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Bührle und die «Mädchen» aus Italien

Gruppe von Männern vor einer Kanone
Emil Bührle, im Vordergrund, zeigt Kaiser Haile Selassie I. von Äthiopien am 26. November 1954 eine der Kanonen aus seiner Waffenfabrik Oerlikon. Bührle, einer der reichsten Männer der Schweiz, verdiente sein Vermögen vor allem in der Rüstungsindustrie. Keystone / Ilse Guenther, Ilse Mayer-guenth

In seiner Spinnerei im Toggenburg beschäftigte der Industrielle Emil Bührle neben Schweizer Zwangsinternierten auch Italienerinnen. Das italienische Konsulat wehrte sich für sie.

Ende November 1955 bricht Unruhe aus im Marienheim im toggenburgischen Dietfurt SG. Zwei Cousinen aus Italien wehren sich gegen die gefängnisähnliche Unterbringung. Als die Heimleiterin die beiden aufmüpfigen Mädchen zur Strafe entlässt, kündigen acht weitere Italienerinnen ebenfalls. «Nun gibts unter den Italienerinnen Empörung», notieren die Schwestern aus dem Kloster Ingenbohl, die das Marienheim führen.

Die Cousinen sind erst seit vier Monaten im Mädchenheim. Sie arbeiten zusammen mit schätzungsweise 30 Italienerinnen als Angestellte in der Spinnerei und Weberei. Die Italienerinnen wohnen in derselben Unterkunft wie die rund 60 zwangsinternierten Schweizer MädchenExterner Link. Die Fremdarbeiterinnen haben zwar etwas mehr Freiheiten als die Schweizerinnen. Doch auch ihnen ist ausser Beten und Arbeiten nur wenig erlaubt.

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Die Schwestern des Klosters Ingenbohl führen das Heim als Angestellte der Spinnerei und Weberei Dietfurt AG. Die Firma sowie das fabrikeigene Mädchenheim gehören seit 1941 Emil Bührle, dem damals reichsten Schweizer.

In Zürich-Oerlikon ist der Industrielle und Kunstsammler dafür bekannt, Streikführer sofort zu entlassen. Auch in seinem Toggenburger Arbeiterinnenheim wird bestraft, wer aufbegehrt.

In jenen Novembertagen trifft es die beiden Cousinen. Sie «weigern sich, die Anordnungen von Schwester Oberin auszuführen», heisst es in der Heimchronik, die im Archiv des Klosters Ingenbohl liegt. Die Gründe für die Gehorsamsverweigerung nennt die Chronik nicht. Denkbar sind viele.

So schotten die Klosterfrauen die jungen Italienerinnen von der Aussenwelt ab. Verbieten ihnen Verwandtenbesuche. Bestimmen über die raren Freizeitbeschäftigungen: Ein Filmabend mit einem italienischen Priester. Eine Segnung am Wallfahrtsort Maria Bildstein in der Linthebene.

Die Ordensschwestern glauben vermutlich, mit ihrer Strenge die katholischen Mädchen vor Gefahren zu beschützen. Ihre Jungfräulichkeit zu bewahren, gilt den Schwestern als höchstes Ziel. Die Unsittlichkeit lauert offenbar hinter jeder Ecke, weshalb den unverheirateten Mädchen Kontakte zu Männern grundsätzlich untersagt sind.

Spinnerei am Dorfrand
Die Spinnerei am Dorfrand von Dietfurt, um 1915. Alfred Lichtensteiger / Museumgesellschaft Bütschwil

Billige Arbeitskräfte

Mit Solidarität unter den Arbeiterinnen hat die Schwester Oberin indes nicht gerechnet. Als sich nach der Entlassung der Cousinen ein Exodus von Arbeiterinnen anbahnt, bestellen die Schwestern eine italienischsprechende Frau zur Vermittlung. Sie nimmt jedes Mädchen einzeln ins Gebet. Vergeblich. Elf Italienerinnen verlassen schliesslich Bührles Unternehmen.

Die Garnspulen der Textilnation Schweiz rotieren damals vielerorts mit Hilfe italienischer Frauenhände. Die Textilunternehmen beschäftigen in den 1950ern mehr Angestellte als die Uhrenindustrie, gemäss Statistischem Jahrbuch der Schweiz sind 55 Prozent Frauen. Um die Löhne tief zu halten, holen die Firmen junge Italienerinnen ins Land und quartieren sie in Privatunterkünften oder katholischen Mädchenheimen ein.

Schwestern aus Ingenbohl und Menzingen sollen einen lasterfreien Lebenswandel garantieren. Der Import von italienischen Arbeiterinnen hat eine lange Tradition. Italien verschärfte wegen der Rekrutierungsreisen von Schweizer Textilunternehmen bereits 1910 das Emigrationsgesetz.

Im Juni 1956 eskaliert die Situation im Marienheim in Dietfurt erneut. Drei Italienerinnen gelangen ins Bureau des Spinnereidirektors und kritisieren, dass die Schwester Oberin ihnen verboten habe, am Sonntag nach dem Nachtessen das Marienheim zu verlassen. Der Direktor stellt sich jedoch auf die Seite der Oberin, wie es in der Heimchronik heisst.

Altes Haus
Das Marienheim in Dietfurt, in dem die weibliche Belegschaft der Spinnerei untergebracht war. Alfred Lichtensteiger / Museumgesellschaft Bütschwil

Wenige Tage später bittet Isabella Durante*, eine der drei Italienerinnen, um Erlaubnis, über das Wochenende ihren Onkel in Zürich zu besuchen – was der Direktor untersagt. Isabella Durante fährt trotzdem.

Als sie am Montagvormittag zurückkehrt, entlässt sie der Direktor fristlos. Sie muss das Heim noch am selben Abend verlassen. «Vielleicht flösst diese sofortige Kündigung den Italienerinnen doch etwas Respekt ein», notiert eine Schwester dazu.

Isabella Durante fährt aber nicht zurück zu ihren Eltern nach Italien, sondern nach St. Gallen ins italienische Konsulat. Sie beschwert sich über Bührles Textilunternehmen in Dietfurt.

Die Schwester Oberin muss zu einer Aussprache in die Kantonshauptstadt fahren, wo sie der Konsul auffordert, den Italienerinnen die Haus- und Tagesordnung bereits vor dem Stellenantritt bekannt zu machen, damit die Mädchen wüssten, worauf sie sich einliessen.

Schweizerinnen schlechter dran

Zeitzeugin Irma Ehrler, die zwischen 1959 und 1961 im Marienheim Dietfurt zwangsinterniert war, erinnert sich gut an die Italienerinnen: «Die meisten arbeiteten in der Weberei der Firma im Nachbardorf und wurden jeden Morgen mit einem Büssli dorthin gefahren.»

Während die Italienerinnen nach der Morgenschicht hin und wieder im Dorf hätten einkaufen dürfen, sei dies den zwangseingewiesenen Schweizerinnen untersagt gewesen, erzählt Irma Ehrler.

«Wir bekamen bei guter Führung höchstens am Samstagnachmittag frei, um in der Kirche Bütschwil zu beichten. Und am Sonntagnachmittag konnten wir uns vier Stunden lang draussen bewegen, sofern wir uns immer schön gehorsam gezeigt hatten.»

«Wir bekamen bei guter Führung höchstens am Samstagnachmittag frei, um in der Kirche Bütschwil zu beichten. Und am Sonntagnachmittag konnten wir uns vier Stunden lang draussen bewegen, sofern wir uns immer schön gehorsam gezeigt hatten.»

Nach der Abendschicht um 22 Uhr habe es nur für jene Schweizerinnen Znacht gegeben, die vorher in der Kapelle das Abendgebet gesprochen hatten.

Die Amtsvormundschaft Schaffhausen hatte Irma Ehrler als 18-Jährige nach Dietfurt verfrachtet. Sie erhielt von den Schwestern pro Monat fünf Franken Sackgeld.

«Als ich mit 20 Jahren in die Freiheit entlassen wurde, habe ich keinen roten Rappen erhalten. Es hiess, man habe meinen Fabriklohn für Kost und Logis verbraucht sowie für Unterwäsche und Winterkleider.»

Sommerkleider schneiderten sich die Schweizer Mädchen selbst. Aus Stoffresten, die sie in der firmeneigenen Weberei gegen Lohnverrechnung kaufen konnten. Irma Ehrler, die seit ihrer Heirat einen anderen Nachnamen trägt, hat das gemeinsame Kleiderschneidern mit den Italienerinnen nicht vergessen.

«Kein Mädchen gefallen»

Die Unterbringung von Schweizer Mädchen im Marienheim Dietfurt endet spätestens 1968. Das Kloster Ingenbohl kündigt zu diesem Zeitpunkt den Vertrag mit der Bührle-Fabrik, weil immer weniger Frauen ins Kloster eintreten.

Es gibt einen Schwesternmangel. 104 Jahre hatten die Ingenbohler Schwestern gewirkt. Drei Fabrikbesitzer gesehen. Kinderarbeit und Zwangsarbeit toleriert. Selten sind die Schwestern kritisiert worden.

Die Sozialistin Angelica Balabanoff geisselte die Mädchenheime zwar bereits 1905 in einem St. Galler Arbeiterblatt als «klerikal-kapitalistische Strafanstalten», in denen unter dem Deckmantel der christlichen Menschenliebe junge Arbeiterinnen systematisch ausgebeutet würden. Doch bewirkt hat die Kritik wenig. Noch in der Nachkriegszeit schickten Fürsorgebehörden Mädchen zur Zwangsarbeit nach Dietfurt, obwohl das seit 1941 untersagt ist.

Am 18. September 1968 dankt die letzte Schwester Oberin von Dietfurt dafür, «dass in den Jahren ihres segensreichen Wirkens kein Mädchen gefallen ist», heisst es in der Heimchronik. Das bedeutet, dass kein Mädchen Sex vor der Ehe hatte.

Übernommen wird das Marienheim von drei italienischen Schwestern, die aus der geschlossenen Spinnerei Siebnen SZ anreisen. Denn Fremdarbeiterinnen sollen im Heim wohnen bleiben. Das war in vielen Textilfirmen noch bis in die 1970er-Jahre üblich.

Klagende Chefs

So beschwerte sich der Verband der Arbeitgeber der Textilindustrie in einem Schreiben an den Bundesrat vom 5. Februar 1971, dass die «Mädchenheime» nicht mehr so einfach mit Ausländerinnen gefüllt werden könnten. Das zeigt ein Dokument aus dem Bundesarchiv.

Die Spinnereien mit Mädchenheimen würden über einen Drittel der schweizerischen Spinnkapazität ausmachen. «Junge Mädchen aus Italien und Spanien werden von ihren Eltern in die Schweiz geschickt, um sich hier ihre Aussteuer zu verdienen […]», heisst es darin.

Es spräche viel dafür, die Heime aufrechtzuerhalten, teilen die Textilindustriellen dem zuständigen Bundesrat Ernst Brugger mit. Der Kontakt der Ausländerinnen mit der Bevölkerung sei gering, und «die psychologische Überfremdung» deshalb klein.

Verbandspräsident Gabriel Spälty-Leemann aus Netstal GL schreibt sogar: «Die Mädchenheime können als eine Art Entwicklungshilfe betrachtet werden: Mädchen aus relativ primitiven Verhältnissen werden hier neben ihrer Arbeit in hauswirtschaftlichen und allgemeinen Belangen weitergebildet.»

Das Marienheim beherbergt 1971 noch 19 Italienerinnen. 46 Betten sind leer. Wann die letzte Italienerin das Mädchenheim verlassen hat, ist nicht überliefert.

*Name anonymisiert

Dieser Artikel erschien zuerst im Beobachter.

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