Cannabis: Die Schweiz experimentiert mit der kontrollierten Abgabe
In den Umgang mit Cannabis kommt Bewegung: Mehrere Schweizer Städte beteiligen sich an einem wissenschaftlichen Projekt, das den Cannabisverkauf für den Eigengebrauch vorsieht. Es soll in Bern auch auf Kokain ausgedehnt werden.
«Als bewusste Konsumentin möchte ich entscheiden, welche Art von Cannabis ich nutze. Und genau wie ein Weinliebhaber will ich unterschiedliche Sorten ausprobieren, ohne vom Schwarzmarkt abhängig zu sein». Die 40-jährige Freiberuflerin E.S. ist eine von 1’091 Personen in Bern, Luzern und Biel, die an der wissenschaftlichen Studie SCRIPTExterner Link teilnehmen.
Im Rahmen dieses Projekts wird ab Herbst der Verkauf von Cannabis in Apotheken erlaubt. E.S. konsumiert Cannabis seit ihrer Jugend «als Selbstmedikation – gegen Menstruationsbeschwerden, gegen die Symptome meines latenten Hyperaktivitätssyndroms und zur Entspannung nach einem anstrengenden Arbeitstag».
Es dauerte über zehn Jahre, bis das SCRIPT-Projekt starten konnte. Grund dafür waren politische Streitigkeiten und Probleme mit den rechtlichen Rahmenbedingungen. Der Weg wurde schliesslich im Jahr 2021 frei, als das Betäubungsmittelgesetz mit einer Klausel geändertExterner Link wurde, die Pilotversuche mit kontrollierter Abgabe von Cannabis zu «Genusszwecken» möglich machte.
Gesundheitsschäden vermindern
Professor Reto Auer, Arzt und Forscher an der Universität Bern, koordiniert das Projekt. Er erklärt, dass es sich um eine randomisierte kontrollierte Studie (RCT) handelt, das heisst um eine Forschung, die zwei Gruppen miteinander vergleicht. «Die Kontrollgruppe besteht aus Personen, die sich weiterhin auf dem Schwarzmarkt mit Cannabis versorgen «, erklärt Auer.
Die andere Gruppe wird die Substanz stattdessen in Apotheken kaufen können. In Form von getrockneten Blüten («Gras»), Harz («Haschisch»), Flüssigkeit für elektronische Zigaretten oder Öl. Alle Substanzen werden in der Schweiz nach den Vorschriften des biologischen Landbaus produziert.
Reto Auer erklärt, dass das Hauptziel von SCRIPT die Schadensbegrenzung ist: «Diejenigen, die Cannabis konsumieren, rauchen es gemischt mit Tabak. Und das ist, abgesehen von den Auswirkungen der Substanz auf das Gehirn und die Psyche, die grösste Gefahr für die Gesundheit.»
Die Studie beinhaltet eine starke Beratungskomponente: In Apotheken erhalten die Teilnehmer:innen Informationen und Ratschläge zu alternativen Möglichkeiten des Cannabiskonsums.
SCRIPT wird eine grosse Menge an Informationen sammeln. Dafür werden Daten aus Laboruntersuchungen und Fragebögen in ein System eingespeist. Auer betont: «Wir sind daran interessiert, Informationen über die sozialen Aspekte des Konsums zu erhalten. Auch deshalb, weil die Frage, welchen Platz Drogen in der Gesellschaft einnehmen sollen, letztlich eine Frage der Ethik und nicht der Wissenschaft ist.»
Schweizer Städte an vorderster Front
Innerhalb weniger Monate wurden in mehreren Schweizer Städten ähnliche Projekte lanciert. In Basel begann der Vertrieb im Januar 2023 und wird bis Mitte 2025 dauern. In Zürich startet im August das Projekt «Züri Can – Cannabis mit Verantwortung»Externer Link, ein Pilotprojekt, das drei verschiedene Abgabestellen vergleicht: Apotheken, Social Clubs und Drogenberatungsstellen.
In Genf wird im Rahmen des Pilotprojekts des Vereins ChanGEExterner Link das Modell der «Cannabinoteca» getestet, ein Ort mit Eingangskontrolle, an dem die Mitglieder Cannabis für den Eigengebrauch erwerben können.
Auch die Westschweizer Stadt Lausanne befindet sich mit dem Projekt Cann-LExterner Link auf der Zielgeraden: Es handelt sich um eine Studie zur Bewertung der «Durchführbarkeit und der Auswirkungen des nicht gewinnorientierten Cannabisverkaufs».
Die Schweizerische Stiftung Sucht Schweiz ist Partner des Projekts. Die Herangehensweise an das Cannabisproblem könnte heute nur pragmatisch sein, betont Vizedirektor und Suchtexperte Frank Zobel: «Die Regulierung der Cannabisabgabe nimmt zu, es handelt sich um eine regelrechte Welle in vielen Ländern der Welt. «
Einige Staaten beziehungsweise Regionen, wie Kalifornien und Colorado, haben sich laut Zobel für ein kommerzielles Modell entschieden. Er hält dieses Modell, das auch für Tabak und Alkohol gewählt wurde, für gefährlich.
«Wir erachten Modelle, bei denen niemand Gewinn macht, bei denen man selbst entscheiden kann, welche Produkte man anbietet und das Verkaufspersonal entsprechend schult, für geeigneter. Wir setzen auf Ideen, die den Schutz der öffentlichen Gesundheit in den Mittelpunkt stellen», so Zobel.
Eine weltweite Bewegung
Die Liste der Länder, die beschlossen haben, den Cannabiskonsum zu regulieren, wird immer länger. Uruguay war Vorreiter, gefolgt von Kanada und mittlerweile 23 amerikanischen Staaten. Thailand, dessen Drogengesetzgebung schon immer zu den strengsten der Welt gehörte, strich Cannabis 2022 von der Liste der Betäubungsmittel.
Portugal war das erste europäische Land, das den Konsum von Cannabis entkriminalisiert hat. Das war im Jahr 2001. Inzwischen hat sich Malta hervorgetan, das als erstes EU-Land den Konsum und Anbau von Cannabis mit dem Modell der «Cannabis Social ClubsExterner Link» legalisiert hat.
Zu den von der maltesischen Regierung festgelegten Anforderungen gehört, dass jeder Club sein eigenes Marihuana anbauen muss. In vielen anderen europäischen Ländern gibt es Pilotprojekte, beispielsweise in LuxemburgExterner Link und der Tschechischen Republik. DeutschlandExterner Link plant, den Besitz von bis zu 25 Gramm pro Person zu legalisieren.
Der Fall Schweiz
In der Schweiz ist es derzeit nicht erlaubt, Cannabis zu verkaufen oder zu kaufen, das einen THC-Gehalt, den psychotropen Wirkstoff, von mehr als einem Prozent aufweist. Allerdings sieht das Gesetz nur eine Geldstrafe von 100 Franken für Personen vor, die im Besitz von maximal 10 Gramm Haschisch oder Gras erwischt werden.
Wegen einer Gesetzeslücke breitete sich Anfang der 2000er Jahre der Hanfanbau in mehreren Kantonen explosionsartig aus, und in einigen Schweizer Städten wurden sogar eigene Geschäfte eröffnet, die Hanfsamen und -pflanzen verkauften.
In der Zwischenzeit hat sich jedoch viel verändert. Das gilt auch für den rechtlichen Umgang mit Cannabis. So gab es 2019 ein Grundsatzurteil des BundesgerichtsExterner Link, wonach eine Person, die von psychotropen Substanzen abhängig ist, als krank gelten kann und deshalb das Recht hat, eine Invalidenversicherung (IV) zu beantragen.
Das letzte Mal hat sich das Schweizer Volk 2008 an der Urne zu Cannabis geäussert: Eine Initiative zur Entkriminalisierung des Konsums wurde mit 63 Prozent der Stimmen abgelehnt.
Doch auch bei den Bürger:innen scheint der Wind gedreht zu haben. Im Jahr 2021 sprachen sich bei einer Umfrage des Bundesamtes für Gesundheit zwei Drittel der Befragten für eine Legalisierung aus. Dieser Schritt müsse allerdings mit Präventionsmassnahmen einhergehen.
Der Ball liegt bei der Politik
Im Laufe der Jahre sind Dutzende von parlamentarischen Vorstössen zu diesem Thema eingereicht worden. Zurzeit geht das Thema zur Regulierung von Hanf/Cannabis in einer parlamentarischen SubkommissionExterner Link in eine entscheidende Phase.
Diese Kommission aus Nationalrät:innen muss die Initiative zur «Regulierung des Cannabismarktes für einen besseren Jugend- und Konsumentenschutz»Externer Link in ein Gesetz umwandeln. Die Initiative war von Nationalrat Heinz Siegenthaler (Zentrum) eingereicht und von beiden Kammern des Parlaments angenommen worden.
Im Jahr 2021 kam sogar die Schweizer Regierung in ihren «Perspektiven der Drogenpolitik bis 2030Externer Link» zum Schluss, «dass im Falle einer strikten Prohibition höhere soziale und gesundheitliche Kosten im Zusammenhang mit dem Drogenkonsum entstehen».
Die Exekutive denkt also auch über die Notwendigkeit nach, einen Weg zur Regulierung des Cannabis-Konsums zu finden. Mit dieser Haltung schliessen sich Bundesrat und Parlament einmal mehr einem weltweiten Trend an: dem Ende der Prohibition.
Kontrollierte Abgabe auch von Kokain?
Anfang Juni 2023 ging das Berner Stadtparlament weit über Cannabis hinaus und nahm mit grosser Mehrheit ein Postulat der Linksalternativen Liste (AL) an, das die Stadt aufforderte, in einem wissenschaftlichen Projekt die kontrollierte Abgabe von KokainExterner Link zu erproben.
Nach Ansicht der AL führt die derzeitige Politik zur Unterdrückung der «kleinen Fische», das heisst. der Personen, die Kokain konsumieren, und derjenigen, die es an sie verkaufen. Die grossen Player im Hintergrund, die den Handel organisierten, blieben hingegen unbehelligt.
Die Stadtregierung muss nun anderen Gemeinden und dem Bund ihr Vorhaben zur Durchführung eines Pilotprojekts signalisieren.
Drogenexperte Zobel von Sucht Schweiz teilt die Sorge um die Bewirtschaftung des Kokainmarktes, zumal die Schweizer Städte zu den konsumstärksten auf dem KontinentExterner Link gehören. «In ganz Europa zirkuliert viel Stoff. Die Kosten liegen tief, der Reinheitsgrad ist hoch: Es ist ein florierender Markt. Und es gibt Leute, die sehr viel von diesem Stoff konsumieren.»
Doch was hält Sucht Schweiz von einer möglichen Regulierung und Strafbefreiung von Kokain, wie sie das Berner Stadtparlament vorschlägt? «Wir sind der Meinung, dass es sich um eine sehr wichtige Fragestellung handelt, auf die wir aber noch keine Antwort haben. Sicherlich gibt es ein Problem, und es muss etwas unternommen werden. Wir müssen darüber nachdenken, genauso wie wir es seinerzeit bei der Heroinfrage getan haben.»
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