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«Bitte macht keine Heldin aus mir»

Pia Zanetti in Züroch
Pia Zanetti, fotografiert in ihrem Wohnquartier in Zürich, Januar 2021 Thomas Kern/swissinfo.ch

In der Fotostiftung Schweiz in Winterthur hängt im Moment das Lebenswerk der Schweizer Fotografin Pia Zanetti. swissinfo.ch hat sie zu Hause in Zürich getroffen und mit ihr über ihre 60 Jahre als Fotografin gesprochen.

Pia Zanetti,Externer Link geboren 1943 in Basel, gehört zu den profiliertesten Schweizer Fotojournalistinnen ihrer Generation, und zu den wenigen Frauen, die sich in diesem Metier über Jahrzehnte behaupten konnten. Schon als junge Frau war sie gierig auf die Welt und realisierte zusammen mit ihrem Mann, dem Journalisten Gerardo Zanetti, engagierte Reportagen.

Ihre Arbeit macht den Widerstand gegen das Unrecht genauso wie die flüchtigen Momente des Alltags zum Inhalt – auf der Strasse, beim Spielen und Nachdenken. Ihre Fotografie ist geprägt von einem so weltoffenen wie mitfühlenden Blick, der die Menschen in den Vordergrund rückt.

swissinfo.ch: Ich schaue mir das erste Bild an im Buch: Drei junge Männer tanzen auf einer Bühne, es ist datiert mit 1960. Sie waren damals gerade mal 17 Jahre alt. Das Bild erweckt den Eindruck einer gewissen beobachtenden Distanz. Die jungen Männer sind aber gleich alt wie Sie damals. Waren Sie immer schon die Beobachterin?

Pia Zanetti: Das Bild zeigt eine runde Bühne, die sich dreht. Ich selbst wollte da nicht rauf, ich war scheu damals: Da ist es einfacher zu beobachten als mitzumachen. Dazu kommt, dass meine Vorbilder damals die Fotografen der Agentur Magnum waren.

Das Bild hat auch ein wenig von diesem Magnum-Groove. Etwas vom Wichtigsten in dieser Zeit war, dass man sich als Fotografin unsichtbar machen konnte. Es galt fast schon als eine Schande, wenn jemand in die Kamera schaut. Das war etwas, das ich anstrebte – mein Vorbild war damals Margaret Bourke-White, eine Pionierin des amerikanischen Bildjournalismus der 30er-Jahre.

Sie fotografieren seit 60 Jahren. Was hat sich verändert?

Die Möglichkeit zu arbeiten. Was man heute ein «Projekt» nennt, das machten wir damals als bezahlten Auftrag. Wenn man sich für etwas interessierte, machte man bei der entsprechenden Redaktion einen Vorschlag. Wir konnten damals auf eine Redaktion gehen mit drei Vorschlägen für Reportagen, keine Geschichten draussen vor der Haustür, sondern Recherchen weit weg, in der Welt, mit Reisen verbunden.

Archivschachtel Fotos
Ein Blick in den Archivraum der Fotografin. Aus diesen Schachteln wurde im Lauf der vergangenen 2 Jahre die aktuelle Ausstellung zusammengestellt. Thomas Kern/swissinfo.ch

Da wurde sofort entschieden, das machen wir, die zweite Geschichte auch gleich, den dritten Vorschlag besprechen wir dann, wenn ihr wieder zurück seid. Braucht ihr einen Vorschuss? Geht auf dem Weg nach draussen bei der Kasse vorbei und holt euch Geld ab. Die Redaktion der Woche hatte für uns allein in Zürich eine kleine Wohnung gemietet, nur damit wir, wenn wir aus Rom oder aus London auf Durchreise waren, einen Ort zum Schlafen hatten. Sowas gibt es nicht mehr.

Wie gingen Sie mit dem technischen Wandel um?

Ich habe den Wechsel zum Digitalen lange herausgeschoben – dann aber nie bereut. Ich war nie die Fotografin, die gerne im Labor stand, im Gegenteil, ich versuchte so wenig wie möglich in der Dunkelkammer zu sein. Da war immer eine Höllenangst, dass nichts drauf ist auf den Filmen.

Weshalb wollten Sie unbedingt Fotografin werden?

Mich hat fasziniert, was mein Bruder, der Fotograf war, macht. Er hat später mehr Werbung gemacht, ursprünglich aber auch Reportagen. Ich wollte auch Geschichten erzählen und in die Welt hinaus gehen. Mit welchem Beruf kann man das schon? Es war klar für mich, das ist meine Möglichkeit, ob mir das auch gelingen würde, wusste ich damals noch nicht.

Wurden Sie dabei unterstützt? Oder hat man versucht, Sie davon abzuhalten?

Meine Mutter war überzeugt, dass ich mir als Fotografin mein Leben nicht werde verdienen können. Das galt als brotlose Kunst. Ich wohnte zusammen mit meiner Mutter in einer 1-Zimmer Wohnung. Abends mussten wir teilweise das Geld zusammensuchen, eine Flasche zurückzubringen, um sich mit dem Depot noch ein Brot zu kaufen zu können. Ich wusste schon, so arm möchte ich nicht durchs Leben gehen.

Aber ihr Bruder war doch Beweis dafür, dass man mit der Fotografie trotz allem Geld verdienen konnte. Weshalb also die Zweifel?

Das stimmt – aber er war ein Mann! Und ich war sehr zierlich. Meine Mutter konnte sich das ganz einfach nicht vorstellen. Ich machte also erst eine Handelsschule. Ich habe mit 17 ein Jahr im Büro gearbeitet, war stolz darauf etwas Geld zu verdienen und meiner Mutter auch unter die Arme greifen zu können. Aber ich habe allen gleich gesagt, dass ich nur kurz bleiben werde.

Mein Eindruck ist, dass Sie ein Leben geführt haben, in dem der Blick stets nach vorne gerichtet war. Heute schauen Sie auf ein Lebenswerk zurück. Dieses Wort ist in ihrem Fall doch angebracht, nicht? Wie fühlt sich das an?

Ich glaube schon. 60 Jahre sind wohl schon ein Lebenswerk. Als ich begann, mein Archiv aufzuarbeiten, meinte Peter Pfrunder, der Direktor der Fotostiftung Schweiz, ich solle mich danach melden. Zuerst war ich natürlich unglaublich stolz darauf, gefragt zu werden, aber dann kam auch die Angst. Was zeige ich da? Ist meine Arbeit auch gut genug?

Das war ein drei Jahre dauernder Prozess der Rückschau. Das Verarbeiten des Archivs wird so zu einer Analyse des eigenen Lebens. Auf fast allen Reisen war ich unterwegs zusammen mit Gerardo Zanetti, meinem verstorbenen Mann. Das ist zusätzlich schwierig, wenn diese andere Stimme nicht mehr da ist. Ich habe mir im Lauf der gemeinsamen Arbeit auch ein politisches Bewusstsein erarbeitet. Das war zumindest bei mir nicht von Beginn weg vorhanden, bei Gerardo schon.

Wie zeigte sich das?

Ich kann mich an ein Bild erinnern, als wir in Südafrika waren. Ein gutaussehender Schwarzer, ein junger Mann, stand hinter einem Stacheldraht, seine Hand am Draht, wo er ihn halten konnte. Ich musste für einen Moment an ein Bild von Leni Riefenstahl denken und konnte mich nicht überwinden abzudrücken, ich traute mich nicht, wegen diesem Bild im Kopf.

PIa Zanetti zu Besuch in einer Kohlemine in Südafrika
Obwohl der Aberglaube Frauen den Zutritt zu Minen eigentlich nicht erlaubt, die Fotografin im schlecht sitzenden Overall einer Kohlemine in Blegny, Belgien, 1967 zVg Pia Zanetti

Es war mein Mann, der mir sagte: «Drück ab! Wir sind die einzigen hier.» Mit anderen Worten: Niemand wird das sehen, wenn du jetzt das Bild nicht machst. Wir haben lange zusammen gearbeitet, waren ein sehr enges und gut funktionierendes Team, aber ich hatte immer den Verdacht, dass die Aufträge kamen, weil Gerardo ein guter Journalist war. Er wiederum dachte, dass die Arbeit kommt, weil ich eine ausgezeichnete Fotografin war. Ich wollte mir später selbst beweisen, dass ich das auch alleine kann.

Plötzlich nennt man Sie eine Pionierin, eine Vorreiterin und ein Vorbild in einer bis vor kurzem sehr von Männern dominierten Welt der Fotografie und des Journalismus. Wie gehen Sie damit um und gab es in Ihren früheren Lebensphasen ein Bewusstsein für diese Rollen?

Ich muss da ehrlich sein, ich geniesse es, ich bade mich im Ruhm (lacht). Ich finde es extrem schön. Aber nein, früher hatte ich diese Bewusstsein nicht. Und das hatte ich auch nie angestrebt. Das sind zu grosse Worte. Ich würde diese Begriffe für mich nie gebrauchen. Bitte macht keine Heldin aus mir. Viele Frauen, die sowas lesen, müssen doch denken, dass sie den Anforderungen nicht gewachsen sind. Aber es ist wichtig zu wissen, dass ich selten Angst habe vor etwas. Das verwundert die Menschen oft sehr.

Sie hatten doch Angst davor, dass nichts drauf ist auf den Filmen . . .

Ja, Angst vor der Technik, vielleicht . . . Aber vor anderen Dingen nicht. Als ich zusammen mit Gerardo in Rom ankam in den 1960ern, ich konnte ein wenig italienisch. Da stürzte ich mich einfach in die Arbeit und auf unsere Reportagen. Ich war sehr jung und sah dazu noch jünger aus als ich war, wie ein Mädchen. Die Arbeit war oft auch Aktualität, zum Beispiel ein Papstbesuch im Kolosseum. Da stand ich dann neben den Paparazzi, das waren Apparate von Männern.

Ist ihr Lebenswerk heute denn überhaupt abgeschlossen? Sie sind 77 Jahre alt. Legen sie die Kamera denn nun zur Seite, oder kommt das für Sie nicht in Frage? Was treibt Sie an?

Soll ich denn nun den Sarg bestellen? (lacht) Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, dass ich im Moment keine Lust habe, die Kamera in die Hand zu nehmen. Das erstaunt auch mich selbst. Aber man muss ja akzeptieren, was mit einem passiert.

Die Fotografin Pia Zanetti
Ausschnitt aus einer Collage mit Selbstporträts der jungen Fotografin. zVg Pia Zanetti

Das haben Sie noch nicht analysiert?

Das möchte ich vielleicht auch gar nicht. Es ist eine grosse Freiheit, mit leeren Händen, ohne Kamera und ohne Stativ nach draussen zu gehen. Ich bin nicht wie René Burri, ich werde nicht mit der Leica ins Grab steigen. Ich habe diesen Beruf extrem gerne, aber es gab auch immer etwas anderes, als der Karriere zu folgen. Ich hätte mich früher nie darum bemüht, eine Ausstellung zu bekommen. Ich vertraue fest darauf, dass wieder etwas Neues auf mich zu kommt, dass ich Lust haben werde etwas Neues zu machen.

In einer Ausstellung der Fotostiftung Schweiz in WinterthurExterner Link hängen zur Zeit 67 Bilder der Schweizer Fotografin Pia Zanetti, die Arbeit von 6 Jahrzehnten. In den 60er Jahren lebte sie in Rom und London, später bereiste Sie mit ihrer Kamera die ganze Welt. Wie alle anderen Museen, war das Fotozentrum vergangenen Monat geschlossen. Abhängig von den verordneten Schutzmassnahmen des Bundes kann sich dies aber jederzeit ändern. Bitte konsultieren Sie deshalb die Webseite der FotostiftungExterner Link. Geplant war die Ausstellung vom 23. Januar bis zum 24. Mai 2021.


Das Buch ist im Buchhandel schon vor der Eröffnung der Ausstellung vergriffen. Bestellen kann man die bei Scheidegger&Spiess und Codax Publishers erschienene und von Peter Pfrunder herausgegebene Monografie über den e-shop des MuseumsExterner Link.

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