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Brienzer Pfarrer: «Man kann hoffen. Man muss hoffen.»

Das Dorf Brienz im Kanton Graubünden am Fusse des Berges mit beleuchteter Kirche in der Nacht
Wie ein ewiger Fluch thront der Berg über dem kleinen Dorf Brienz im Kanton Graubünden. Jetzt droht er abzurutschen – und die Welt schaut zu. © Keystone / Gian Ehrenzeller

Dass der Berg kommt, ist gewiss, nur nicht, mit welcher Wucht. Was macht das mit der evakuierten Bevölkerung von Brienz – und ihrem Glauben? Gespräch mit Don Federico Pelicon, dem Dorfpfarrer.

SWI swissinfo.ch: Der Berg über Brienz kann jeden Moment auf das Dorf stürzen. Was löst das bei Ihnen aus?

Federico Pelicon: Ich empfinde Mitgefühl für die Bewohnerinnen und Bewohner. Ich habe noch die Erinnerung an das Erdbeben in Friaul 1976. Meine Stadt Gorizia wurde nicht so stark beschädigt, aber wir mussten unser Haus verlassen und monatelang in Zelten leben. Diese Gefühle finde ich in der Situation und in den Einwohnern von Brienz wieder.

Die Menschen sind gefährdet, die Bevölkerung wurde evakuiert. Aber nichts schützt die Häuser, die Existenz der Einwohner:innen. Wie geht es den Menschen, die bis vor wenigen Tagen in Brienz wohnten?

Zwei Millionen Kubikmeter drohen über Brienz abzurutschen. Es ist klar, dass die Verunsicherung der Menschen und die Sorge, Heimat und Land zu verlieren, nicht gering sind. Man kann nur hoffen, dass der Erdrutsch portionenweise abbricht, ohne das Land zu sehr zu schädigen, oder dass Land und Dorf sogar verschont werden.

Man kann hoffen. Man muss hoffen. Die Bewohner leben zwischen Amboss und Hammer, zwischen Hoffnung und Leid, weil sie nicht wissen, was geschehen wird und wann sie zurückkehren können.

Das Dorf vor dem rutschenden Berg, Aufnahme von der gegenüberliegenden Talseite.
Drei Szenarien, wie der Berg herunterkommen kann, wurden errechnet. Beim wahrscheinlichsten wird ein Teil des Dorfes betroffen sein. Keystone / Gian Ehrenzeller

In der Schweiz ist die Natur gezähmt, die Situation in Brienz mutet archaisch an. Hat die Gesellschaft verlernt, mit der Bedrohung umzugehen?

Portrait von Dorfpfarrer Don Federico Pelicon
Don Federico Pelicon, Dorfpfarrer von Brienz. ZvG

Ich persönlich glaube nicht, dass sie es verlernt hat. Vielleicht werden wir mit der Zeit selbstgefällig. Es ist immer notwendig, wachsam zu bleiben und mit den Launen der Natur im Einklang zu leben.

Wie halten Sie in der aktuellen Situation die Bindung zur Gemeinde aufrecht?

Durch persönlichen Kontakt. Besuche, Telefonate.

Worüber sprechen die Menschen mit Ihnen, was sind die häufigsten Fragen?

Es geht um ganz praktische Dinge wie die Unterbringung. Darum, wie die Schäden bezahlt werden, aber vor allem um die Vertreibung der Bewohnerinnen und Bewohner eines Bündner Weilers, der stolz auf seine Geschichte und sein Gebiet ist. Es gibt zwei Bauernhöfe, die für die Familien, denen sie gehören, eine Arbeits- und Einkommensquelle darstellen.

Wenn der schlimmste Fall eintritt, was wir nicht hoffen, wie sollen die Hektaren Land, die den Bauern Arbeit geben, ersetzt werden? Bei manchen mag sich der Zweifel einschleichen: Wurde alles richtig gemacht? Menschlich gesehen ist jede Stimmung verständlich, aber die Hoffnung auf eine Rückkehr ist immer noch sehr stark. Und stark ist auch die Solidarität: Die Menschen im Tal haben den Bewohnerinnen und Bewohnern von Brienz gegen 130 Unterkünfte zur Verfügung gestellt.

Federico Pelicon (55) ist in Gorizia in Friaul-Julisch Venetien im äussersten Osten Italiens geboren und aufgewachsen. Er hat seine Universitätsjahre in Udine verbracht. Dann folgte die Priesterausbildung mit Studien in Rom, Ljubljana und St. Petersburg. In Brienz ist er im dritten Jahr beschäftigt. Davor hat Pelicon lange in Rom gearbeitet. Die Kirchgemeinde Brienz zählt 77 Katholikinnen und Katholiken.

Die katholische Dorfkirche von Brienz. Dahinter der Berg.
Die Dorfkirche von Brienz liegt etwas erhöht im exponierten Teil des Dorfes. © Keystone / Gian Ehrenzeller

In Katastrophen taucht auch das Problem der Theodizee auf. Der gütige und allmächtige Gott steht im Widerspruch zur Unbill auf der Welt. Wie lautet Ihre Antwort hierauf?

Theodizee ist ein Begriff, der von dem Philosophen Leibniz geprägt wurde, um das Problem der Existenz des Bösen zusammenzufassen, das in vielen Religionen vorkommt. Das Böse in der Welt wird in Beziehung gesetzt zur Rechtfertigung des Göttlichen und der Art, wie das Göttliche wirkt.

Hier stellt sich die Frage: Ist ein Erdrutsch oder eine andere Naturkatastrophe als böse zu betrachten? Die Erde ist wie ein grosser Organismus, ein System in dynamischem Gleichgewicht, in dem die Biosphäre nicht passiv, kein Gast ist, sondern ein Element, das zur Entwicklung des Planeten beiträgt.

Hat die Katastrophe den Glauben erschüttert?

Bei einigen Menschen, ja. Aber jede Glaubenskrise ist eine Gelegenheit, sich von falschen Vorstellungen von Gott zu befreien.

Die Kirche befindet sich auf einem Hügel im Westen des Dorfes, in der Nähe des Gebiets, das im wahrscheinlichsten Szenario verschüttet werden könnte. Was ist, wenn die Kirche nicht hält?

Wir werden die Fakten im Lichte des Evangeliums interpretieren. Der Tempel in Jerusalem wurde 70 nach Christus ebenfalls zerstört. Die Kirche mag nicht bestehen, aber die lebendigen Steine, die Gläubigen, bleiben. Und es muss weitergehen, auch wenn eine solche Aussicht weh tut.

Das sagen die Einwohner:innen von Brienz dazu:

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