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«Ich bin zuständig für die Schönheit der Stadt Berlin»

Regula Lüscher
"Ich bin zuständig für ein Berlin, das lebenswert ist", sagt Regula Lüscher, seit zehn Jahren Senatsbaudirektorin. Petra Krimphove

Die gebürtige Baslerin Regula Lüscher ist bereits seit 2007 als Senatsbaudirektorin für die grosse architektonische Linie Berlins verantwortlich. Ihr liegt dabei der Respekt vor dem städtebaulichen Erbe der DDR besonders am Herzen.

Vor zehn Jahren holte der Berliner Senat die Schweizer Architektin aus Zürich nach Berlin. Seither hat sie ihr Amt unter drei Regierungskoalitionen und vier Senatorinnen und Senatoren ausgeübt. Eine Seltenheit im politischen Betrieb, die auch etwas über Lüschers Ansehen in der deutschen Hauptstadt aussagt.

Die Berliner Presse hat sie einmal als «oberste Geschmackpolizei Berlins» tituliert. «Ich bin zuständig für die Schönheit der Stadt», beschreibt sie selbst im Gespräch mit swissinfo.ch ihre Aufgabe. Dabei geht es Lüscher um weit mehr als um die Ästhetik. Schönheit sei eh keine fixe und objektive Kategorie, betont sie. Was Menschen gefällt, was sie als schön empfinden, hängt von ihren persönlichen Erfahrungen, von ihrem Hintergrund, von ihrem ganz individuellen Blick ab.

«Es hat auch etwas mit Heimat zu tun», sagt Lüscher. Für die einen ist dies der Hochhausblock in Ost-Berlin, in dem sie eine schöne Kindheit erlebt haben, für andere das Einfamilienhaus im Grünen oder der Gründerzeitbau. Die Architektin hält es nicht für zulässig, «das eine oder andere abzuwerten». Der DDR-Plattenbau hat für sie die gleiche Existenzberechtigung wie die Gründerzeitvilla.

Senatsbaudirektorin

Im Stadtstaat Berlin ist der Senat das Äquivalent zu einem Kabinett in den Landesregierungen der deutschen Flächenstaaten wie Baden-Württemberg. Jedem Minister stehen dabei zwei Staatssekretäre zur Seite. Regula Lüschers Amt als Senatsbaudirektorin und Staatssekretärin in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt ist ein politisches. Ihre Aufgabe ist es, Leitbilder für die architektonische Entwicklung der Stadt zu entwickeln. Unterstützt wird sie dabei von einem Gestaltungsbeirat – dem «Baukollegium Berlin». Da Berlin aus zwölf Bezirken mit eigenen Verwaltungen, Regierungen und Parlamenten besteht, liegen viele Entscheidungen auch in deren Hand.

«Ich bin zuständig für ein Berlin, das lebenswert ist», konkretisiert sie daher ihre Jobbeschreibung. Es gehe darum, übergeordnete Planung in qualitätsvolle Architektur umzusetzen. Wo fügen sich welche Art von Hochhäusern in Stadtviertel ein und wo nicht? Welche Brachen sollen wie bebaut werden? Wo ist Platz für dringend benötigten neuen und vor allem bezahlbaren Wohnraum in Berlin?

Dabei ist Lüschers Aufgabe eher mit einer auf Kantonsebene vergleichbar. In Berlins zwölf Bezirken haben die jeweiligen Baustadträte ebenfalls mitzureden. In einem Spannungsfeld aus Politik, öffentlicher Meinung und Investoren treibt sie die Planung der Stadt voran und setzt dabei auf Diskussionen. Seit Januar ist in einer rot-rot-grünen Regierung die der Linkspartei angehörende Senatorin Katrin Lompscher Lüschers Vorgesetzte. Beide sind Stadtplanerinnen. «Wir schätzen uns sehr im Fachlichen, im Führungs- und Kommunikationsverständnis», sagt die parteilose Lüscher.

Das doppelte Berlin

Trotz der Wiedervereinigung vor 28 Jahren sind die architektonischen Folgen der Teilung Berlins im Stadtbild nach wie vor unübersehbar. Neben das gemeinsame städtebauliche Erbe aus der Vorkriegszeit gesellte sich nach der teilweisen Zerstörung der Stadt die vom jeweiligen System in der BRD und der DDR geprägte Nachkriegsmoderne.

Lüscher spricht dabei lieber vom doppelten als vom geteilten Berlin. «Ein grossartiger städtebaulicher Schatz» sei dies, in dem die beiden Stile für sie gleichrangig nebeneinanderstehen. Sie bezeichnet «die kritische Versöhnung beider Stadthälften» als Triebfeder ihrer Tätigkeit.

Berlin
Berlin, Alexanderplatz Getty Images/Sean Gallup

Das beinhaltet, den gerade für ehemalige DDR-Bürger in ihrer Symbolik so bedeutenden Gebäuden der Ostmoderne zum Beispiel rund um den Alexanderplatz mit Respekt zu begegnen. Von der Rekonstruktion historischer Bauten, wie derzeit mit dem Wiederaufbau des Schlosses in Berlins Mitte praktiziert, hält Lüscher indes nicht viel. Aber das war eine Entscheidung des Bundes. Und doch versteht die Schweizerin nach zehn Jahren in Deutschland den Wunsch vieler, vom Krieg Zerstörtes quasi zurückzuholen. «Diese Erfahrung mussten wir zum Glück in der Schweiz ja nie machen.»

Die Eisberge unter dem Tisch

Gerade in der Kommunikation musste sie sich nach ihren Jahren in Zürich dabei erst an deutsche Gepflogenheiten gewöhnen. «Meine erste Zeit hier war geprägt von gegenseitigen Missverständnissen», erinnert sie sich. Lüschers Team wartete auf Vorgaben, die neue Chefin strebte wie zuvor in der Schweiz an, gemeinsam mit anderen Dinge voranzutreiben. «Die Folge war, dass man mir anfangs vorwarf, keine Führung zu übernehmen und keine klaren Ansagen zu machen», erinnert sie sich. Mittlerweile habe sie sich diesbezüglich «ganz stark assimiliert». Sie kennt die Fallstricke und: «Ich bin bestimmter geworden.»

Hinzu kam, dass sie mit den unausgesprochenen Vorbehalten auf ost- und westdeutscher Seite nicht vertraut war. «Ich konnte in den Diskussionen die Eisberge unter dem Tisch nicht sehen, ich konnte sie nur spüren.» Ihre eidgenössische Herkunft erwies sich in diesem Punkt durchaus als Vorteil: Sie stand auf keiner Seite, war – typisch Schweiz – neutraler Grund. «Viele Menschen haben mir Dinge erzählt, eben weil ich von aussen kam», blickt sie zurück.

Mittlerweile ist sie in Berlin angekommen, so sehr, dass sie seit einem Jahr neben der Schweizer auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. «Das war eine sehr emotionale Entscheidung», bekennt Lüscher.

Den Ausschlag gab die deutsche Haltung in der Flüchtlingskrise, die sie persönlich sehr beeindruckte. «Ich erlebe, dass die Schweiz zu wenig anerkennt, was dieses Land vollbracht hat», so ihre Einschätzung. Der Wiederaufbau Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, die Aufarbeitung der Nazi-Gräuel und die friedliche Wiedervereinigung seien alles enorme Herausforderungen gewesen. «Ich finde Deutschland ist ein tolles Land.»

Eine neue Ära für Stadtplaner

Ihre Verbindungen in die Heimat bleiben dennoch stark. Alle vier bis sechs Wochen fährt sie nach Zürich, wo ihr Mann lebt und sie selbst lange als niedergelassene Architektin und Stadtbauchefin gearbeitet hat.

So unterschiedlich beide Städte auch sein mögen. «Das Handwerk ist das Gleiche», sagt Lüscher. «Die prozessuale Stadtentwicklung hat mich an beiden Orten geleitet.» Sie beginne mit einem übergeordneten Plan, der immer wieder angepasst werden müsse, im Gespräch mit anderen und über die Zeit hinweg.

Berlin ist für sie noch immer ein höchst attraktiver Arbeits- und Wohnort. Zumal auch die Stadtplanung sich am Beginn einer neuen Ära befindet: Neue Mobilitätskonzepte und die langsame Abkehr vom Auto als zentralem Fortbewegungsmittel, auf das sich die Stadtentwicklung lange fokussiert hat, stossen für Planer und Architekten ganz neue Türen auf.

«Die Rückgewinnung der Strasse als Lebensraum ist eine städtebauliche Revolution», sagt Lüscher. Doch der Umbau werde ein langer Prozess sein und auch die Architektur verändern. Endlich kann sich das Leben und Wohnen wieder der Strasse zuwenden, statt ihr aus Lärmvermeidungsgründen den Rücken zu kehren.

Zürich ist schon weiter

In diesem Punkt sei die Schweiz Vorreiterin, betont sie und verweist auf Zürich. Dort habe man in der Stadtplanung 10 bis 15 Jahre früher umgesteuert als in Deutschland: Eingeschränkte Parkplätze, Vorrang für den öffentlichen Nahverkehr, differenzierte Fahrradwegsysteme – in Berlin wird darum noch hart gekämpft.

Auch soziale Probleme spielen in Lüschers Ressort hinein. Die deutsche Hauptstadt boomt und leidet unter massiver Wohnungsnot. Der Senat steht wegen angeblicher Tatenlosigkeit unter massiver Kritik auch von Seiten der lokalen Medien. Nicht alles kann man dabei der Politik ankreiden.

Ausgerechnet zwei Volksbegehren nach Schweizer Vorbild machten der Planung des Senats an zwei wichtigen Orten einen Strich durch die Rechnung. Ein Mal wehrten sich die Berliner gegen die Randbebauung auf dem 2008 geschlossenen alten Flughafen Tempelhof, der seither als riesige Erholungsfläche dient. Jüngst plädierte die Bevölkerung für den Weiterbetrieb des derzeitigen Flughafens Tegel, der nach der immer wieder verschobenen Eröffnung des neuen Grossflughafens BER eigentlich geschlossen werden soll. Auf dem Tegel-Gelände soll ein neuer Stadtteil mit vielen tausend Wohnungen entstehen.

Nun sind die Pläne erst einmal auf Eis gelegt. Ersatz muss her. Für Regula Lüscher bleibt noch viel zu tun.

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