Bizarrer Clinch um den Tunnel am Grossen St. Bernhard
Die ausserordentlichen Wartungsarbeiten für den Grossen-St.-Bernhard-Strassentunnel haben bereits begonnen. Doch fehlen von italienischer Seite noch 26 Millionen Euro. Und das Problem der Konzessionserneuerung für den Betrieb des grenzüberschreitenden Tunnels ist weiterhin ungelöst.
Der Grosse-St.-Bernhard-Strassentunnel verbindet den Kanton Wallis mit dem italienischen Aostatal. Im Jahr 2022 fuhren 849’570 Fahrzeuge durch die Röhre. Die Zukunft des Tunnels ist jedoch unsicher. Grund ist ein geradezu exemplarischer Fall von grenzüberschreitender Bürokratie.
Es war ein kurzer Artikel in den Zeitungen der CH-Media-GruppeExterner Link vom Oktober 2023, der aufdeckte, dass das Schicksal des Alpentunnels an einem seidenen Faden hängt.
Der Schweizer Bundespräsident Alain Berset und die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hatten den Gipfel der Europäischen Politischen Gemeinschaft in Granada (Spanien) für ein bilaterales Treffen genutzt. Im Gespräch ging es auch um dringend nötige Reparaturarbeiten am Grossen-St.-Bernhard-Tunnel.
Diplomatisch war die Formulierung in der offiziellen Version der italienischen RegierungExterner Link: «Die beiden Regierungschefs erörterten die Fortsetzung der gemeinsamen Arbeiten zur Renovierung des Tunnels des Grossen St. Bernhard». Etwas direkter war die Aussage von Bundesrat Berset, wonach man über «gewisse Sorgen» bezüglich des Grossen-St.-Bernhard-Tunnels gesprochen habe.
Papierkrieg und Sitzungen
Die Turbulenzen um den italienisch-schweizerischen Strassentunnel begannen am 21. September 2017, als ein 300 Kilogramm schwerer Träger im Tunnel auf der italienischen Seite einstürzte. Der Tunnel war danach drei Monate lang für den Verkehr gesperrt, um Sicherheitsmassnahmen zu ergreifen und das Projekt zur Sanierung der Lüftungsdecke aufzugleisen.
Die Kosten für die Arbeiten: 52 Millionen Euro, die zwischen Italien und der Schweiz aufgeteilt werden sollten. Doch während nördlich der Alpen alles reibungslos lief, tat sich auf der italienischen Seite nichts. Das Dossier geriet in Rom ins Stocken.
Fünf Jahre lang berichteten die Medien der beiden Länder nur wenig oder gar nicht über den Fall der Tunnelsanierung. Doch hinter den Kulissen gab es etliche Sitzungen und Schriftwechsel.
Olivier Français, Präsident derTunnelkonzessionsnehmerin Société Tunnel du Grand-Saint-Bernard (TGSB SA)Externer Link auf Schweizer Seite, sagt zu tv.svizzera.it: «Wir kämpfen seit 2017 – im Stillen, weil wir diskret sind, und selbst jetzt bin ich sehr vorsichtig. Denn ich will Rom nicht provozieren.»
Die Affäre ist kompliziert und betrifft eine Vielzahl von öffentlichen und halbstaatlichen Einrichtungen, stellt aber vor allem für die italienische Regierung ein riesiges Problem dar, weil sie es versäumt hat, das Problem anzugehen.
Italien ist in Verzug: Die 26 Millionen Euro für die laufenden Renovationsarbeiten sind nie angekommen. Aber es steht noch viel mehr auf dem Spiel. Denn die Konzession für den Betrieb der Infrastruktur muss erneuert beziehungsweise verlängert werden.
Ohne diese Perspektive einer Konzessionsverlängerung, so Olivier Français, sind die Aussichten düster: «Wenn die Probleme nicht gelöst werden, sind keine Voraussetzungen gegeben, um die Sicherheit zu gewährleisten; und wir werden gezwungen sein, den Tunnel zu schliessen.»
«Wenn die Probleme nicht gelöst werden, werden wir gezwungen sein, den Tunnel zu schliessen.»
Olivier Français, Präsident der Société Tunnel du Grand-Saint-Bernard
Verschachteltes System
Auf Schweizer Seite ist die bereits erwähnte Société Tunnel du Grand-Saint-Bernard SA (TGSB) Konzessionsnehmerin. Hauptaktionäre dieser Gesellschaft sind die Kantone Waadt und Wallis sowie die Stadt Lausanne. Auf italienischer Seite ist die Società Italiana per il Traforo del San Bernardo Spa (SITRASB) Konzessionsnehmerin, an der die Region Valle d’Aosta mit 63,50% beteiligt ist. Beide Unternehmen sind zu gleichen Teilen an der Tunnelbetreiberin Société Italo-Suisse d’Exploitation SAExterner Link (SISEX SA) beteiligt, die den Tunnel auf der Grundlage der von beiden Ländern unterzeichneten Konzession und der 2004 von der Europäischen Union erlassenen VorschriftenExterner Link instand hält.
Das Problem ist nun, dass das zwischen der Schweiz und Italien abgeschlossene Abkommen und damit die Konzession im Jahr 2034 ausläuft. Dieser Zeithorizont ist aber auf italienischer Seite unzureichend für die Aufnahme eines Bankkredits und die Amortisierung der Investitionen in Millionenhöhe für die aktuellen und künftigen Renovationsarbeiten.
Auf Schweizer Seite gibt es keinen Widerstand gegen eine Verlängerung des Abkommens und damit der Konzession bis 2070. Problematisch ist die Situation hingegen auf der italienischen Seite.
Das Dossier liegt seit mehreren Jahren in Schubladen der Zentralregierung von Rom. Vor kurzem wurde offenbar auch die Europäische Kommission involviert, bei der die italienische Regierung 2022 wegen der Vereinbarkeit des bilateralen Tunnel-Abkommens mit EU-Recht vorstellig wurde.
Aber wo befindet sich das Dossier in Brüssel? In welcher Abteilung? SITRASB-Präsident Edi Avoyer weiss es nicht und betont: «Wir haben mehrmals versucht, diese Informationen zu erhalten – vergeblich».
Avoyer ist seit 2022 im Amt und hat dieses kafkaeske Dossier geerbt. Es ist ihm etwas peinlich, doch zugleich betont er: «Mein Vorgänger hat alles versucht, um das Problem zu lösen.» Zudem merkt er an: «Die Herangehensweise Roms ist anders als bei den Schweizern. Und die Instabilität der italienischen Regierungen ist auch nicht gerade hilfreich. «
So nah’ und doch so fern
Olivier Français bestätigt diese Analyse und nutzt die Gelegenheit, um seinem Ärger etwas Luft zu machen: «Es ist nicht immer einfach, grenzüberschreitend zu arbeiten. In der Schweiz sind die Vorschriften einfacher, und paradoxerweise kostet ein Bauprojekt hier weniger. In Italien macht ein Wust von Vorschriften die Dinge komplizierter.»
Der Grosse-St.-Bernhard-Tunnel war 1964 der erste alpenquerende Autobahntunnel. Für die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen der Schweiz und Italien war er von entscheidender Bedeutung.
Das Aostatal konnte dank dieses Bauwerks die geografische Isolation in den Wintermonaten überwinden. In fast sechzig Jahren wurde der Tunnel von mehr als 33 Millionen Fahrzeugen durchfahren, davon waren fast 90% Autos.
Er ist eine beliebte Verbindung für Grenzgänger:innen, aber auch Tourist:innen, die in den Süden, ans ligurische Meer oder in die Weinregionen des Piemont fahren. Der Grosse-St.-Bernhard-Pass hat historisch – und damit lange vor dem Tunnelbau – schon immer eine wichtige Rolle in den Beziehungen zwischen Nord- und Südeuropa gespielt.
Am 23. Mai 1958 unterzeichneten die Italienische Republik und die Schweizerische Eidgenossenschaft das Abkommen über den Bau des Grossen-St.-Bernhard-Tunnels. Auf italienischer Seite war die Fabbrica Italiana Automobili Torino (FIAT) Mehrheitsaktionärin und Finanzier.
FIAT hatte ein grosses wirtschaftliches Interesse am Tunnel, um seine Autos nach Nordeuropa zu transportieren.
Um Lüftungsprobleme zu vermeiden, entschied man sich für einen Tunnel von nur 5,8 Kilometern Länge. Vor den beiden Tunnelportalen wurden jeweils etwa fünf Kilometer Strasse mit einer Stahlbetondecke überdeckt, um die Fahrbahn vor Witterungseinflüssen zu schützen.
Die Arbeiten am Tunnel starteten auf italienischer Seite – im Sommer 1958. Am 5. April 1962 um 21.30 Uhr fiel die letzte Felswand zwischen den Angriffen Nord und Süd. Im Zentrum der Infrastruktur steht ein kleines Wasserkraftwerk, das den Wasserfall in der Belüftungsstruktur nutzt.
In weniger als sechs Jahren bauten SITRASB und TGSB den Tunnel, die Zufahrtsstrassen auf beiden Seiten und die beiden Verwaltungs- und Kontrollstationen der Infrastruktur, in denen auch der schweizerische und der italienische Zoll untergebracht sind. Der Tunnel wurde am 19. März 1964 eröffnet.
Sehen Sie hier: Der Grosse-St.-Bernhard-Tunnel – seine GeschichtExterner Linke (in italienischer Sprache). Ein Dokumentarfilm von MG videoproduzioni, im Auftrag von Rai Valle d’Aosta.
Auf der Website des TunnelsExterner Link heisst es: «Über den Pass kamen römische Legionen, Barbarenstämme, die Sarazenen, die Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, die Päpste, die Kreuzzüge und Napoleon Bonaparte mit seiner Armee.»
Der Bau des Tunnels in einer Höhe von fast 2000 Metern war ein episches Unterfangen. Ist es möglich, dass eine Infrastruktur von solcher Bedeutung durch eine bürokratische Farce gefährdet wird?
Das grosse Schweigen
Eine schweizerisch-italienische Kommission, die sich aus Vertreter:innen der Verwaltung und technischer Dienste beider Länder zusammensetzt, trifft sich einmal im Jahr, um Probleme bezüglich des Tunnels zu besprechen.
Die letzte Sitzung fand im Oktober 2022Externer Link statt. Und die nächste Sitzung? Edi Avoyer verrät: «Das Treffen wurde dieses Jahr nicht einberufen, weil die italienische Regierung neue Vertreter:innen nominieren muss. Wir drängen aber darauf.»
In der Region Aostatal herrscht grosses Schweigen. Niemand will reden. Der Schlamassel um den Grossen Sankt Bernhard ist heikel und die Präsidentschaft der Region hält es im Moment nicht für angebracht, sich zu äussern.
Weder der Präsident der Region, Renzo Testolin, noch der Europabeauftragte Luciano Caveri kommentieren den Stand der Dinge. Dabei hat gerade Caveri in den vergangenen Jahren in den Medien des AostatalsExterner Link häufig Alarm geschlagen.
Das italienische Ministerium für Verkehr und Infrastruktur (MIT) verweist für eine Stellungnahme an die Präsidentschaft des Ministerrats. Dieser verweist wiederum an die Abteilung für Europapolitik (DPE), die dann wieder ans MIT zurückverweist.
Ein surreales Spiel.
Das DPE klärt jedoch das Rätsel auf: «Am 28. Juli 2023 wurde die Angelegenheit vom MIT in eine spezielle Plattform («SANI2″) aufgenommen, und zwar als Massnahme, die bei der Europäischen Kommission vorzubringen ist, um Gespräche aufzunehmen.»
Aus gut informierten Quellen ist zu erfahren, dass in der Schweiz Bundesrat Albert Rösti, Vorsteher des Eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK), entschlossen ist, das Problem zu lösen. Im Moment aber gibt Verkehrsminister Rösti keinen offiziellen Kommentar zum Schlamassel um den Grossen-St.-Bernhard-Tunnel ab.
Ungewisse Aussichten
Der Präsident der Tunnel-Konzessionsnehmerin TGSB auf Schweizerischer Seite, Olivier Français, nimmt hingegen kein Blatt vor den Mund: «Wir haben mindestens drei Jahre verloren, aber seit 2022 haben wir es geschafft, das Dossier in die obersten Etagen der Macht zu katapultieren. Die Angelegenheit liegt nun auf dem Pult der Regierungen und nicht mehr länger in den Händen von technischen und juristischen Amtsstellen.»
Die Medienstelle der Europäischen Kommission antwortet auf eine Anfrage nach drei Wochen mit einer wenig aussagekräftige Stellungnahme: «Die Kommission steht in Kontakt mit den italienischen Behörden. Wir können keine weiteren Informationen geben.»
Edi Avoyer als Präsident der Betreibergesellschaft SITRASB gibt sich gleichwohl vorsichtig optimistisch: «In den letzten Monaten ist Bewegung in das Dossier gekommen; die derzeitige italienische Regierung scheint nach einer Lösung zu suchen.»
Er sagt, er habe die italienische Regierung um eine «Überbrückungsfinanzierung» gebeten, um zumindest die Verpflichtungen auf italienischer Seite für die laufenden Arbeiten zu erfüllen. Er weist aber zugleich darauf hin, dass seine Gesellschaft sich ans Verwaltungsgericht wird wenden müssen, wenn das Dossier nicht vom Fleck kommt.
Ein solches Vorgehen dürfte die Angelegenheit nicht gerade beschleunigen. Eine Studie des Observatoriums für Öffentliche Finanzen der Katholischen Universität MailandExterner Link hat aufzeigt, dass die Fälle vor Verwaltungsgericht erstinstanzlich im Mittel zwei Jahre und drei Monate dauern, in zweiter Instanz zwei Jahre.
Doch die Hoffnung stirbt zuletzt. Gemäss jüngsten italienischen MedienberichtenExterner Link gab es am 14. November in Rom ein technisches Treffen im Ministerium für Infrastruktur, an welcher eine Road Map zur Sanierung der Situation vorgelegt wurde. Klar ist aber auch geworden, dass den Italiener:innen ohne eine Antwort aus Brüssel zu der Konzessionsfrage für den Tunnelbetrieb die Hände gebunden sind.
Aus dem Italienischen übertragen und bearbeitet von Gerhard Lob.
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