Blut von Homosexuellen noch immer tabu
Schummeln, um helfen zu können. In dieser Lage befinden sich homosexuelle Männer in der Schweiz, die – im Namen des Prinzips der Vorsicht – seit Ausbruch der Aids-Epidemie kein Blut spenden dürfen. Heute mehren sich die Stimmen, die eine Aufhebung dieses als diskriminierend betrachteten Verbots fordern.
Das Verbot ist eine gute Sache für Leute, die wechselnde Sexualpartner haben, aber ein solches Verhalten hat nichts zu tun mit Homosexualität.»
Stoyan
«Trifft die folgende Risikosituation auf Sie zu? Sexuelle Kontakte unter Männern seit 1977.» Wer in der Schweiz Blut Spenden will, muss zuvor schriftlich auf diese Frage – eine von rund zwanzig – Antwort geben. Wer bei dieser Frage «Ja» ankreuzt, wird kein Blut spenden dürfen.
«Meine Freunde und ich haben mehrmals gelogen, um unser Blut spenden zu können», gibt Stoyan* zu. Der 29 Jahre alte Berner versteht nicht, dass er aufgrund dieser Regel vom Blut spenden ausgeschlossen wird. «Das Verbot ist eine gute Sache für Leute, die wechselnde Sexualpartner haben, aber ein solches Verhalten hat nichts zu tun mit Homosexualität.»
Stoyan weiss, dass sein Blut gesund ist, und er möchte es auch gerne spenden können, um anderen zu helfen. Da er nicht mehr länger lügen will, beschloss er jedoch schlicht, darauf zu verzichten. «Im Alter von 20 Jahren hatte ich den Verstoss noch als einen militanten Akt verstanden. Mit der Zeit änderte ich aber meine Meinung. Wenn man mein Blut nicht will, lasse ich es halt bleiben, auch wenn ich es immer noch tun möchte», sagt er.
12 Monate Abstinenz für eine Spende
In der Schweiz war der Ausschluss von «Männern, die Sex mit Männern haben» (MSM) von der Blutspende wegen des Risikos einer Aids-Übertragung 1988 beschlossen worden. Verschiedene Nachbarländer der Schweiz sind aber heute wieder von dieser Regel abgewichen und haben beschlossen, dass Homosexuelle ihr Blut ohne Einschränkungen spenden dürfen, darunter vor allem Italien, Spanien, Portugal und Polen. Andere Länder hoben das Verbot auf, erliessen aber strikte Bedingungen.
Das jüngste Beispiel ist Frankreich, wo im November 2015 beschlossen wurde, ab Frühjahr 2016 unter bestimmten Bedingungen Blutspenden von Homosexuellen wieder zuzulassen. Homosexuelle, die seit 12 Monaten keinen sexuellen Kontakt mit einem Mann hatten, werden Blut spenden können (Zellen und Plasma). Nur Plasma (die Flüssigkeit des Blutes) wird spenden können, wer in einer stabilen Beziehung lebt oder seit vier Monaten abstinent war.
Die französischen Behörden wollen damit etappenweise vorgehen. Die französische Gesundheitsministerin Marisol Touraine will eine Studie über die neuen Spender durchführen lassen. «Wenn sich keine Risiken zeigen, werden die Regeln, die für Homosexuelle gelten, im Jahr darauf den allgemeinen Regeln näher gebracht.» Über ihr Twitter-Konto zeigte sie sich zudem erfreut über das Ende «einer Diskriminierung und eines Tabus».
Stigmatisierung am Pranger
Französische Schwulen-Aktivisten machten dennoch keine Freudensprünge. Viele beklagen, dass die Bedingungen zum Spenden weiterhin nicht für alle die gleichen sind. So erklärte etwa der Verein SOS homophobie, dass «diese Entwicklung der Stigmatisierung schwuler Männer kein Ende setzt und damit die Homophobie aufrecht erhält».
Und die französische Vereinigung für die Rechte der Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transsexuellen (LGBT) plädiert für «Ausschlusskriterien, die nicht auf dem Konzept einer ‹Risikobevölkerung›, sondern auf einem Konzept des ‹Risikoverhaltens› fussen».
Pink Cross, die Schweizer Dachorganisation der Schwulen, teilt diese Ansicht, und qualifiziert den Ausschluss Schwuler von der Blutspende ebenfalls als diskriminierend. «Diese Regelung ist heuchlerisch. Unter dem Vorwand der Sicherheit wird ein ganzer Teil der Gesellschaft ausgeschlossen», klagt Pink-Cross-Vizepräsident Mehdi Künzle.
Seiner Meinung nach sollte Swissmedic, die für die Überwachung der Bluttransfusionsdienste und die Genehmigung der Regeln in dem Bereich zuständige Stelle, «aufhören, jedes Mal ihr Veto einzulegen, wenn das Thema zur Sprache kommt, damit es zu einer sachlichen und ruhigen Debatte kommen kann».
Nach Ansicht des Pink-Cross-Copräsidenten liegt der Schlüssel für den anhaltenden Ausschluss Schwuler von der Blutspende in der Schweiz darin, dass «man versucht, der Bevölkerung, die immer noch geprägt ist vom Schock der HIV-Epidemie der 1980er-Jahre, Sicherheit zu bieten. Damals hatte sich diese Idee festgesetzt, dass alle Schwulen ein Risikoverhalten an den Tag legen, was offensichtlich falsch ist.»
Bedingung oder verstecktes Verbot?
In der Schweiz werden auch viele andere Stimmen laut und fordern, dass die Blutspende für MSM erlaubt wird. So wurden in dem Zusammenhang bereits mehrere parlamentarische Vorstösse eingereicht.
Letzten Herbst beantwortete die Regierung eine Interpellation eines Abgeordneten der FDP (Mitte-Rechts) und zeigte sich für einen Wandel offen: «Der Bundesrat hat Verständnis für das Anliegen der Interpellation und ist ebenfalls der Meinung, dass alles unternommen werden sollte, damit noch klarer wird, dass das Risikoverhalten und nicht die sexuelle Orientierung das Ausschlusskriterium ist.»
Der Blutspendedienst des Schweizerischen Roten Kreuzes (Blutspende SRK) untersucht selber die Möglichkeit, den Ausschluss zu lockern. Ein möglicher Weg ist, sich vom französischen Modell inspirieren zu lassen, auch wenn der Direktor der Organisation, Rudolf Schwabe, von diesem nicht wirklich begeistert ist. Er qualifiziert die Abstinenzperiode von 12 Monaten, die Frankreich von Homosexuellen verlangt, die Blut spenden wollen, als «absurd». «Diese Bedingung kommt praktisch einem Verbot gleich, auch wenn sie weniger diskriminierend ist. Niemand wird ein Jahr lang abstinent leben, nur mit dem Ziel, danach Blut spenden zu können.»
Blutspende SRK unterstützt die Schaffung von Kriterien, die auf dem Verhalten und nicht auf der sexuellen Orientierung von Spendern fussen. Die Organisation reichte bei Swissmedic einen Antrag für eine Änderung der Regeln ein, die nun eine Entscheidung fällen muss. Rudolf Schwabe zeigt sich optimistisch: «Ich bin überzeugt, dass es uns gelingen wird, die geltenden Regeln bis Anfang 2017 zu ändern.»
HIV im Jahr 2015
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) schätzt, dass die Zahl der neu diagnostizierten HIV-Ansteckungen in der Schweiz im Jahr 2015 bei etwa 500 liegen wird (Hochrechnung aufgrund der bis Ende September bestätigten Neuansteckungen). Diese Zahl ist etwa gleich hoch wie 2014.
Bei der Gruppe der Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), wird die Zahl der Neuansteckungen gemäss Hochrechnungen 2015 bei 240 liegen. Es werde «zumindest klar, dass das relative Risiko einer HIV-Infektion für MSM unverändert viel grösser ist: Fast 60% der neuen Diagnosen bei Männern betreffen MSM, während deren Anteil an der männlichen, sexuell aktiven Bevölkerung bei rund 3% liegt», hält das BAG fest.
Swissmedic wehrt sich gegen Diskriminierungsvorwurf
Bisher zeigte sich Swissmedic unnachgiebig. Zwei Vorschläge von «Blutspende SRK» wurden schon abgelehnt, und das Heilmittelinstitut beabsichtigt nicht, sich von den Lockerungen in anderen Ländern beeinflussen zu lassen.
«Die Regeln in der Schweiz fussen auf der Situation und auf den wissenschaftlichen Daten in der Schweiz», erklärt Peter Balzli, der Sprecher von Swissmedic, in einer schriftlichen Stellungnahme. Zudem wehrt sich das Institut gegen den Vorwurf der Diskriminierung. Unter Hinweis auf die Zahlen des Bundesamts für Gesundheit ruft Balzli in Erinnerung, dass «MSM fast 30 Mal häufiger mit HIV angesteckt werden, als die allgemeine Bevölkerung des Landes».
Swissmedic «weigert sich nicht, auf das Thema einzugehen», fügt Balzli hinzu und präzisiert, dass das Institut die Ausschlusskriterien überprüfen müsse, wenn ein Antrag gestellt werde. So könnte es zum Beispiel zu einer Änderung der geltenden Praxis kommen, wenn in der Schweiz ein Impfstoff gegen den HI-Virus auf den Markt komme, oder wenn die HIV-Ansteckungsrate unter MSM deutlich sinken würde.
Zurzeit jedoch, führt Balzli aus, sei ein gegenläufiger Trend zu beobachten: Bei der letzten Evaluierung seien von 1000 Personen mit Wohnsitz in der Schweiz drei mit HIV infiziert gewesen. Bei den MSM seien es hingegen 100 von 1000 gewesen. «Daher müssen sexuelle Beziehungen zwischen Männern weiter als Risikoverhalten betrachtet werden.»
Frankreich als nachahmenswertes Beispiel
Auch bei AIDS-Fachleuten ist der Ausschluss Schwuler von der Blutspende umstritten. Die Professorin Alexandra Calmy, am Genfer Universitätsspital zuständig für die Abteilung HIV-AIDS, betrachtet die Regel als diskriminierend. «Es gibt zwar effektiv eine Zunahme bei den neuen Diagnosen von HIV-Infektionen bei homosexuellen Männern, dies rechtfertigt jedoch das Blutspendeverbot nicht», sagt sie und plädiert stattdessen für eine Beurteilung aufgrund von Risikoverhalten.
Calmy begrüsst jedoch den etappenweisen Wandel, der in Frankreich in Gang gesetzt wurde. «Die Frist von 12 Monaten schockiert mich nicht. Sie könnte in Zukunft verkürzt werden. Der Ansatz scheint mir vernünftig, und ich wäre zufrieden, wenn die Schweiz diesem Beispiel folgen würde», erklärt sie.
«Die sexuelle Orientierung ist kein guter Risikomarker.»
Samia Hurst, Bioethikerin
«Zum Teil auch die Ablehnung von Homosexualität»
Der Ausschluss von MSM vom Blutspenden ist auch aus ethischer Sicht fraglich. Dieser Meinung ist zumindest Samia Hurst, Bioethikerin, Ärztin und Mitglied der Zentralen Ethikkomission der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW). «Die sexuelle Orientierung ist kein guter Risikomarker. Wenn es ein zuverlässiges Kriterium wäre, wäre es ethisch vertretbar, dazu zu greifen, aber das ist nicht der Fall.»
Sie schlägt daher vor, potentiellen Spendern mehr Detailfragen zu ihrem Sexualverhalten zu stellen. «Ein treues, stabiles, homosexuelles Paar hat nicht mehr Gründe, krank zu sein, als ein heterosexuelles, verheiratetes und treues Paar.»
Samia Hurst erklärt die Hartnäckigkeit dieses Verbots mit dem Wunsch, bei Blutspenden nach einem Null-Risiko zu streben. Eine Tendenz, die «aufgrund eines ungeeigneten Kriteriums zum Ausschluss einer ganzen Bevölkerungsgruppe führt». Die Spezialistin für Fragen der medizinischen Ethik schätzt zudem, dass «sicherlich zu einem Teil auch die Ablehnung von Homosexualität zu dieser Angst» beitrage.
(*Richtiger Name der Redaktion bekannt)
Blutspende in der Schweiz
Nicht nur Homosexuelle werden von der Blutspende ausgeschlossen. Das Verbot gilt auch für Personen, die Drogen spritzen oder Personen, die wechselnde sexuelle Partner, Partnerinnen haben, die einen sexuellen Partner, eine Partnerin erst seit weniger als vier Monaten kennen, die einen Partner, eine Partnerin haben, deren Test HIV-positiv ausgefallen ist, oder die an Syphilis, Hepatitis B oder C erkrankt sind.
Wer Blut spenden will, muss gewisse Kriterien erfüllen, die aufgrund eines Fragebogens ermittelt werden. Zudem müssen potentielle Spender und Spenderinnen ein persönliches Gespräch mit einer medizinischen Fachperson führen.
Jede Blutspende wird im Labor auf mögliche Krankheitserreger untersucht. Dennoch, eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht. Der Grund dafür ist das so genannte «diagnostische Fenster», der Zeitraum zwischen einer Ansteckung und dem Zeitpunkt, ab dem die Krankheitserreger oder Antikörper im Blut durch einen Test im Labor überhaupt erst nachgewiesen werden können.
Für das HI-Virus hat dieses Fenster eine Dauer von 12 Tagen. Das bedeutet, wer in den 12 Tagen nach einer Ansteckung mit HIV Blut spendet, gefährdet das Leben anderer, denn die Labortests sind in diesem Zeitraum nicht aussagekräftig.
Der bisher letzte Fall einer HIV-Ansteckung durch eine Bluttransfusion geht auf Januar 2001 zurück. Der Spender war heterosexuell.
(Quelle: Blutspende SRK)
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
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