidential Press Service / Han

Russlands Krieg gegen die Ukraine führt zu grundsätzlichen Überlegungen, auch über die Rolle und das Verständnis von Neutralität: Seit Wochen tragen SWI-Nutzer:innen aus der ganzen Welt in zehn Sprachen zu einem interessanten Austausch bei.

«Was bedeutet das Wort ‹Neutralität›?», eröffnet eine Schweizer Userin aus Japan ihren Beitrag – und beantwortet die Frage wie folgt: «Neutralität bedeutet in einem Krieg auf keiner Seite zu stehen. Für mich sind deshalb auch Wirtschaftssanktionen eine Form des Krieges. Wir haben aufgehört, ’neutral› zu sein und uns der Ukraine angeschlossen».

Transparent: Neutral zu sein bedeutet, Putin zu unterstützen
Auch in Österreich stellt sich die Neutralitätsfrage, so wie hier an einer Demonstration in Wien. Georges Schneider / Picturedesk.com

Von einem anderen User aus Japan erhält sie Widerspruch: «In den alten Kriegen um die Vorherrschaft machte Neutralität Sinn. Heute aber gilt es, Stellung zu beziehen, zwischen einem Staat der die Menschenrechte unterdrückt und einem freien, demokratischen Land», schreibt Aka Hoppy.

Nicht nur aus Japan beteiligen sich SWI User:innen sehr aktiv an der Diskussion über die Zukunft der Demokratie. Seit Mitte März haben wir gegen 100 Wortbeiträge in zehn verschiedenen Sprachen aufgeschaltet und dafür hunderte von Reaktionen registriert.

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Debatte
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An der Neutralitätsdiskussion beteiligen sich auch viele User:innen aus der Schweiz. «Die Schweiz muss zu jeder Zeit strikt neutral bleiben», schreibt eine französischsprachige Kommentatorin und fügt hinzu: «Die Neutralität ist das Fundament, auf dem die Macht und der Lebensstil unseres Landes aufgebaut ist.» Weniger kategorisch äussert sich «Tiktok2021»: «Die Schweizer Neutralität wird im ‹westlichen› Ausland ja oft als Feigenblatt für merkantilistische Begierden gesehen. Als Schweiz sollten wir uns deshalb darüber Gedanken machen, wie unsere Neutralität in Zukunft für das Wohl der Menschheit eingesetzt werden kann.»

Eine neue «nicht-staatliche» Definition von Neutralität

Genau solche Gedanken hat sich der englischsprachige Nutzer «Nick Kyriazi» gemacht. Er schreibt: «Ich schlage eine neue Definition von Neutralität vor: die Regierung nimmt keine Stellung». Stattdessen sollen sich «Einzelpersonen und Unternehmen selbst entscheiden, auf welcher Seite sie stehen. Ich mache mir zum Beispiel Gedanken, ob ich noch Apple-Produkte kaufen soll, weil mir der Gedanke nicht gefällt, die chinesische Regierung bei ihrer Unterdrückung von Hongkong und den Uiguren zu unterstützen.»

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In den ersten Wochen haben auch zahlreiche User:innen aus der Ukraine und Russland die SWI Neutralitätsdebatte begleitet. Kein Wunder, denn wiederholt ist in den Verhandlungen zwischen den beiden Staaten über eine Beendigung des russischen Angfriffskrieges der Begriff «Neutralität» verwendet worden. In einem Interview mit unabhängigen russischen Medienvertreter:innenExterner Link erklärte der ukrainische Präsident Volodymyr Zelensky, dass ein Friedensabkommen mit einer «neutralen» Ukraine den Bürger:innen des Landes in einer Volksabstimmung zur Ratifizierung vorgelegt werden müsste. 

Wie eine solche Neutralität aber aussehen könnte liess er offen. Es gibt viele Varianten der Neutralität und es wird nicht einfach sein, eine zu finden, die den widerstrebenden Bedürfnissen von Kiew und Moskau gerecht wird. Am 7. April sagte Zelensky in der Jerusalem PostExterner Link: «Wir können bei der Ukraine nicht von der ‹Schweiz der Zukunft› sprechen – wahrscheinlich wird unser Staat erst nach langer Zeit so sein können.»

Zelensky per Videoschaltung auf einer Leinwand
«Ich wünschte mir von Herzen, dass die Menschen in der Ukraine so leben können wie die Schweiz», sagte Zelensky per Videoschaltung an einer Demonstration in der Schweizer Bundeshauptstadt Bern. © Keystone / Peter Klaunzer

Hohe Hürden für eine «nachhaltige» Lösung

Eric Golson forscht an der britischen Universität Surrey zu Handelskriegen. Aus seiner Sicht machen die neutralitätspolitischen Absichtserklärungen des ukrainischen Präsidenten zwar Sinn. Aber: «Um die Neutralität auch langfristig innenpolitisch aufrecht zu erhalten, sind eine starke Zivilgesellschaft und starke und glaubwürdige staatliche Institutionen notwendig.» Solche werden im Krieg Russlands gegen die Ukraine derzeit mit grosser Brutalität zerstört.

Hinzu komme die internationale Dimension, betont Golson, der seine Dissertation zur Neutralität der Schweiz, Schwedens und Spaniens im Zweiten Weltkrieg verfasst hat: Eine Volksabstimmung innerhalb der Ukraine zum Thema, so der britische Experte, würde einer «Neutralität sicherlich mehr Glaubwürdigkeit verleihen.»

Das sieht auch der Schweizer Politologe Pascal Lottaz, der an der japanischen Waseda-Universität «Neutralitätsstudien» lehrt, so: «Das ist eine gute Idee und auch Selbstschutz für den Präsidenten. Denn jeder künftige Deal muss Zelensky ja auch in der eigenen Bevölkerung verankern können.» Von der auf SWI in zehn Sprachen geführten Diskussion ist Pascal Lottaz positiv beeindruckt: «Das Thema ist weit gereist und generiert viele Meinungen. Die Abwägungen zwischen militärischen und ökonomischen Mitteln wird oft angesprochen und das ist der zentrale Punkt in dieser Situation». Dabei macht die Neutralitätsdebatte natürlich auch vor der Schweiz – einem der traditionsreichsten neutralen Länder der Welt – nicht Halt.

Von rechtskonservativer Seite ist, nachdem die Schweiz Sanktionen gegen Russland ergriffen hat,  die Idee einer Volksinitiative für eine verfassungsmässige Festschreibung der sogenannten «integralen Neutralität» lanciert worden. Eine solche würde dem Bundesrat künftig verbieten, sich an Wirtschaftssanktionen zu beteiligen. Bislang verfolgte die Schweiz  eine «differenziellen Neutralität», die solche Massnahmen wie im aktuellen Fall der Ukraine erlaubt.

«Neutral angesichts von Gräueltaten?»

Zuspruch für eine solche offenere Intepretation der «Neutralität» kommt jedoch vom liberalen Thinktank Avenir Suisse: «Wir sehen auch in einer noch engeren Zusammenarbeit mit der Nato und der EU keine Verletzung der in den Haager Abkommen festgelegten Neutralitätsgrundsätze», sagt Lukas Rühli, der für Avenir Suisse eine neue StudieExterner Link zur Sicherheitspolitik verfasst hat: «Es kann vermutet werden, dass die Schweiz in einer Zukunft, die von verstärkter Bipolarität zwischen liberalen Demokratien und staatskapitalistischen Autokratien geprägt ist, ihre Neutralitätspolitik verstärkt zu Gunsten von Ländern ihres eigenen Wertekreises auslegt.»

Eine italienische Userin brachte es in der SWI Debatte nach Bekanntwerden der russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine so auf den Punkt: «Wie können wir angesichts dieser Gräueltaten neutral bleiben?»

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