Analyse: Das war mehr als nur eine Bundesratswahl
Das Schweizer Parlament hat ein Mitglied der Landesregierung ersetzt und einen neuen Bundeskanzler gewählt. Nur das? Nein, für diese vier entscheidenden Gebiete ist das Ergebnis wegweisend.
Dossier Schweiz – EU
Ausgangslage: 2021 hat die Schweizer Regierung laufende Verhandlungen mit Europa über ein Rahmenabkommen abrupt und einseitig abgebrochen.
Das hat das Verhältnis von Brüssel zu Bern empfindlich gestört. Danach konnte die Schweiz die Beziehung in vielen technischen Gesprächen wieder normalisieren, auch inhaltlich gab es dabei Fortschritte.
Jetzt sind diese Sondierungsgespräche beendet. Der Bundesrat will ein Verhandlungsmandat ausarbeiten und verabschieden. Doch innerhalb der siebenköpfigen Regierung dominierte in den letzten Jahren eine EU-skeptische Gruppe, die keine Eile mit Europa hatte.
Der abtretende SP-Bundesrat Alain Berset, einst gestartet als Europafreund, schlug sich in den letzten Jahren auf die Seite dieser Bremser. Das sagen mehrere Quellen, die mit dem Dossier vertraut sind.
Der Grund: Berset ist eng mit den Schweizer Gewerkschaften verbunden, die gegen Lohndumping kämpfen und von Brüssel erstmal mehr Zugeständnisse abverlangen.
Effekt: Der neue Bundesrat Beat Jans regierte bisher in der Stadt Basel, am Dreiländereck, Schweiz-Deutschland-Frankreich. Er kommt damit aus der europäischsten Stadt der Schweiz und ist aus dieser Interessenslage mit dem komplexen Dossier «Schweiz-EU» bereits im Detail vertraut.
Hier tritt Bundesrat Beat Jans vor die Parlamentarier:innen, die ihn soeben gewählt haben:
Jans sagte diese Woche in einem Interview: «Im EU-Dossier hätte der Bundesrat stärker dafür sorgen müssen, dass die Sozialpartner eine Lösung finden.» Dies kann er sich nun selbst zur Aufgabe machen. Sein Werdegang verleiht ihm sowohl bei der Wirtschaft wie bei den Gewerkschaften genügend Glaubwürdigkeit.
Fazit: Bisher beeinflussten die Gewerkschaften die Europapolitik des Bundesrats zu ihren Gunsten. Das kann jetzt drehen: Der Bundesrat könnte die Gewerkschaften künftig so beeinflussen, dass ein Deal mit Brüssel möglich wird.
Zusammenarbeit im Bundesrat
Ausgangslage: Die Schweizer Regierung zeigte in den letzten Jahren dysfunktionale Züge. Es sind nicht die politischen Streitereien, welche die Zusammenarbeit im Gremium erschwerten, sondern strategische – teils herrschten gar persönliche Animositäten.
Es war insbesondere eine Flut von Leaks während der Corona-Zeit, die das Vertrauen innerhalb der Regierung stark beeinträchtigte. Ein parlamentarischer Untersuchungsbericht dazu beschreibt ein «geschädigtes Arbeitsklima». Die ständigen Leaks hätten etwas «Zersetzendes» gehabt. Verteilkämpfe um die Departemente hatten auf zwischenmenschlicher Ebene bereits zuvor Misstrauen und schlechte Stimmung hinterlassen.
Politiker:innen im Bundeshaus beschreiben eine verunsicherte, wenig agile, von Grabenkrämpfen geprägte Regierung, in welcher der Bundeskanzler nicht selten die Rolle eines Mediators einnehmen musste: Nicht die Führung, die man sich in Krisen wünscht.
Effekt: Mit Alain Berset geht das Regierungsmitglied, das im Zentrum der sogenannten Corona-Leaks stand. Vertrauliche Regierungsinformationen gelangten aus Bersets Departement regelmässig an die Medien.
Eine Untersuchung konnte dem Innenminister zwar nicht nachweisen, dass er selbst für die Leaks verantwortlich ist. Aber nicht wenige Kommentator:innen schrieben, dass Berset mit seinem Rücktritt den Notausgang genommen habe.
Jetzt wird das Gremium grundsätzlich aufgefrischt. Auch ein neuer Bundeskanzler zieht ein. Mit gleich zwei neuen Köpfen wächst die Chance für einen Neustart. Gleichzeitig bleiben problematische Konstellationen.
Insbesondere die Position von Aussenminister Ignazio Cassis bleibt geschwächt, jene von Finanzministerin Karin Keller-Sutter dominant. Cassis hat im Bundesrat für seine Pläne, etwa in Bezug auf Europa, die Ukraine oder die Neutralität, bisher selten eine Mehrheit gefunden. Keller-Sutter punktet regelmässig mit strategischem Geschick.
Fazit: Asymmetrien bleiben, diese gab es jedoch immer. Die Chancen, dass eine neue, kooperativere Funktionsweise ins System Einzug hält, sind hoch.
Das politische System der Schweiz
Ausgangslage: Die Schweizer Politik funktioniert sehr stabil, und damit auch träge. Für Revolutionen eignet sich das System nicht. Damit das so bleibt, sorgen im Bundeshaus drei ungeschriebene Gesetze für Berechenbarkeit.
Das erste Gebot ist die sogenannte Zauberformel. Sie hat Tradition. Bereits 1959 einigten sich die vier stärksten Parteien darauf, dass die Regierungsposten in einem Verhältnis aufgeteilt werden, das ihrer Stärke im Parlament entspricht.
Seit den Parlamentswahlen 2003 ist diese Formel unverändert. Das zweite Gebot lautet: Die von den Parteien vorgeschlagenen Kandidat:innen werden gewählt, andere nicht. Man hält sich an das sogenannte «Ticket» der Partei. Drittes Gebot: Das Parlament wählt keine Regierungsmitglieder ab.
Diese drei Anstandsregeln garantieren den Burgfrieden unter den grossen Parteien. Keine fällt der anderen in den Rücken, keine treibt ihr Spielchen. So kann sich auch jede auf diesen Nichtangriffspakt verlassen.
Effekt der Wahl: Bereits die Parlamentswahlen im Oktober haben die Schweizer Mehrheitsverhältnisse leicht verschoben. Es war zwar im Prozentbereich, aber markant genug, um die bestehende Zauberformel wieder zu diskutieren.
Als Folge davon machten im Bundeshaus bald Gedankenspiele über Abwahlmöglichkeiten und Sprengkandidaten die Runde. Das ist nicht neu. Bereits 2003 und 2007 wurden eine Bundesrätin und ein Bundesrat abgewählt und neue Parteikonstellationen geschaffen.
Dieses Jahr wurden diese Gedankenspiele, sogenannte Geheimpläne, aber erstaunlich offen vorgetragen und debattiert. Am Ende erfolgte eine Wahl nach Drehbuch, wenn auch durchsetzt von einzelnen Störmanövern und Denkzetteln. Aber: Die drei ungeschriebenen Gesetze hielten aufkeimenden Umsturz-Gelüsten einmal mehr stand.
Fazit: Ein Veränderungsbedarf hat sich gezeigt, die Diskussion darüber ist lanciert. Das stabile System der Schweiz erfasst Revolutionsträume schnell und kann diese nachhaltig integrieren, oder anders gesagt: einschweizern. Evolution statt Revolution
E-Voting
Ausgangslage: In der Schweiz besteht grundsätzlich ein politischer Wille, ein E-Voting-System zu bauen. 2019 erlebte dieses Projekt aber einen abrupten Stopp wegen Sicherheitsbedenken. Für die Kantone, die in der Schweiz die Durchführung von Wahlen und Abstimmungen verantworten, war das Unterfangen auch eine Überforderung.
Vor zwei Jahren dann übernahm der Bund die Projektkoordination. Das war ein Schlüsselmoment in diesem Dossier, das für die Auslandschweizer:innen sehr bedeutend ist. Die Dynamik drehte.
Verantwortlich dafür war der abtretende Bundeskanzler Walter Thurnherr. Unter ihm wurden die Sicherheitsbedenken integriert und 2023 ein neuer Versuchsbetrieb lanciert. Vier Kantone nehmen aktuell daran teil. Ziel ist es, den Versuch mit wachsender Erfahrung auszudehnen.
Effekt: Ein Bundeskanzler in der Schweiz hat keine exekutive Macht. Er leitet den Stab der Landesregierung, verantwortet auf Bundesebene aber auch das Funktionieren der direkten Demokratie der Schweiz.
Walter Thurnherr gab beim E-Voting bisher den Takt vor. Digitalisierung war dem Physiker ein persönliches Anliegen. Thurnherrs Nachfolge war damit auch ein Entscheid über die Zukunft von E-Voting in der Schweiz.
Der neue Bundeskanzler Viktor Rossi ist seit 2010 selbst in der Bundeskanzlei tätig, seit 2019 als Vizekanzler. Er wird dort als Führungsperson offenbar bereits jetzt sehr geschätzt. Rossi will Kontinuität in der Bundeskanzlei garantieren und möchte die Digitalisierung der Verwaltung «konsequent vorantreiben», wie er sagt.
Fazit: Mit Viktor Rossi hat das Schweizer E-Voting-Projekt den bestmöglichen Paten erhalten. Good news für die Auslandschweizer:innen.
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