Betreibt Novartis soziales Engagement oder Schönfärberei?
Die Nachhaltigkeitsanleihe von Novartis war eine Weltpremiere für die Pharmaindustrie. Doch erleichtert sie ärmeren Menschen wirklich den Zugang zu Medikamenten? Oder ist es bloss eine Art von "Greenwashing"?
Novartis ist der erste Pharmakonzern weltweit, der eine Nachhaltigkeitsanleihe (kurz SLB für Sustainability-Linked Bond) lancierte, und erst das dritte Unternehmen, das ein solches Wertpapier anbietet.
Im Gegensatz zu den anderen, die ihre Anleihen mit Umweltzielen verknüpften, hat Novartis seine SLB im Wert von umgerechnet 1,95 Milliarden Franken mit sozialen Zielen verbunden.
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ESG-Anleihen kurz erklärt
Vor allem die Verfügbarkeit bestimmter Medikamente in ärmeren Ländern soll verbessert werden. Werden die Ziele nicht erreicht, muss Novartis einen Strafzins an die Gläubigerinnen und Gläubiger entrichten.
«Die Verknüpfung von Innovation und Zugang zu Arzneimitteln mit messbaren Zielen und die Untermauerung dieser messbaren Ziele mit einer finanziellen Verpflichtung ist für mich ein sehr starkes Signal, dass wir es sehr ernst meinen und bereit sind, uns finanziell zu engagieren», sagte Lutz Hegemann, Leiter der Abteilung Corporate Affairs and Global Health bei Novartis, im vergangenen November während eines auf Youtube übertragenen PodiumsExterner Link.
Kritikerinnen und Kritiker weisen aber auf die mangelnde Transparenz der Ziele und deren Messung hin. Sie bezweifeln, dass die Anleihe, die seit 2020 ausgegeben wird, den Zugang zu Medikamenten in ärmeren Weltregionen wirklich verbessern wird.
Diese Ahnungen nähren die Befürchtung, dass die SLB nur dazu dient, Investitionsziele im so genannten ESG-Bereich (Umwelt, Gesellschaft und verantwortungsvolle Unternehmensführung) abzuhaken. Da nun immer mehr Pharmaunternehmen in die Fussstapfen von Novartis treten, werden die Rufe nach einer besseren Rechenschaftspflicht lauter.
Novartis kotierte ihre SLB-Anleihe am 23. September 2020 an der Schweizer Börse. Sie brachte knapp 1,85 Milliarden Euro ein, was rund 31 % der von Novartis im Jahr 2020 begebenen Anleihen und rund 8% der ausstehenden Anleihen entspricht.
Die SLB wurde mit einem Abschlag von 99,354 % ihres Nennwerts ausgezeichnet, was bei der Emission von Euro-Anleihen üblich ist.
Der Bond, der 2028 fällig wird, wird mit 0% verzinst. Sollte Novartis aber eines oder beide ihrer Ziele für 2025 nicht erreichen, muss der Konzern ab 2026 bis zur Fälligkeit einen Strafzins von 0,25 % pro Jahr zahlen.
Novartis ist verpflichtet, bis einschliesslich 2025 jährlich einen ESG-Bericht zu veröffentlichen, und hat die Möglichkeit, die Anleihe nach der Veröffentlichung des 2025er-Berichts jederzeit zurückzukaufen.
Ein boomender Markt
Der Markt für ESG-Anleihen besteht seit 2007, als die Europäische Investitionsbank die erste grüne Anleihe lancierte. Seitdem hat die Emissionstätigkeit stark zugenommen und laut der Environmental Finance Bond Database im Jahr 2021 die Marke von einer Milliarde US-Dollar überschritten – mehr als doppelt so viel wie im Jahr zuvor.
Der Grossteil der ESG-Anleihen ist mit Umweltzielen verknüpft, aber SLBs sind das am schnellsten wachsende Segment. Das italienische Energieunternehmen Enel SpA machte 2019 den Anfang. Seither sind die SLB-Verkäufe sprunghaft angestiegenExterner Link – von 8,8 Milliarden Dollar im Jahr 2020 auf 93 Milliarden Dollar im vergangenen Jahr.
SLBs würden es Unternehmen, die «vielleicht kein grosses Kapitalvolumen oder keine speziellen Klima-Projekte haben, aber dennoch ihr Engagement für mehr Nachhaltigkeit demonstrieren wollen, ermöglichen, ESG-Investition zu tätigen», sagt Zach Margolis, Manager bei der kanadischen Beratungs- und Ratingfirma Sustainalytics. Das Unternehmen überprüfte 2021 zwei bis drei SLBs pro Woche und führte auch eine externe Bewertung der Novartis-Anleihe durch.
Das Schweizer Baustoff-Unternehmen Holcim gab im November 2020 die erste SLB seiner Branche heraus und 2022 zwei weitere. Das französische Luxusmodehaus Chanel lancierte im September 2020 eine AnleiheExterner Link, die an Klimaziele geknüpft war, während das israelische Unternehmen Teva Pharmaceuticals im November 2021 als erster Generika-Hersteller eine SLB emittierte, die sowohl an soziale als auch an Umweltziele geknüpft war.
Die Investorinnen und Investoren wollen mehr. «Die Nachfrage ist immens und übersteigt momentan das Angebot bei weitem», sagt Margolis. «Viele Grossanlegende, Pensionskassen und Fonds haben den ausdrücklichen Auftrag, ihre Portfolios nachhaltiger zu gestalten. Und SLBs bieten eine Möglichkeit, dies zu tun.»
Im Gegensatz zu grünen Anleihen müssen die über SLBs aufgenommenen Mittel aber nicht für soziale oder ökologische Zwecke ausgegeben werden. Die Kreditnehmenden verpflichten sich nur, innerhalb einer bestimmten Frist Umwelt- oder Sozialziele zu erreichen. Sie müssen aber nicht ausweisen, wofür die Erlöse tatsächlich verwendet wurden.
Ein Blankoscheck?
Da keine Rechenschaftspflicht besteht, hängt die Glaubwürdigkeit der SLBs in erster Linie von der Qualität der ausgewählten Indikatoren und Ziele ab, die gemäss freiwilligen Grundsätzen des Branchenverbands ICMAExterner Link in Zürich relevant, messbar und ehrgeizig sein sollten. Gemäss ICMA sollten sie idealerweise auf einem Benchmarking oder einer externen Referenz basieren.
Mit seinem sozialen Bond möchte Novartis bis 2025 diverse Ziele erreichen, namentlich sollen die «Patientenreichweite für bestimmte Medikamente» ausgeweitet werden.
1. Ausweitung der Reichweite ihrer «Flaggschiff-Programme» auf mindestens 22,6 Millionen Patientinnen und Patienten im Jahr 2025 im Vergleich zum Basisjahr 2019, was einem Plus von mindestens 50% entspricht. Die Programme umfassen vier infektiöse oder vernachlässigte Krankheiten: Malaria, Sichelzell-Krankheit, Lepra und Chagas-Kardiomyopathie.
2. Ausweitung der Reichweite selbst ausgewählter «strategischer, innovativer Arzneimittel» auf mindestens 1,64 Millionen Patientinnen und Patienten in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen im Jahr 2025 gegenüber 2019, was einer Steigerung von mindestens 200% entspricht. Die Medikamente sind im Werbedokument zur Anleihe nicht aufgeführt, aber Novartis liess gegenüber swissinfo.ch verlauten, dass sie 18 ihrer patentgeschützten Medikamente umfassen. Diese sollen hauptsächlich gegen Krebs und andere nicht übertragbare Krankheiten eingesetzt werden, zum Beispiel Aimovig gegen Migräne, Cosentyx gegen Schuppenflechte und Kisqali gegen Brustkrebs.
Doch wie kann Patientenreichweite gemessen werden? Im Werbedokument zur Anleihe räumt Novartis ein, dass keine Standardmetriken existierten. Das Unternehmen hat sich jedoch für eine Formel entschieden, bei der das Gesamtumsatz-Volumen durch das Volumen pro Patientin oder Patienten (welches auf einem Standard-Therapieschema basiert) geteilt wird. Diese Metriken werden von Gesundheitsexpertinnen und -experten stark kritisiert.
«Viele Pharmaunternehmen sind bestrebt, möglichst simple und aussagekräftige Kennzahlen zu entwickeln», sagt Peter Rockers, Assistenzprofessor am Department of Global Health der Universität Boston.
«Doch wenn man zu stark vereinfacht, erhält man am Ende Kennzahlen, die oft nicht viel aussagen oder deren Bedeutung völlig unklar ist», sagt Rockers, der an der Bewertung eines Novartis-Programms in Kenia mitgearbeitet hat.
Besonders die Patientenreichweite sei problematisch. Selbst die «Access to Medicine Foundation» scheut sich, den Begriff zu verwenden. Und sie bezieht das Umsatzvolumen pro Patientin oder Patienten nicht in ihre Rankings mit ein.
Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass der Umsatz nicht unbedingt mit der Reichweite gleichzusetzen ist, besonders angesichts der Probleme bei der Verteilung und Erschwinglichkeit der Medikamente in vielen Weltregionen.
In seinem Werbedokument räumt Novartis diese Einschränkungen ein und erklärt, dass es Faktoren gebe, die «ausserhalb ihrer Kontrolle liegen», etwa die lokale Preis- und Rückerstattungs-Politik oder die Kontinuität der Versorgung. Kritikerinnen und Kritiker hinterfragen nicht zuletzt die Gültigkeit und Integrität der Ziele des Konzerns in Bezug auf seine Vorzeigeprogramme im ESG-Bereich.
Als Ausgangsbasis für die genannten Ziele dient das Jahr 2019. In jenem Jahr brach die Zahl der Patientinnen und Patienten aber nach Angaben des Unternehmens um fast die Hälfte auf etwas mehr als 15 Millionen ein.
Das Unternehmen führte den Rückgang auf einen Umsatzeinbruch beim Malariamittel Coartem zurück, was wiederum mit der Markteinführung eines Generikums zu tun hatte. 2020 stiegen die Zahlen wieder an, auf 43,9 Millionen, doppelt so hoch wie der Zielwert, den sich Novartis für das Jahr 2025 gesetzt hat. 2021 folgte wiederum ein Rückgang auf 32,6 Millionen – dieser Wert liegt aber immer noch deutlich über dem Ziel.
Das Ergebnis führte Novartis auf eine «veränderte Strategie im Key-Account-Management» und «unsere Fähigkeit zurück, die besondere Nachfrage vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie zu bedienen». Ein Sprecher erklärte im November gegenüber swissinfo.ch, Novartis-Analystinnen und Analysten würden davon ausgehen, dass die Generika-Konkurrenz das Erreichen des Ziels im Jahr 2025 erschweren würde.
Das grosse Ganze
Die Unklarheiten sind einer der Gründe, warum Stephen Liberatore, leitender Portfoliomanager beim US-Vermögensverwaltungs-Unternehmen Nuveen, sich gegen den Kauf der SLB entschieden hat.
Es gebe nicht genug Transparenz, sagt Liberatore. «Man kann nicht sagen, dass Patienten, die sonst nicht profitieren würden, durch die Ziele der Anleihe wirklich geholfen wird.»
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Besserer Zugang zu teuren Medikamenten
Liberatore beanstandete auch die Ziele selbst, die auf den Leistungen von Novartis während der vergangenen Jahre beruhen. Die angestrebte Wachstumsrate für die Erhöhung der Patientenzahlen bei den «strategischen, innovativen Therapien» sei langsamer als das, was vor 2019 erreicht worden sei.
Andere sehen es positiver. Marijn Verhoef von der «Access to Medicine Foundation» findet, dass die Konzentration auf den Verkauf von mehr Medikamenten und nicht nur auf den Gewinn eine «positive Veränderung» sei. Er fügte hinzu, dass «eine erhebliche Steigerung des Umsatzvolumens auch eine Steigerung der erreichten Patientinnen und Patienten bedeutet».
Die von SWI swissinfo.ch befragten ESG-Investmentexpertinnen und -experten räumten Probleme bei der Auswahl und Messung der Zielvorgaben ein, führten diese aber zum Teil auf die Lernkurve zurück, die jedes neue Produkt durchlaufe, vor allem auf schnell wachsende SLBs.
«Man muss das grosse Ganze sehen», sagt Philanthropie-Experte Maxmilian Martin von der Schweizer Bank Lombard Odier Group. «Wir stehen mit diesen Anleihen noch ganz am Anfang. Ich denke, wenn wir dieses Gespräch in fünf Jahren führen würden, hätten wir einen viel besseren Überblick und könnten eher sagen, was wie gemessen werden muss.»
Doch viele Investorinnen und Investoren beobachten den TrendExterner Link der SLB-Schuldtitel mit kritischem Blick. Einige verweisen auf den Fall Tesco: Das britische Einzelhandels-Unternehmen wurde dafür kritisiert, dass es sein Emissionsziel bereits zu 83 % erreicht hatte, bevor es seine erste SLB belegte.
Auch beim Pharmakonzern Teva gab es negative Meinungen: Als er seine SLB im Jahr 2021 herausgab, beklagten sich Anlegerinnen und Anleger über zu wenig TransparenzExterner Link und dass die vorgesehen Konsequenzen im Fall eines Nichterfüllens der Ziele zu lasch waren.
Die Investorinnen und Investoren würden immer anspruchsvoller, sagt Martin. «Sie wollen, dass genau definiert wird, was grün und sozial ist.»
In einem Artikel von 2021Externer Link schrieb Liberatore, dass er sich gezwungen sehe, die Anlegerinnen und Anleger vor SLBs zu warnen. «Die Ziele oder Vorgaben können so manipuliert werden, dass sie relativ leicht zu erreichen sind, manchmal auf der Grundlage des aktuellen Kurses des Emittenten und ohne die Notwendigkeit sinnvoller neuer Investitionen», schrieb er.
Damit eine solche Anleihe funktionieren könne, müssten klare Ziele und Anreize angegeben werden. «Mein Problem ist nicht die Idee der SLBs, sondern ihre Umsetzung», sagt Liberatore. «Ich habe bislang keine gefunden, die mit der Art und Weise im Einklang steht, wie wir Investitionen tätigen.»
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Wie die Schweiz zur Hochburg der globalen Pharmaindustrie wurde
Externer Link(Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer)
(Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer)
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