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Braucht die Schweiz die Bilateralen mit der EU?

Die Schweiz ist für viele Europäer Wahlheimat geworden. Aber einer von zwei Stimmenden in der Schweiz will die Zuwanderung drosseln. Keystone

Wie soll die Schweiz die Zuwanderung drosseln, ohne der Wirtschaft zu schaden? 10 Monate nach der Annahme der Initiative gegen "Masseneinwanderung" ist nicht erkennbar, wie sich die Regierung aus dem Dilemma befreien kann. Die Ratschläge des Weltwoche-Chefredaktors und die Anliegen des Wirtschaftsdachverbands erleichtern ihr die Aufgabe auch nicht.  

Die Schweiz soll die Zuwanderung wieder selber kontrollieren. Zu dieser Forderung der Schweizerischen Volkspartei (SVP) hatte das Stimmvolk am 9. Februar dieses Jahres mit knapper Mehrheit Ja gesagt. Die Schweizer Regierung hat bisher stets versichert, dass sie diesen Volkswillen umzusetzen gedenke.

Strategie des Bundesrats

Die Frist zur Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative läuft am 9. Februar 2017 aus. Bis dahin soll die Schweiz die Zuwanderung wieder selber steuern, und zwar mit jährlichen Höchstzahlen und Kontingenten für alle ausländerrechtlichen Kategorien (ausser Kurzzeitaufenthaltern).

Das Konzept des Bundesrats zur Umsetzung der Initiative orientiert sich stark an der Verfassungsbestimmung.

Das Recht auf Familienleben soll laut Bundesrat gewahrt bleiben. Künftig soll ein Inländervorrang gelten. Die Regierung hat – wie die Initiative auch – bisher keine Obergrenze oder Zielwerte festgelegt.

Für den Bundesrat ist klar, dass ein Kontingentsystem nicht mit der Personenfreizügigkeit vereinbar ist. Im Januar will die Regierung ein konkretes Mandat für Verhandlungen mit der EU vorlegen.

Der EU-Ministerrat hat einen Bericht gutgeheissen, in dem die harte Linie gegenüber der Schweiz bekräftigt und die Personenfreizügigkeit mit anderen Dossiers verknüpft wird – etwa mit dem Schengen- und dem Dublin-Abkommen.

Aber damit verletzt die Schweiz das Personenfreizügigkeits-Abkommen, das sie mit ihrem wichtigsten Handelspartner – den EU-Staaten –  abgeschlossen hat. Die EU lässt bisher keine Zweifel offen, dass sie über eine Änderung des Abkommens nicht verhandeln will. Weil auch die übrigen bilateralen Abkommen infolge der Guillotine-KlauselExterner Link hinfällig würden, könnte sich die Schweiz den erleichterten Zugang zum EU-Binnenmarkt vereiteln.

«EU will nicht über Kontingente verhandeln»

Jan Atteslander vom Wirtschaftsdachverband Economiesuisse stützt sich auf den Passus im Initiativtext, dass die Wirtschaftsinteressen zu berücksichtigen seien. Der Zugang zum europäischen Binnenmarkt sei für die Schweizer Wirtschaft entscheidend. «Die Schweiz ist eine innovationsbasierte Exportnation. Sie ist angewiesen auf den Zugang zum europäischen Binnenmarkt, der mit 56% des Exportvolumens unser wichtigster Abnehmer ist.»

Aber die Initiative verlangt zugleich, dass die Zuwanderung anhand von Ausländer-Kontingenten gedrosselt werde, was die EU strikte ablehnt. «Sie hat bereits vor einem Jahr und auch vergangenen Juli klar kommuniziert, dass sie  über Kontingente nicht verhandeln wird», erinnert Atteslander. Aber auch die Initianten machen keine Anzeichen, auf ein Kontingentssystem zu verzichten. Ist die «Masseneinwanderungs-Initiative» also ein Widerspruch in sich, oder lässt sich die Zuwanderung drosseln, ohne der Wirtschaft zu schaden?

Die Aufgabe des Bundesrats ist und bleibt «äusserst schwierig», sagt der Wirtschaftsvertreter.

Halb so schlimm, meint Roger Köppel, Chefredaktor des Politmagazins «Die Weltwoche», dem manche Medienbeobachter eine gewisse Nähe zur SVP nachsagen. «Die EU hat selber ein grosses Interesse daran, dass die zwischenstaatlichen Verträge nicht aufgegeben werden.» Das Landverkehrs- und das Strommarkt-Abkommen zum Beispiel seien für Deutschland und Italien von enormer Bedeutung.

«Unbegrenzter Nachschub billiger Arbeitskräfte»

Aber selbst eine Kündigung der Bilateralen wäre laut Köppel auch keine Katastrophe: «95% unseres Wirtschaftsverkehrs mit der EU sind WTO-konsolidiert.» Dieses Regelwerk schütze die Schweiz vor Sanktionen der EU. «Es soll mir jemand sagen, worin denn dieser unheimliche Nutzen der Bilateralen für die Schweiz besteht?», fragt Köppel rhetorisch.

«Langfristig hängen mehrere hunderttausend Jobs vom Zugang zum europäischen Binnenmarkt ab, unabhängige Schätzungen sprechen gar von 20 bis 30% unseres Bruttoinlandprodukts», lautet die Antwort von Jan Atteslander auf diese Frage. «Wir haben auch mit Russland oder Indien WTO-Standards, aber dort ist der Marktzugang bei weitem nicht so gut wie in der EU. Das Abkommen über Zollerleichterung und Zollsicherheit zum Beispiel ist für den Export enorm wichtig», sagt der Wirtschaftsvertreter. «Ohne Personenfreizügigkeit hätte die Schweiz auch ein Problem mit dem Schengen/Dublin-Abkommen, das uns  – unter anderem – das visumsfreie Reisen im EU-Raum ermöglicht.»

Externer Inhalt

Dass die Wirtschaft die Personenfreizügigkeit nicht opfern wolle, kann Roger Köppel nachvollziehen. «Sie stellt den Unternehmern unbegrenzten Nachschub an billigen Arbeitskräften sicher. Aber was geschieht mit diesen Arbeitskräften, wenn es der Wirtschaft schlechter geht und sie entlassen werden?», fragt der Weltwoche-Chefredaktor und antwortet gleich selbst: «Dann überlasten sie das Sozialsystem.»

Die Nettozuwanderung lag in den letzten Jahren bei rund 80’000 Personen. Muss das immer so weiter gehen, damit die Wirtschaft nicht Schaden nimmt?

«Bei dieser Zahl handelt es sich nicht nur um Arbeitskräfte aus der Wirtschaft», sagt Jan Atteslander. «Denn auch der Staat und staatsnahe Betriebe haben in den letzten Jahren sehr viele Stellen aufgebaut. 2009 bis 2013 sind in der öffentlichen Verwaltung, im Gesundheits-, Bildungswesen usw. rund 120’000 Stellen geschaffen worden.»

In diesen Bereichen seien Effizienzsteigerungen notwendig, sagt der Wirtschaftsvertreter, aber auch schwierig: «Gleichzeitig muss natürlich auch die Wirtschaft Massnahmen ergreifen, um das Inländerpotenzial noch besser zu nutzen, z.B. die Frauen.» Ohne ausländische Arbeitskräfte sei die Wirtschaftsleistung nicht zu halten. Die Anzahl Beschäftigter lasse sich aber mit gezielten Massnahmen drosseln.

Standort Schweiz: «Interesse schwindet»

Hat der Standort Schweiz für ausländische Firmen seit dem 9. Februar an Attraktivität eingebüsst? Laut Aussagen von regionalen Wirtschaftsförderern hat der Erklärungsbedarf der Firmen stark zugenommen. Die Firmen wollten wissen, ob sie auch in Zukunft genügend qualifizierte Arbeitskräfte fänden. Als Kernproblem betrachten die Wirtschaftsförderer die künftige Ausgestaltung der Beziehung zur EU. Ein Zutritt zum privilegierten Markt der EU gilt ihrer Ansicht nach als Schlüsselfaktor für die künftige Standortattraktivität. Für viele internationale Firmen sei die Schweiz deshalb interessant, weil sie von hier aus den EU-Markt entwickeln könnten.

(Quelle: NZZ)

Was sind qualifizierte Arbeitskräfte?

Für den Wirtschaftsstandort, vor allem in Bereichen mit hoher Wertschöpfung und hochqualifizierten Arbeitsplätzen, seien ausländische Fachkräfte unerlässlich. «Wenn wir von diesem Erfolgsmodell abweichen, ist die Schweiz als Innovationsstandort nicht mehr attraktiv.» (Vgl. rechte Spalte)

Seit 2009 seien aus der EU aber auch massenhaft schlechter qualifizierte Arbeitskräfte eingewandert – vor allem aus Portugal, hält Roger Köppel dagegen. «Das ist für die Schweiz besonders gefährlich. Diese Leute sind in einer Rezession stärker gefährdet, arbeitslos zu werden, und sie haben keinen Anreiz heimzugehen, weil die Sozialwerke in ihren Herkunftsländern weniger gut sind.»

Arbeitskräfte aus Portugal sind in der Landwirtschaft und vor allem im Baugewerbe besonders gefragt. «In der Schweiz  wird nach wie vor viel gebaut. Auch grosse Infrastrukturprojekte wurden umgesetzt. Portugiesen leisten hier seit jeher einen wichtigen Beitrag», bestätigt Atteslander. Im Inland fehle es häufig an geeigneten Arbeitskräften. ‹Qualifiziert für eine bestimmte Stelle‘ bedeute nicht nur ‹mit Hochschul-Diplom›. Gerade im Baugewerbe gehörten auch bestimmte Kompetenzen und Erfahrungen, sowie physische Voraussetzungen dazu, so der Wirtschaftsvertreter.

Weder das Gewerbe noch der Tourismus, niemand wird freiwillig auf Arbeitskräfte aus dem Ausland verzichten, solange diese benötigt werden. Der Kampf um genügend grosse Kontingente hat bereits begonnen, noch bevor festgelegt ist, wie viele Ausländer künftig in die Schweiz kommen dürfen.

Die Initianten haben sich bisher geweigert, die zu tolerierende Zuwanderung auch nur annähernd zu quantifizieren. Und Weltwoche-Chefredaktor Roger Köppel «weiss es auch nicht.» Er stelle in seinem Umfeld einfach fest, «dass es den Leuten mit immer neuen Zuwanderern unheimlich geworden ist».

Szenarien für Umsetzung der Initiative

Szenario 1: Wortgetreue Umsetzung des Verfassungsartikels 121a (Wiedereinführung von Einwanderungsquoten): Die Umsetzung ist mit dem Freizügigkeits-Abkommen (FZA) nicht vereinbar. Wenig deutet darauf hin, dass sich die EU auf Neuverhandlungen einlässt. Mindestens ein Teil der bilateralen Abkommen dürfte mittelfristig aufgehoben werden.

Szenario 2: Flexible Interpretation des Verfassungsartikels 121a: Die Masseneinwanderungs-Initiative würde so flexibel umgesetzt (ohne Kontingente und Höchstzahlen), dass der bilaterale Weg nicht gefährdet würde. In diesem Szenario ist die (Wieder)Einführung von «Schutzklauseln» (oder Ventilklauseln) denkbar. Die uneingeschränkte Freizügigkeit besteht mit den 15 alten  EU-Staaten plus Zypern und Malta (EU-17) seit 2007. Bis 2014 galt eine Schutzklausel, die es der Schweiz ermöglichte, nach 2007 wieder Kontingente einzuführen, wenn die Zuwanderung übermässig wäre (mindestens 10% höher als in den drei vorhergehenden Jahren). Für die EU-8-Staaten (Osterweiterung) galt die Beschränkung durch Kontingente, Inländervorrang bis 2011 und eine Schutzklausel bis 2014. Seit 2009 gilt das FZA auch für Rumänien und Bulgarien. Für diese Länder gelten die Beschränkungen bis 2016 und eine Schutzklausel bis 2019.

Szenario 3: Änderung des Verfassungsartikels 121a: Als Alternative zu einem Kontingentssystem, das mit den EU-Grundsätzen nicht vereinbar ist, könnte dem Stimmvolk eine Änderung oder Streichung des Verfassungsartikels vorgeschlagen werden. Anfangs Dezember hat der Verein Rasa (Raus aus der Sackgasse) seine Initiative vorgestellt, mit welcher er den Volksentscheid vom 9. Februar rückgängig machen will.

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