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Ernährungssicherheit: “Wenn wir jetzt nicht handeln, bezahlen wir einen hohen Preis”

Bernard Lehmann an einer Pressekonferenz.
Kämpft bei der UNO gegen die Ernährungskrise: Bernard Lehmann. Keystone / Dominic Steinmann

Weltweit hungern mehr als 800 Millionen Menschen. Um die Ernährung in Zukunft für alle sichern zu können, brauche es eine Transformation des gesamten Systems. Das sagt Bernard Lehmann, erster Schweizer Vorsitzender des UNO-Expertengremiums für Ernährungssicherheit. Er erklärt, wie diese Transformation aussehen müsste.

SWI swissinfo.ch: Was macht Ihnen am meisten Sorgen, wenn Sie die Ernährungslage weltweit betrachten?

Bernard Lehmann: Da ist einerseits das Dauerproblem der Klimakrise, die immer verheerendere Dürreperioden verursacht. Dadurch gehen besonders in Afrika und Asien viele Ernteerträge und fruchtbares Land verloren, was dazu führt, dass lokal weniger Nahrungsmittel vorhanden sind. Viele Kinder leiden unter Fehl- und Mangelernährung, das ist dramatisch. Kommt hinzu, dass es jene Länder besonders hart trifft, die an den Folgen der Covid19-Pandemie leiden und ein grosses Bevölkerungswachstum aufweisen.

Hat der Angriffskrieg gegen die Ukraine die Lage verschärft?

Ja, dieser Krieg hat die Ernährungskrise weltweit befeuert. Das Angebot an Weizen und Speiseöl wurde knapp und die Preise auf dem Weltmarkt schnellten in die Höhe, wodurch immer mehr Menschen der Zugang zu Nahrung verwehrt wird. Das ist der Hauptgrund der heutigen Ernährungskrise. Es ist nicht die mangelnde Verfügbarkeit, das Essen ist da! Das Problem ist, dass die Menschen nicht die Mittel haben, die Nahrungsmittel zu kaufen.

Bernard Lehmann ist Vorsitzender des UNO-Expertengremiums für Ernährungssicherheit (High Level Panel of Experts on Food SecurityExterner Link – HLPE-FSN). Das 2010 gegründete Gremium ist unter anderem dafür zuständig, den aktuellen Stand der Ernährungssicherheit und die Ursachen der Probleme zu analysieren und zu bewerten. Es liefert wissenschaftliche Analysen und Vorschläge zu politikrelevanten Themen.

Lehmann ist der erste Schweizer in dieser Position. Davor war er unter anderem Direktor des Bundesamtes für Landwirtschaft und Professor für Agrarökonomie an der ETH Zürich. Seit 2022 ist er auch Stiftungsratspräsident des Forschungsinstituts für biologischen Landbau (FibL) Schweiz.

Es geht bei der Bekämpfung von Hunger also vor allem um Armutsreduktion?

Das ist ein zentraler Bestandteil, ja. Den meisten Betroffenen fehlt es an Geld, Land, Vieh oder Wald, um sich ausreichend und angemessene Nahrung zu beschaffen. Das verstösst gegen das Recht auf Nahrung, ein Menschenrecht, das völkerrechtlich verankert ist.

Welche Massnahmen sind nötig?

Wichtig wäre eine umfassende soziale Absicherung in den betroffenen Ländern, damit die Kaufkraft erhalten bleibt und der Zugang zu Nahrung sichergestellt wird. Fachleute der Vereinten Nationen fordern schon länger einen globalen Fonds für soziale Sicherheit. Kurzfristig helfen Gutscheine und Bargeldtransfers, wie sie vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) bereits eingesetzt werden. Oder Mikrokredite – wenn gerade keine Inflation herrschen würde. Langfristig bräuchte es vor allem bessere Ausbildungsmöglichkeiten für die junge Bevölkerung.

Diese flieht, wenn möglich, in wirtschaftlich stabilere Gegenden.

Und das ist ein grosses Problem für den globalen Süden. Es sind die jungen Menschen, die es braucht für eine Transformation, ihnen muss man dringend Perspektiven bieten. Etwa mit Chancengleichheit bei der Ausbildung und der Möglichkeit, ein eigenes Business aufzuziehen. Ein guter Ansatz wäre auch, den informellen Sektor zu professionalisieren. Kleinstunternehmen können Wunder bewirken für die Ernährungssicherheit.

Viele Länder des globalen Südens stecken jedoch in einer tiefen Schuldenkrise.

Das stimmt. Hinzu kommen vielerorts Bürgerkriege und politische Unruhen, die die akute Not befeuern. Hier müssen westliche Länder helfen, mit Geld, Schuldenabbau oder Investitionen.

Wie kann der Westen konkret helfen?

Kurzfristig könnten die UNO-Mitgliedstaaten etwa das Welternährungsprogramm finanziell unterstützen, das dringend auf Beiträge angewiesen ist. Langfristig wäre es wichtig, beim internationalen Handelssystem anzusetzen, das einer der Hauptgründe für den weltweiten Hunger ist. Die Länder des globalen Südens müssten wieder mehr für den eigenen Markt produzieren, anstatt für den Export. Und der Norden müsste aufhören, den Markt dieser Länder mit billigen Produkten zu schwemmen und so die lokale Produktion zu zerstören.

Gleichzeitig könnten beispielsweise Schweizer Firmen ihre Produkte im Land selbst verarbeiten lassen, anstatt nur das Rohmaterial zu importieren. Das schafft Arbeitsplätze und Wertschöpfung vor Ort und macht die Länder widerstandsfähiger gegen Krisen.

Der neueste Bericht des UN-Expertengremiums für Ernährungssicherheit, dem Sie vorstehen, befasst sich mit den Ungleichheiten im Ernährungssystem. Um was geht es dort?

Der Bericht zeigt auf, wie eng Ernährungsunsicherheit und Ungleichheit über die ganze Wertschöpfungskette verzahnt sind, vom Bauernhof bis zum Teller. So haben Kleinbauernfamilien oft einen schlechten Zugang zu Ressourcen und Marktchancen, während einzelne Lebensmittelkonzerne die Mehrheit des Marktes für Pestizide und Saatgut kontrollieren.

Hinzu kommt der bereits erwähnte ungleiche Zugang der Verbraucherinnen und Verbraucher zu angemessenen und nahrhaften Lebensmitteln. Um diese Ungleichheiten zu überwinden, brauchen die Menschen auch wieder mehr Entscheidungsmacht über ihre Ernährung.

Was bedeutet das?

Es bedeutet, dass jeder und jede selber darüber entscheiden kann, was er oder sie essen möchte und wie dieses Essen produziert wird. Das würde Abhängigkeit und Ungleichheit reduzieren, doch gerade marginalisierte Bevölkerungsgruppen haben diese Entscheidungen heute meistens nicht in der Hand. Unser Gremium hat letztes Jahr in einem Bericht dafür plädiert, dass diese Entscheidungsmacht in die Definition von Ernährungssicherheit einfliesst.

Was bedeutet Ernährungssicherheit?

Aktuell stützt sich die Definition von Ernährungssicherheit auf vier Pfeilern: Verfügbarkeit, Zugang, Nutzung und Stabilität. Das HLPE-FSN hatte in einem Bericht von 2022 vorgeschlagen, die Definition um zwei weitere Komponenten zu erweitern: Nachhaltigkeit und Handlungsmacht (Agency).

Derweil lebt der Grossteil der Schweizer Bevölkerung im Überfluss. Was können wir tun, um die Situation zu verbessern?

Da die meisten von uns über Entscheidungsmacht verfügen, können wir mit unserem Konsum den Markt beeinflussen. Zum Beispiel könnten wir tierisches durch pflanzliches Eiweiss ersetzen. Der übermässige Fleischkonsum lässt sich nicht schönreden: Rund 60 Prozent des Getreides, das auf der Welt produziert wird, ernährt nicht Menschen, sondern wird als Kraftfutter an Tiere verfüttert. Rund 16 Prozent geht in die Produktion von Biosprit. Das fehlt dann anderswo im System.

Eine weitere Verantwortung haben wir beim Thema Food-Waste. Ein Drittel der weltweit produzierten Nahrungsmittel geht verloren oder wird weggeworfen. Darunter sind auch die sogenannten Food Losses, die meist in Ländern des globalen Südens direkt auf den Feldern verderben. Verhindern könnten dies bessere Lager- oder Kühlmöglichkeiten und eine funktionierende Verkehrsinfrastruktur. In den reichen Ländern des Nordens hingegen landet viel Essen direkt im Müll. Dort könnten wir beispielsweise ansetzen.

Welche Verantwortung hat die Politik?

Im Vordergrund steht die Entwicklungszusammenarbeit. Hier gilt es darauf zu achten, dass neue Bedürfnisse – wie die Hilfe im Ukrainekrieg – nicht die Hilfe für den globalen Süden schmälern. Speziell die Unterstützung in die Berufsbildung in Ernährungssystemen sehe ich als stark ausbaufähig.

Was die Agrarpolitik in der Schweiz angeht, sollten wir den Pestizideinsatz drastisch reduzieren und nicht mit noch mehr Subventionen befeuern. In eine Landwirtschaft ohne Pestizide wird noch viel zu wenig investiert. Etwa in die Forschung von Agrarökologie, die gute Ansätze gegen die Ernährungskrise bietet.

Was sind die Vorteile dieser Methode?

Sie ist ökologischer: Die Agrarökologie kommt mit möglichst wenig Inputs von aussen, also Pestizide und Düngemitteln, aus. Es geht um natürliche Kreisläufe, gesunde, humusreiche Böden und die Förderung der Artenvielfalt. Monokulturen, wie sie einst die sogenannte grüne Revolution befeuerten, werden durch nachhaltige, vielfältige Anbaumethoden ersetzt. Aber auch soziale Aspekte wie die Stärkung von Kooperativen, regionalen Absatzmärkten oder faire Lieferketten sind Teil des Konzepts.

Agrarökologie gewinnt in den letzten Jahren wissenschaftlich und politisch an Bedeutung. Warum fristet sie in der Praxis noch immer ein Nischendasein?

Einerseits, weil sie bestehende Machtstrukturen verändern würde. Andererseits ist die Methode auch sehr wissensintensiv, was oft abschreckend wirkt. Deswegen wäre es umso wichtiger, in die Forschung und landwirtschaftliche Beratung zu investieren. Es gibt nicht ein Patentrezept, um aus dem jetzigen Krisenmodus auszubrechen, sondern eine Vielfalt von Lösungen. Aber die Zeit drängt. Der Preis, den wir zahlen, wenn wir jetzt nicht handeln, ist sehr hoch.

Die Agrarökologie stellt die lokale Produktion in den Vordergrund – würde das auch das Ende des globalen Handelssystems bedeuten, wie wir es heute kennen?

Es würde sicher vieles grundlegend verändern. Ganz ohne Handel geht es aber nicht. Doch der Schutz der lokalen Produktion müsste dabei Priorität haben. Auch Handelsabkommen können fair und klimaverträglich ausgestaltet sein, erste Schritte in die Richtung gibt es ja bereits. Aber nur ein bisschen an den Fehlern herumzuschrauben, das funktioniert nicht mehr. Was es jetzt braucht, ist eine ganzheitliche Transformation auf allen Ebenen des Ernährungssystems, um es zukunftstauglich zu machen.

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