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Schweizer ICO-Markt ist nicht der Wilde Westen

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In der Pionierzeit des 19. Jahrhunderts herrschte im "Wilden Westen" der USA das Prinzip: "Anything goes" (alles ist möglich). Gilt das gleiche für die heutige Blockchain-Technologie? akg-images

Im vergangenen Jahr haben Firmen in der Schweiz schätzungsweise 850 Millionen Franken mit "Initial Coin Offerin" (ICO) beschafft. Das ist eine neuartige Form der Kapitalbeschaffung durch Nutzung von Blockchain. Ein hochrangiger Schweizer Beamter weist Befürchtungen zurück, wonach diese neue Finanzierungsmethode für Krypto-Start-ups ausser Kontrolle geraten sei.

Jörg GasserExterner Link, Staatssekretär für internationale Finanzfragen im Eidgenössischen Finanzdepartement (EFD)Externer Link, bestreitet, dass sich die ICO-Branche in ein «free for all» verwandelt hat. Er ist überzeugt, dass die geplanten Regulierungen den Ruf der Schweizer Finanzindustrie schützen können.

Gasser leitet die Arbeitsgruppe Blockchain/ICOExterner Link des Bundes, in der die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (FINMA) zusammen mit dem Bundesamt für Justiz und Vertretern der Privatwirtschaft die ICO-Landschaft unter die Lupe nimmt. Die Arbeitsgruppe wird der Regierung bis Ende des Jahres Bericht erstatten.

Jörg Gasser makes a point during a media conference
After stints at the International Committee of the Red Cross and roles in the Swiss Justice and Finance ministries and the Migration Office, Gasser took up his post as head of SIF in July 2016. Keystone

swissinfo.ch: Einige Beobachter bezeichnen den ICO-Markt in der Schweiz als «Wilden Westen».

Jörg Gasser: Ein ‹Wilder Westen›? Nicht wirklich. Erstens hat die FINMA Empfehlungen herausgegeben, wie die bestehenden Gesetze anzuwenden sind, insbesondere jene zur Prävention von Geldwäscherei oder Terrorismusfinanzierung. Die FINMA geht auch strikt gegen betrügerische ICO-Projekte vor, die gegen bestehende Gesetze und Vorschriften verstossen.

Zweitens prüft unsere Arbeitsgruppe Blockchain/ICO den rechtlichen Rahmen, um möglichen Handlungsbedarf zu identifizieren. Da unsere Regelung jedoch prinzipienbasiert ist, gelten bereits heute viele unserer Gesetze und Regeln auch für Kryptoanlagen und ICOs.

swissinfo.ch: Der Schweizer Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann rief kürzlich dazu auf, die Schweiz als ‹Krypto-Nation› bekannt zu machen. Ist das machbar, und wie würde das in zehn Jahren aussehen?

J.G.: Es ist ein schönes Schlagwort, aber der Begriff ‹Krypto› kann irreführend sein. Von einer ‹Blockchain-Nation› oder einer ‹Fintech-Nation› zu sprechen, wäre genauer.

Wie es in zehn Jahren in der Schweiz – oder weltweit – aussehen wird, ist ungewiss. Das hängt von der technologischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Entwicklung ab. Wenn wir jedoch die richtigen Rahmenbedingungen schaffen, können wir langfristig innovative Unternehmen gewinnen, die in der Schweiz Arbeitsplätze schaffen und Steuern zahlen.

Unser Ziel ist es, die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz im Bereich der Blockchain-Technologien im Allgemeinen zu sichern, ohne die Integrität des Schweizer Finanzsektors zu gefährden.

swissinfo.ch: Disruptoren-Start-ups versprechen einen kompletten Wandel in einigen Bereichen des Wirtschafts- und Finanzsystems. Wie viel Marktzerstörung bedeutet das für die Schweiz?

J.G: Neue Technologien werden immer ihren Weg in das Finanzsystem finden und bestehende Marktstrukturen zerstören. Dies war schon immer der Fall und kann weder durch die etablierten Betreiber noch durch Vorschriften verhindert werden.

Dennoch ist es eine Tatsache, dass diese neuen Technologien eine Herausforderung für die traditionellen Akteure darstellen. Es steht ausser Frage, dass sie diese neuen Technologien nutzen müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Aber ich bin überzeugt, dass es in absehbarer Zeit neben den traditionellen Finanzunternehmen auch Fintech-Unternehmen geben wird.

swissinfo.ch: Die Schweiz gilt als konservatives Land, in dem sich die Dinge langsam bewegen. Ist die Schweiz wirklich der richtige Ort, um an der Spitze der Blockketten-Revolution zu stehen?

J.G.: Unser Land war schon immer offen für unternehmerische Innovationen.  Die Schweiz bietet ein stabiles politisches System, ein liberales wirtschaftliches Umfeld, hochqualifizierte Arbeitskräfte und ein wettbewerbsfähiges Steuersystem.

Unsere Regelungen sind prinzipienbasiert und technologieneutral. All diese Faktoren erklären, warum die Schweiz das richtige und innovationsfreundliche Klima für Fintech-Unternehmen bietet.

swissinfo.ch: Man sagt, dass Kryptowährungen dem Schweizer Finanzsystem neue Wettbewerbskraft verleihen und den Vorteil des inzwischen abgeschafften Bankgeheimnisses ersetzen werden. Was ist Ihre Meinung dazu?

J.G: Erstens ist der Schweizer Finanzsektor noch immer sehr wettbewerbsfähig. In der grenzüberschreitenden privaten Vermögensverwaltung sind wir nach wie vor weltweit die Nummer eins. Allerdings ist es eine Tatsache, dass die Blockchain-Technologie, die den meisten Krypto-Währungen zugrunde liegt, zu strukturellen Veränderungen und Disruption führt.
Aber die digitale Innovation kann das Finanzsystem auch effizienter machen. Als kleine offene Volkswirtschaft kann die Schweiz nur erfolgreich sein, wenn sie ständig innovativ ist. Und hier können uns unsere Stärken wie politische Sicherheit, Rechtssicherheit und hochwertige Dienstleistungen helfen, diese Herausforderungen erfolgreich zu meistern.

Was sind ICOs?

Initial Coin Offerings (ICOs) – auch bekannt als Token Gathering Events (TGEs) – sind eine relativ neue Form der Kapitalbeschaffung für Unternehmen. Start-ups geben digitale Token gegen ‹Beiträge› (meist in Form von Krypto-Währungen wie Bitcoin) aus, um ihre Projekte zu finanzieren. Anstatt Firmenanteile oder Dividenden zu vergeben, ermöglichen diese Token in vielen Fällen einfach die Nutzung der neuen Technologie – die oft noch nicht gebaut ist.

Die ICOs starteten 2017 und sammelten weltweit schätzungsweise 4 Milliarden Dollar für Blockchain-Start-ups. Dieses rasante Wachstum hat die Marktaufsichtsbehörden in vielen Ländern aufgeschreckt. Es gibt drei Bedenken gegen ICOs: Dass das Crowdfunding-System in einigen Fällen dazu genutzt werden kann, um erstens illegale Vermögenswerte zu waschen, zweitens Finanzbestimmungen wie Wertpapierhandelsvorschriften zu umgehen oder drittens unvorsichtige Konsumenten mit Betrügereien abzuzocken.

Übertragung aus dem Englischen: Sibilla Bondolfi

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