Die EU in der Hölle, die Schweiz in der Warteschlaufe?
Bern muss sich einiges einfallen lassen, um zu verhindern, dass sich der Brexit-Entscheid der Briten nicht zu einem Desaster für die Schweiz auswirkt.
Jacques de Watteville und Christian Leffler, die beiden wichtigsten Unterhändler aus Bern und Brüssel, werden (sich) zweifellos viel zu sagen haben, wenn sie am 27. Juni gemeinsam vor der Kommission für Aussenpolitik des europäischen Parlaments erscheinen, um über die Zukunft der Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) zu debattieren.
Und diese Zukunft dürfte düsterer sein denn je, seit die Briten in einer Volksabstimmung den Austritt aus der EU beschlossen haben. Dieser Entscheid durchkreuzt die Pläne Berns, das mit Brüssel ein angespanntes Verhältnis hat, seit das Schweizer Stimmvolk am 9. Februar 2014 die «Masseneinwanderungs»-Initiative der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) angenommen hat.
Zudem ist es mehr als fragwürdig, ob die Schweiz und die EU vor Ende Juli eine Lösung zur harten Nuss der Personenfreizügigkeit finden werden. Für die Union sei es technisch unmöglich, ihre Ressourcen nach dem Brexit zugunsten der Schweiz zu verschwenden, sagt der Brüsseler Wirtschaftsanwalt Jean Russotto, ein erfahrener Beobachter der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU.
Der Schweizer Bundespräsident Johann Schneider-Ammann hatte dies am Tag nach dem Brexit-Entscheid selber eingeräumt. «Es ist klar, dass die Suche nach einer Lösung nach dem Austritts-Entscheid des Königreichs schwieriger geworden ist.» Es sei umso schwieriger, weil die Differenzen in den beiden Dossiers «freier Personenverkehr» und «institutionelle Fragen» erheblich blieben, so Schneider-Ammann.
Der Haken ist, dass die Zeit für die Schweiz drängt. Der neue Verfassungsartikel 121aExterner Link, der jährliche Höchstzahlen und Kontingente für Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz vorsieht und zu 100% unvereinbar ist mit dem bilateralen Abkommen über den freien Personenverkehr, muss bis Februar 2017 umgesetzt sein. Sollte es zu keiner Einigung über die Umsetzung des neuen Artikels kommen, müsste der Bundesrat das Gesetz per Verordnung erlassen.
Katastrophen-Szenario
Das Katastrophen-Szenario hat sich bereits eingestellt. Der Bundesrat, die Landesregierung, zieht die Aktivierung einer einseitigen Schutzklausel in Betracht, was eine ganze Flut von Folgen provozieren würde. Die Schweiz würde das Protokoll zur Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien nicht ratifizieren können. Die unmittelbare Konsequenz davon: das wichtige Abkommen, das die Schweiz am europäischen Forschungsprogramm Horizon 2020 teilhaben lässt, würde ins Wasser fallen, rückwirkend auf den 1. Januar 2017.
Und längerfristig könnte die EU, was eher unwahrscheinlich ist, die Guillotine-Klausel auslösen, die alle Bilateralen Abkommen miteinander verbindet (Verkehr, öffentliche Märkte, Handelshemmnisse etc). Sicher ist jedoch, dass sie Retorsionsmassnahmen gegen Bern ergreifen würde.
«Ein dritter Weg?»
Wo also gibt es einen Ausweg? Indem man die Zeit anhält, bis die EU Klarheit in die britische Angelegenheit gebracht hat? Dieses Szenario könnte die Union überzeugen; es dürfte hingegen eine bittere Pille für die Schweiz sein, vor allem für die Initianten der «Masseneinwanderungs»-Initiative.
Für den Anwalt Jean Russotto gibt es noch einen «dritten Weg», der bislang noch nicht erkundet wurde und nicht wirklich umsetzbar erscheint. «Die Schweiz könnte es schaffen, indem sie sich proaktiv gibt», anstatt die Ereignissen hinzunehmen und auf eine hypothetische Reform der europäischen Politik zu warten, auch auf dem Gebiet des freien Personenverkehrs.
Der Anwalt fragt sich aber, ob die Schweiz, die vom Schreckgespenst der «fremden Richter» völlig gelähmt sei, den Forderungen der EU im institutionellen Bereich nicht dennoch nachgeben könnte? Und im Gegenzug könnten die Europäer, die durch Schutzmassnahmen geschützt sind, möglicherweise etwas mehr Kompromissbereitschaft auf dem Gebiet des freien Personenverkehrs zeigen. «Sicher, das sind Spekulationen. Aber es wäre besser, durchzuhalten als völlig abzusacken.»
Eine dopplet harte Nuss
Die Konzessionen, welche die EU gegenüber der Schweiz auf dem Gebiet der Personenfreizügigkeit machen könnte, liegen im Rahmen einer Interpretation von Artikel 14.2 des bilateralen Abkommens von 1999. Darin ist festgelegt, «dass im Fall «ernsthafter wirtschaftlicher oder sozialer Schwierigkeiten» die Schweiz «angemessene zeitlich limitierte Massnahmen ergreifen kann, um die Situation zu entschärfen.» Diese Massnahmen müssen von der EU und der Schweiz in jedem Fall gemeinsam beschlossen werden.
Der Ausgang der «Sondierungsgespräche», die Bern und Brüssel in diesem Zusammenhang lanciert haben, waren vor der britischen Abstimmung vom 23. Juni bereits bekannt. Bestenfalls hätten sich die Schweiz und die EU auf eine «Mini-Schutzklausel» geeinigt, die jedoch nicht den Forderungen entspricht, für die sich das Schweizer Stimmvolk am 9. Februar 2014 ausgesprochen hatte. Es hatte sich für die Einführung von Kontingenten für ausländische Arbeitskräfte und einen Inländervorrang auf dem Arbeitsmarkt ausgesprochen. Für die EU ist es jedoch unmöglich, diese Kröten zu schlucken. Vor allem ohne Lösung auf institutioneller Ebene.
Die Verhandlungen über institutionelle Fragen straucheln immer bei derselben Frage: Was passiert, wenn sich die Schweiz weigert, einem Entscheid des EU-Gerichtshofs zu beugen? Für die 28-EU-Mitglieder ist klar: Wenn die Schweiz es ablehnt, einen Entscheid des Gerichtshofs in Luxemburg umzusetzen, wird das Abkommen, das betroffen ist, automatisch «beendet», mit einer gewissen Gnadenfrist. Wenn ein Abkommen zu Fall kommt, steigt das Risiko, dass der Bilateralismus scheitert. Dessen sind sich in Bern nicht alle bewusst.
Kann die Schweiz den bilateralen Weg weitergehen und gleichzeitig die am 9. Februar 2014 knapp angenommene «Masseneinwanderungs-«Initiative umsetzen?
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(Übertragung aus dem Französischen: Gaby Ochsenbein)
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