Blockchain für nachhaltige Lieferketten: Hype oder Rettungsanker?
Wollen Sie wissen, woher die Zutaten in Ihrem Lieblingssnack stammen? Sie können alles darüber erfahren, indem Sie mit Ihrem Smartphone einen Code auf der Packung scannen. Das ist die Idee hinter einem neuen Blockchain-System zur Verfolgung der Lieferkette, das Multis wie der Schweizer Nestlé-Konzern einsetzen. Es ist aber alles andere als eine Wunderwaffe.
Es ist ein heisser Tag in einer ländlichen Region Mexikos. Ein Lastwagen hält neben einer Palmöl-Plantage, um ein Bündel kürzlich geernteter Palmfrüchte abzuholen. Dann werden die Früchte zu einer 20 km entfernten Mühle transportiert, in der sie zu Palmöl verarbeitet werden. Das Öl wird in Lebensmittelprodukten des in der Schweiz ansässigen Nestlé-Konzerns landen.
Hinter dieser einfach wirkenden Operation steckt mehr, als sich auf den ersten Blick vermuten lässt. An jedem Bündel Palmfrüchte ist ein RFID-Chip angebracht. Beim Verladen auf den Lastwagen registriert ein bordeigener Sensor die Palmfrüchte und verfolgt ihren Weg von der Plantage zur Mühle mit Hilfe von ausgeklügelter Satellitentechnik.
Alle der in jeder Phase erzeugten und gesammelten Daten werden über ein Blockchain-basiertes Lieferketten-Managementsystem namens «OpenSC» an den Nestlé-Hauptsitz in der Schweiz übermittelt.
«Diese Technologie stellt sicher, dass der Lastwagen unterwegs nicht angehalten hat, um Früchte von einer anderen Farm abzuholen. Sie garantiert, dass die Früchte, welche die Mühle erreichen, wirklich nur von der angegebenen Farm stammen», sagt Benjamin Dubois, der bei Nestlé für die Einführung der Blockchain-Projekte verantwortlich ist.
Auf Technologie gesetzt
In den vergangenen zehn Jahren hat Nestlé versucht, sicherzustellen, dass der Konzern kein Palmöl verwendet, das mit Abholzung in Zusammenhang steht, nachdem er von Organisationen wie Greenpeace kritisiert worden war. Der multinationale Konzern mit Sitz in der Schweiz begann damit, zertifiziertes, «sauberes» Öl vom Runden Tisch für nachhaltiges Palmöl (Round Table on Sustainable Palm Oil, RSPO) zu beziehen und seine Lieferanten per Satellit zu überwachen.
Trotz dieser Versuche wird Nestlé sein Ziel nicht erreichen, bis 2020 eine Lieferkette ohne Abholzung zu haben. Bislang sind etwas mehr als 70% des eingekauften Palmöls von Nestlé als entwaldungsfrei zertifiziert, wobei die Rückverfolgbarkeit des Palmöls bis zur Plantage bei 62% liegt, die Rückverfolgbarkeit bis zur Mühle bei 93%.
Das Palmöl-Blockchain-Experiment in Mexiko ist Nestlés jüngster Versuch, die Kontrolle über seine Versorgungskette zu erlangen. Der Flirt des Unternehmens mit der Technologie, die hinter Bitcoin steht, begann 2017, als es in das Blockchain-System Food Trust von IBM einstieg, eine gebrauchsfertige Lösung, die bei Unternehmen sehr beliebt ist.
Ab 2019 war Nestlé in der Lage, Konsumentinnen und Konsumenten mit Blockchain aufgezeichnete Daten für seine Kartoffelpüree-Mischung Mousline und die Guigoz-Säuglingsnahrung in Frankreich anzubieten, gefolgt von Zoégas-Kaffee in Schweden ein Jahr später. Mit Hilfe eines Smartphones können Daten wie Informationen über Landwirte, Erntezeiten, Lagerung in Lagerhäusern oder Versandwege abgefragt werden.
Nun erweitert die Schweizer Firma den Einsatz der Technologie auf anspruchsvollere Rohstoffe wie Palmöl und offenere Blockchain-Optionen wie «OpenSC», eine gemeinsam mit dem WWF Australien entwickelte Plattform. «OpenSC» setzt auf Automatisierung mit Hilfe der «IoT»-Technologie (Internet der Dinge). Dazu gehören zum Beispiel RFID-Etiketten, QR-Codes und Sensoren zur Überwachung der Temperatur eines Produkts.
Dadurch soll Jeder und Jede auf Blockchain-basierte Informationen zur Lieferkette für ein Produkt zugreifen können. Nestlé testet «OpenSC» derzeit für Palmöl auf dem amerikanischen Kontinent und für Milch, die in Neuseeland produziert wird.
«Es ist bisher nicht so weit fortgeschritten wie IBM Food Trust. Es ist auch viel komplexer und erfordert die Erstellung neuer Datenquellen», sagt Dubois.
Wie sicher?
Christoph Schmidt, Spezialist für Logistikmanagement an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH), spricht sich für offenere Blockchain-Systeme wie «OpenSC» aus, auch wenn deren Umsetzung für die Unternehmen viel mehr Aufwand erfordert.
Er stellt aber auch die Sicherheit solcher Systeme in Frage: «Ich denke, ‹OpenSC› ist ein Schritt in die richtige Richtung, da es ein Konsortium ist und nicht von einer kleinen Zahl von Unternehmen vorangetrieben wird. Für Firmen besteht aber immer noch ein Risiko in Bezug auf die Datensicherheit», sagt er.
«Das grösste Problem mit Blockchain-Technologie in Lieferketten ist, dass wir diese Schnittstelle mit der realen physischen Welt haben. Es gibt verschiedene Dateneingabepunkte entlang einer Lieferkette, die Schwachstellen sind», sagt er.
Die Qualität der Informationen, die ein System wie «OpenSC» liefert, hängt von der Genauigkeit der eingegebenen Daten ab. Schmidt erklärt, dass dies in komplexen Lieferketten problematisch sei, da mehr Dateneingabepunkte das Fehlerrisiko erhöhten, besonders wenn schlecht ausgebildete Landwirte oder Arbeiter unter Zeitdruck beteiligt seien.
Es ist zwar möglich, einige Aspekte der Dateneingabe durch den Einsatz von Sensoren oder RFID-Chips zu automatisieren. Aber jede Schnittstelle schafft weiterhin Möglichkeiten für Fehler oder sogar Manipulation.
Schmidt schätzt, dass das Risiko für solche Manipulationen in «Ländern, in denen die Menschen arm sind und verzweifelt versuchen, Geld zu verdienen» zunimmt.
Eine mögliche Lösung, sagt er, sei, dass man Drittzertifizierer wie Fair Trade oder Rainforest Alliance beauftrage, zu überprüfen, ob die in eine Blockchain eingegebenen Informationen vertrauenswürdig seien.
Ungleichgewicht der Kräfte
Die Verwendung eines Blockchain-Systems birgt auch das Risiko, das Lieferanten, die nicht auf den Zug aufspringen, ausgeschlossen werden. Und jene, die mitmachen, laufen Gefahr, von einem einzigen Unternehmen abhängig zu werden.
«Um die Kommunikation mit grossen Käufern zu erleichtern, werden kleinere Lieferanten oft unter Druck gesetzt, IT-Systeme einzuführen, die sie normalerweise nicht benutzen würden», sagt Schmidt. «Und Firmen, die für viele grosse Unternehmen arbeiten, werden sich an verschiedenen Blockchain-Systemen beteiligen müssen, was es für sie kompliziert machen kann.»
Auch wenn Lieferanten auf den Zug aufspringen, haben Unternehmen die Macht darüber, welche Daten in der Blockchain mit wem geteilt werden. Dies gilt vor allem für geschlossene Blockchain-Plattformen wie IBMs Food Trust, die Unternehmen mehr Kontrolle darüber gibt, wer was sehen darf.
«Benutzer können Berechtigungen festlegen, die regeln, welche Daten von wem eingesehen werden können – bestimmt allein durch den Eigentümer der Daten. Daten, die von Dritten hochgeladen werden, sind Eigentum des ursprünglichen Eigentümers», heisst es in den FAQ von IBM Food Trust zum Dateneigentum. In diesem Beispiel wäre der «ursprüngliche Eigentümer» das Unternehmen, wie Nestlé, das für die Dienstleistung bezahlt.
Schmidt ist der Ansicht, dies widerspreche der ursprünglichen Idee der Blockchain. Diese ziele darauf ab, für vollständige Transparenz und den Austausch von Daten und Informationen zwischen allen Beteiligten zu sorgen.
«Dann bewegt man sich auf andere Datenbank-Konfigurationen zu. Dann nutzt man die Blockchain auf eine Art und Weise, wie es nicht gedacht war», argumentiert der Forscher.
Ausgeglichenere Marktbedingungen?
Die Zürcher Digitalstrategin Kamales Lardi, deren Firma «BloomBloc» an Blockchain-basierten Lösungen zur Rückverfolgbarkeit für die malaysische Palmölindustrie arbeitete, hat eine andere Idee.
Sie findet, dass nicht Unternehmen, sondern Regulierungsbehörden die Aufgabe übernehmen sollten, Blockchain-Plattformen für bestimmte Sektoren zu entwickeln und zu implementieren. «Es muss eine demokratisierte Lösung geben und nicht eine, die in den Händen einiger weniger Unternehmen liegt», sagt sie.
Lardi hatte mit dem Malaysischen Palmölrat (MPOC) zusammengearbeitet, um ein Pilotprojekt zu entwickeln, das Palmölanbauern aller Grössenordnungen ermöglicht, die Blockchain-Lösung problemlos zu übernehmen.
Ihren Informationen zufolge sind zwischen 30 und 40% der Palmölerzeuger in Malaysia Kleinbauern, und die meisten haben nicht einmal ein Smartphone. Sie laufen Gefahr, von Blockchain-Lösungen, die von Unternehmen entwickelt werden, ausgeschlossen zu werden, während grosse Palmölproduzenten dank besserer Infrastruktur und Ressourcen von den Vorteilen profitieren.
«Einige Palmölplantagen haben Drohnen, um die Ernte zu überwachen, während andere nicht einmal eine 2G-Telefonverbindung haben. Deshalb haben wir uns auf die Zusammenarbeit mit den Regulierungsbehörden konzentriert», sagt Lardi.
Schmidt sieht Potenzial in Lardis Ansatz für eine umfassendere Umsetzung der Blockchain-Technologie: «Ich denke, es ist ein Schritt in die richtige Richtung für die Regulierungsbehörden der Industrie. Er dürfte auch das Problem lösen, mehr Unternehmen und Lieferanten ins Boot zu holen, wenn das System nicht von einem Konkurrenten betrieben wird», sagt er.
Alle, einschliesslich Nestlé, sind sich einig, dass die Blockchain-Technologie allein keine nachhaltigen Lieferketten garantieren kann. Es braucht eine Kombination von verschiedenen Technologien, Zertifizierungsagenturen und die Bereitschaft, bei der Beschaffung transparent zu sein.
Und wenn es darum geht, sicherzustellen, dass ein Produkt nicht zur Abholzung oder zu anderen illegalen Aktivitäten beiträgt, bleibt das Grundlegende von Bedeutung.
«Die Blockchain-Technologie hilft zwar, den von den Lieferanten übermittelten Daten zu trauen, aber sie hilft nicht beim Vertrauen in die Lieferanten», sagt Schmidt. «Für dieses muss man weiterhin erst gute Beziehungen zu ihnen aufbauen.»
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)
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