«Bosnier möchten nichts lieber, als ein ganz normales Leben führen»
Der Krieg in Bosnien ist seit über 20 Jahren vorbei, im Land ist es weitgehend ruhig, auch wenn die Aufarbeitung der Kriegsgräuel nicht abgeschlossen ist. Die Wirtschaft wächst jedoch kaum, die Arbeitslosenquote ist hoch und es fehlt an politischen Reformen. Trotz all dieser Probleme sieht Andrea Rauber Saxer, Schweizer Botschafterin in Sarajevo, auch Lichtblicke im zerrissenen Vielvölkerstaat.
swissinfo.ch: Trotz internationaler Hilfe, auch aus der Schweiz, fehlt es an politischen und wirtschaftlichen Reformen. Ist das Abkommen von Dayton mit der Dreiteilung der Machtbefugnisse mit ein Grund, dass das Land nicht vom Fleck kommt?
Andrea Rauber Saxer: Die Verfassung von Bosnien und Herzegowina wurde mit dem Friedensvertrag von Dayton (1995) geschaffen. Es ging darum, die Kriegführenden zu trennen. Es wurden zwei Entitäten geschaffen: die Republika Srpska, mehrheitlich von Serben bewohnt, und die Föderation von Bosnien und Herzegowina, mehrheitlich von Bosniaken (bosnische Muslime) und Kroaten bewohnt. Darauf basiert der Staat noch immer. Eine Verfassungsreform ist 2006 knapp gescheitert.
Aus meiner Sicht ist das Staatssystem aber nicht unbedingt das Problem, denn mit gutem politischen Willen würde es funktionieren. In der Schweiz haben wir ja auch 26 Kantone, die sich nicht immer einig sind. Wenn es Probleme gibt, dann diskutiert man und sucht nach Kompromissen. Wir versuchen daher, das Beispiel der Schweiz in die Diskussionen einzubringen. Dies soll zur Inspiration dienen, auf deren Basis eigene Lösungen entwickelt werden können.
swissinfo.ch: Kann ein Land, in dem die Kriegsgräuel noch nicht überwunden sind, wo noch immer tausende Menschen vermisst und nicht alle Kriegsverbrecher verurteilt sind, überhaupt vorwärtskommen?
Der Bosnienkrieg beginnt Anfang April 1992 und endet mit der Unterzeichnung des Friedensabkommens von Dayton am 14. Dezember 1995. Die Hauptstadt Sarajevo wird 1425 Tage lang belagert, über 10’000 Menschen sterben. Der Krieg in Bosnien und Herzegowina fordert rund 100’000 Tote. In der UNO-Schutzzone Srebrenica werden 8000 muslimische Knaben und Männer von der Armee der Republika Srpska unter Führung von Ratko Mladić, der Polizei und serbischen Paramilitärs trotz Anwesenheit von Blauhelmsoldaten massakriert.
Das Dayton-Abkommen hat dazu geführt, dass jede Seite auf ihre Interessen pocht und versucht, daraus politisches Kapital zu schlagen. «Dayton» hat zwar Frieden gebracht, aber dadurch hat sich in Bosnien ein stark parteiorientiertes Wirtschafts- und Staatssystem entwickelt, das die politischen Strukturen eher zementiert. War es zu jugoslawischen Zeiten eine Partei, sind es nun einfach mindestens drei Parteien, welche den Staat kontrollieren.
A.R.S.: Ich spüre bei der Bevölkerung einen grossen Willen, an morgen zu denken. Die Leute haben es satt, immer wieder an die Vergangenheit erinnert zu werden und möchten nichts lieber, als ein ganz normales Leben führen – wie alle anderen Europäer auch. Deshalb liegt es in der Verantwortung der Politik, die aktuellen Probleme anzupacken. Dies hebe ich im politischen Dialog immer wieder hervor und versuche es zu fördern.
Das Land hat vor einem Jahr ein Beitrittsgesuch zur Europäischen Union gestellt und damit den Weg in die Zukunft vorgegeben. Das wird nicht morgen sein, aber es ist ein erster Schritt. Die Schweiz unterstützt dieses Ziel. Es liegt in unserem Interesse, dass das Land stabil ist, denn es liegt vor unserer Haustür.
swissinfo.ch: Sie sind seit gut einem Jahr Botschafterin in Bosnien. Sehen Sie Fortschritte?
A.R.S.: Es gibt immer wieder Erfolge, zum Beispiel im Gesundheitssystem, das die Schweiz stark unterstützt. So hat man sich etwa im Bereich Ausbildung für das Pflegepersonal auf gemeinsame Standards geeinigt. Eben wurde ein Handbuch verabschiedet, das die Spitäler ermutigt, den Pflegefachfrauen mehr Kompetenzen einzuräumen. Das ist zwar ein technischer und unpolitischer Schritt, aber für den Bürger von grosser Bedeutung.
Zudem wurde das Arbeitsgesetz reformiert und vor zwei Jahren die so genannte Reformagenda verabschiedet. Dabei handelt es sich um ein Wirtschaftsprogramm mit verschiedenen Massnahmen, um das Land vorwärtszubringen. Auf diese Ziele können wir die Regierung jetzt behaften und sie dabei unterstützen.
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Leben in Bosnien
swissinfo.ch: Die Jugendarbeitslosigkeit liegt laut offiziellen Zahlen bei rund 50%, Gutausgebildete suchen ihre Zukunft im Ausland. Wie und wo hilft die Schweiz, um dem Land wirtschaftlich auf die Beine zu helfen?
A.R.S.: Die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ist eines der grossen Ziele der schweizerischen Entwicklungspolitik. Wegen des erwähnten Brain-Drains hat das Land nicht unendlich viel Zeit, es steht unter massivem Druck, sonst laufen ihm die Leute davon. Wir unterstützen das Land bei der Schaffung von Start-ups und der Förderung des Unternehmertums.
Das andere ist die Förderung des dualen Bildungssystems, mit dem wir in der Schweiz gute Erfahrungen machen. Ein Problem ist, dass der hiesige Privatsektor relativ klein ist und es somit wenige Lehrstellen gibt. Auf der anderen Seite höre ich von Unternehmern, dass sie keine geeigneten Leute finden. Die Arbeitssuchenden verfügen also nicht über die erforderlichen Kompetenzen. Es geht also darum, dass die Unternehmer den Schulen für Berufsbildung sagen, was sie brauchen. Positiv ist, dass es immer mehr Unternehmer gibt, die bereit sind, jungen Leuten Praktikumsstellen anzubieten oder sie für einen Tag pro Woche aufzunehmen, damit sie praktische Erfahrungen sammeln können. Man lernt nicht kochen, wenn man nur ein Kochbuch liest.
Andrea Rauber Saxer ist seit September 2016 Schweizer Botschafterin in Bosnien und Herzegowina. Zuvor arbeitete sie als stellvertretende Leiterin der Ständigen Schweizer Mission bei der OSZE in Wien und anderen internationalen Organisationen sowie als aussenpolitische Beraterin zweier Schweizer Bundesräte.
Für kurze Zeit war die Juristin auch beim Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag (ICTY) tätig.
swissinfo.ch: Wie steht es mit Investitionen aus dem Ausland?
A.R.S.: Besonders wichtig ist die Diaspora. Wir sind überzeugt, dass Leute, welche die Sprache und die lokalen Gegebenheiten kennen und noch ein gewisses Netzwerk haben, zu den ersten gehören, die investieren. Das sehen wir bei den Schweizer Investitionen. Meistens sind es mittlere bis kleinere Unternehmen, die irgendeinen Bezug zu Bosnien haben und begriffen haben, dass man hier billig produzieren kann. Die Schweiz fördert dies mit günstigen Darlehen und Informationsaustausch.
swissinfo.ch: Noch immer sind zur Sicherung des Friedens ausländische Soldaten im Land, auch Schweizer. Braucht es die noch – 22 Jahre nach Kriegsende?
A.R.S.: Ich glaube, ja, zur Beruhigung der lokalen Bevölkerung. Nicht etwa, weil unmittelbar ein Risiko für einen Wiederausbruch des Konflikts besteht, sondern weil viele Menschen noch immer ziemlich traumatisiert sind.
Im letzten Herbst zum Beispiel wurde in der Republika Srpska ein Referendum durchgeführt, ob der 9. Januar der Nationalfeiertag der Republika Srpska (also eines Teils von Bosniens) sein soll. Das mag für uns eine banale Frage sein, hier ist es ein politisch heisses Eisen. Am 9. Januar 1992 wurde die Republika Srpska als unabhängiger Staat ausgerufen, das war ein Auslöser für den Krieg. Diesen Tag zu feiern, ist somit eine grosse Provokation. Die bosniakische Seite reichte Klage ein, die vom Verfassungsgericht gutgeheissen wurde. Das Referendum war eine Antwort darauf.
Ich als Neuankömmling in diesem Land war sehr erstaunt, wie schockiert die Leute, auch gut Ausgebildete, reagierten. Sie hatten Angst, der Konflikt könnte wieder ausbrechen, mit der Argumentation, so habe es 1992 auch angefangen, mit dieser nationalistischen Rhetorik von allen Seiten. Gerade um diesen Leuten Sicherheit zu bieten, ist diese minimale internationale Präsenz von 600 Soldaten nötig. Und auch, um nationalistisch orientierte Politiker in die Schranken zu weisen. Diese Truppen jetzt abzuziehen, wäre der falsche Moment.
swissinfo.ch: Man liest über den wachsenden Einfluss islamistischer Gruppen in Bosnien. Ein Pulverfass angesichts der Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher?
A.R.S.: Während und auch nach dem Krieg haben arabische Länder ihre Glaubensbrüder massiv unterstützt, mit humanitärer Hilfe und der Finanzierung neuer Moscheen. Es gab auch so genannte NGO, bei denen es sich um staatlich unterstützte Organisationen handelte, die vor allem ihre Religion fördern wollten.
Diese Aktionen wurden selbst von den bosnischen Muslimen eher mit Skepsis betrachtet, denn grossmehrheitlich wird in Bosnien ein gemässigter Islam praktiziert. Das ist übrigens auch die offizielle Linie der bosnischen muslimischen Gemeinschaft.
Klar gibt es auch extreme Gruppen, ja sogar Dörfer, die einen extrem ausgelegten Islam leben. Und natürlich haben auch Bosnier für den Islamischen Staat IS gekämpft. Aber die Zahlen sind überschaubar, laut Statistiken einige Hundert. Von den Medien wurde das übertrieben dargestellt. Auch in Bosnien werden Rückkehrer verhaftet und verurteilt. Zwar gab es in den letzten Jahren zwei Anschläge von Einzeltätern – wie in anderen europäischen Ländern auch. Aber eine wachsende Radikalisierung kann ich nicht bestätigen.
swissinfo.ch: Eine Aufarbeitung des Krieges ist noch nicht bewältigt. Wie sieht es aus mit der Versöhnung im Land?
A.R.S.: Viele leiden noch immer unter diesem posttraumatischen Kriegssyndrom. Vor kurzem hat mir ein Fachmann erklärt, dass es nicht nur jene betrifft, die das eins zu eins miterlebt haben, sondern es wird an die nächste Generation weitergegeben. Hier hilft die Schweiz beim Aufbau so genannter Gesundheitszentren. Das sind Orte in vielen Gemeinden, wo die Leute ambulant behandelt werden, die psychische Probleme haben. Jeder, der im Krieg hiergeblieben ist, hat seine eigene Geschichte, und auch alle, die weggingen, haben den Krieg auf ihre Art und Weise miterlebt. Das überwindet man nicht schnell. Ich habe auch schon gehört, dass die Versöhnung für jene, die weggingen, schwieriger ist, als für jene, die hiergeblieben sind. Denn wer hiergeblieben ist, hat auch Gutes erlebt – von der so genannt anderen Seite. Immer wieder hört man Geschichten von Serben, von Kroaten, die Muslime unterstützt haben – und umgekehrt.
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