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So lebt es sich in einer deutschen Exklave in der Schweiz

Luftaufnahme von Büsingen
Das Dorf Büsingen grenzt an die Kantone Schaffhausen, Thurgau und Zürich. Keystone / Felix Kästle

Durch die Launen der Geschichte ist Büsingen am Hochrhein, eine deutsche Gemeinde mit rund 1500 Einwohnern, vollständig von Schweizer Gebiet umgeben. Sie gehört zusammen mit Campione d'Italia zu den einzigen zwei Exklaven in der Schweiz.

Fährt man vom Zentrum Schaffhausens mit dem Auto dem Rhein entlang nach Osten, erreicht man nach weniger als vier Kilometern Büsingen, Deutschland. Heute wie damals gibt es keinen Grenzübergang zwischen den beiden Ländern, keine Grenzbeamt:innen. Und wenn man die Fahrt fortsetzt, immer noch in Richtung Osten, passiert man das Dorf Büsingen – und ist nach weniger als fünf Minuten wieder in der Schweiz. Nur kleine, für das aufmerksame Auge wahrnehmbare städtische Merkmale – ein Briefkasten, ein Bankschild, eine Bushaltestelle – machen deutlich, dass man sich zwischenzeitlich nicht in der Schweiz befindet.

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Warum ist Büsingen nicht Teil der Eidgenossenschaft? Die Geschichte ist, wie immer, kompliziert. Beginnen wir im Jahr 1770, als die Habsburger die Landrechte des Dorfes Dörflingen, dem östlichen Nachbarn von Büsingen, ans eidgenössische Zürich verkauften. Damit war Büsingen plötzlich von Schweizer Gemeinden umgeben und wurde zu einer ausländischen Enklave auf Schweizer Gebiet. Zunächst österreichisch, wurde Büsingen später Teil des Grossherzogtums Baden, ging in der Weimarer Republik zum Land Baden, nach dem Zweiten Weltkrieg zu Südbaden und schliesslich ab 1952 zum Land Baden-Württemberg über.

In den Pressener Verhandlungen von 1805 (Frieden von Pressburg nach der österreichischen Niederlage bei Austerlitz) zwischen Franz I. und Napoleon wurde Vorderösterreich (die Bezeichnung für die ehemaligen habsburgischen Besitzungen in Südwestdeutschland) zwischen dem Grossherzogtum Baden und dem Königreich Württemberg aufgeteilt. Damit wurde Büsingen an das Königreich Württemberg angegliedert. Weniger als fünf Jahre später wurde es Teil des Grossherzogtums Baden.

Der Bevölkerung blieb nichts anderes übrig, als den Entscheid zu akzeptieren, sie konnte ihre Wünsche nicht anbringen. Erst nach dem Ersten Weltkrieg wurden sie aktiv und versuchten, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. So kam es 1918 zu einer Volksabstimmung in Büsingen, bei der sich 96% der Wähler:innen für den Anschluss der deutschen Stadt an die Schweizerische Eidgenossenschaft aussprachen. Die Schweiz prüfte das Ersuchen, lehnte den Anschluss jedoch ab.

Zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Machtübernahme des Nationalsozialismus in Deutschland unternahm Büsingen mehrere Versuche, dem Bund beizutreten, die jedoch alle am entschiedenen, oft drohenden Widerstand Badens scheiterten.

Kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1939 schaltete sich sogar das britische Oberhaus ein und forderte die Gemeinde auf, der Schweizerischen Eidgenossenschaft beizutreten, was jedoch sowohl vom Büsinger Rathaus als auch – aus offensichtlichen Gründen der Neutralität – von der Schweizer Regierung abgelehnt wurde. Doch während des gesamten Krieges hielt die Schweiz die Grenze geschlossen und Büsingen war vom übrigen Deutschland isoliert.

Am Ende des Krieges, als es darum ging, die Grenzen des Kantons Schaffhausen mit Deutschland zu regeln, war Büsingen wieder im Gespräch, aber der entschiedene Widerstand des Landkreises Konstanz beendete schliesslich alle Diskussionen.

Das Dorf liegt an einem sanft zum Rhein abfallenden Hang. Jenseits des Flusses, der sich bei Büsingen um neunzig Grad nach Süden wendet, liegt der Kanton Thurgau. Ansonsten ist Büsingen vom Kanton Schaffhausen umgeben (fairerweise sollte auch der 200 Meter lange Rhein-Abschnitt erwähnt werden, den die deutsche Enklave mit dem Kanton Zürich teilt).

Von der Bergkirche St. Michael hoch über dem Dorf oder von den Weinbergen auf dem nördlichen Hügel der Enklave sieht man rundherum nichts als Schweizer Boden. Im Osten jedoch, vorbei an den Tennis- und Fussballplätzen und einem nur 500 Meter breiten Streifen Schweizer Bodens, kommt man wieder nach Deutschland.

Einer von 123 Grenzsteinen zwischen der Schweiz und Deutschland in Büsingen.
Einer von 123 Grenzsteinen zwischen der Schweiz und Deutschland in Büsingen. © Keystone / Gaetan Bally

Das Dorf ist somit nur durch 500 Meter vom deutschen Mutterland getrennt – ein Korridor, den der Landkreis Konstanz bei den letzten Verhandlungen 1956 von der Schweiz forderte, um Büsingen direkt mit dem Rest Deutschlands zu verbinden, jedoch ohne Erfolg: Die Schweiz konnte kein geeignetes Stück deutsches Land ausfindig machen, das sie im Austausch verlangen konnte.

Und doch können schon wenige Meter im täglichen Leben der deutschen Bürger:innen der Enklave praktische Probleme verursachen. Diejenigen, die heute dort leben, sind daran gewöhnt. Doch im Laufe der Zeit mussten sie viele Schwierigkeiten überwinden.

Internationaler Vertrag

Um diese Probleme zu lösen, wurden die Beziehungen zwischen der Exklave und der Schweiz 1964 in einem VertragExterner Link zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland über die Einbeziehung Büsingens in das Schweizer Zollgebiet festgelegt.

Er trat 1967 in Kraft und klärte in 44 Artikeln formell die wichtigsten Rechtsfragen des täglichen Lebens, darunter die Aufnahme von Büsingen in das schweizerische Zollgebiet. Die im Tessin liegende Gemeinde Campione d’Italia hingegen hat den umgekehrten Weg gewählt: Sie verliess am 1. Januar 2020 das schweizerische Zollgebiet und trat in das europäische ein, zum allgemeinen Leidwesen der Bevölkerung von Campione.

Die Folgen des Abkommens

Büsingen unterliegt der Schweizer Mehrwertsteuer (7,7%) auf Einkäufe und Dienstleistungen, nicht der Mehrwertsteuer des übrigen Deutschlands (19%). Die Einwohner:innen von Büsingen können wie die Schweizer:innen eine Rückerstattung der bei Einkäufen in der EU gezahlten Mehrwertsteuer erhalten, das berühmte «Tax Free».

Die Bürgermeisterin von Büsingen, Vera Schraner, die seit etwas mehr als einem Jahr im Amt ist, erzählt uns, dass «die meisten – etwa 95% – der in Büsingen arbeitenden Menschen in der Schweiz arbeiten.» Das bedeutet, dass sie ihren Lohn in Schweizer Franken erhalten. Aus diesem Grund werden im Lebensmittelladen und in den beiden Restaurants auch Schweizer Franken verwendet, obwohl die offizielle Zahlungswährung der Euro ist. Doch seit die Schweizerische Nationalbank 2015 die Franken-Euro-Mindestgrenze aufgegeben hat (1,20 Franken für einen Euro), ist die Aufwertung des Frankens (heute sind die beiden Währungen praktisch gleichwertig) zu einem grossen Problem für die Bürger:innen der Exklave geworden, da sie ihre Steuern in Euro an den deutschen Fiskus abführen müssen.

«Je mehr der Franken wert ist, desto höher ist ihr Einkommen in Euro und desto höher sind ihre Steuern», sagt Vera Schraner, «nicht zuletzt, weil die Steuerprogression in Deutschland besonders ausgeprägt ist.» Das ist kein geringes Problem, wenn man bedenkt, dass man für das gleiche Gehalt in der Schweiz die Hälfte an Steuern zahlen muss als in Deutschland.

Die Bürger:innen haben die deutschen Behörden wiederholt auf diese Situation aufmerksam gemacht, ohne eine zufriedenstellende Antwort zu erhalten. Wegen dieser Steuerlast, fügt Vera Schraner hinzu, «ist für viele – vor allem jungen – Menschen, die in Büsingen oder im benachbarten Deutschland arbeiten, das Leben in Büsingen zu teuer. Und deshalb sind wir ein ziemlich altes Dorf. Wir haben ein Durchschnittsalter von 52,2 Jahren und sind eines der ältesten Dörfer Deutschlands.» In Büsingen leben derzeit 1541 Einwohner, ein Viertel davon sind Schweizer:innen.

Kuriositäten in den Exklaven

Zusätzlich zu den Problemen gibt es in dieser Exklave auch Situationen, die man als «kurios» bezeichnen könnte. Überquert man den kleinen Dorfplatz, findet sich auf der rechten Seite das Rathaus, und etwas weiter links das Postamt mit dem unverkennbaren Zeichen der Deutschen Post. Auf dem Querbalken der Eingangstür finden sich jedoch zwei Postleitzahlen, die schweizerische (CH-8238) und die deutsche (D-78266). Das liegt daran, dass die Post, obwohl sie deutsch ist, auch verschiedene Schweizer Postdienste anbietet. Wie bis vor kurzem in Campione d’Italia.

Ebenfalls auf dem Platz, neben der Bushaltestelle, befanden sich früher zwei Telefonzellen, eine schweizerische und eine deutsche (heute gibt es nur noch ein Telefon für Notrufe). Wie bei der Post gibt es auch bei den Festnetztelefonen zwei Vorwahlen: die schweizerische (052) und die deutsche (07734). Nicht so in Campione, wo die Telefonvorwahl die Tessiner Vorwahl (091) ist und trotz der vielen Veränderungen, die die italienische Enklave in den letzten zwei Jahren erfahren hat, immer noch gilt.

Zwei unterschiedliche Telefonkabinen
Als es noch Telefonzellen gab, war eine schweizerisch und die andere deutsch. © Keystone / Gaetan Bally

Das deutsche Gesundheitssystem ähnelt dem schweizerischen (private, aber obligatorische Versicherung), so dass die Einwohner wählen können, wo sie sich versichern wollen, ob bei einem schweizerischen oder deutschen Versicherer. Das System hier unterscheidet sich völlig von dem in Campione d’Italia, wo der italienische Staat für die Dienstleistungen in der Schweiz für die Bürger:innen der Enklave aufkommt. Ein System, das die Region Lombardei nun ändern will, weil es zu kostspielig ist.

Auch in Büsingen ist die Rechtslage komplex, während sie in Campione hingegen sehr klar ist. Im Allgemeinen gilt das Schweizer Recht für die Landwirtschaft, Drogendelikte, Bestattungen und die Kontrolle des Gaststättengewerbes. Wenn es um Bauwesen, Diebstahl, Geldwäsche und Eheschliessungen geht, ist hingegen der deutsche Staat zuständig. In Campione dagegen gilt ausschliesslich italienisches Recht.

Bis 2020 wurden die Autos der Bürger:innen von Campione im Tessin zugelassen. Jetzt müssen auch in Campione neue Autos (aber auch alte) in Como zugelassen werden. In Büsingen hat man eine andere Lösung gefunden: Obwohl es ein Dorf mit weniger als 1500 Einwohner:innen ist, hat Büsingen ein eigenes Nummernschild: BÜS. Die Zöllner:innen wissen, dass dieses Nummernschild auf ein deutsches Dorf hinweist, das aber zum Schweizer Zollgebiet gehört.

Und noch ein letztes Kuriosum: Der örtliche Fussballverein, der FC Büsingen, ist die einzige deutsche Mannschaft, die in der Schweizer Fussballliga spielt. Genau wie Campionese, die einzige italienische Mannschaft, die in einer Schweizer Liga spielt.

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Gastgeber/Gastgeberin Melanie Eichenberger

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